Kapitel 37
Die Antworten werden kommen
„Was meinst du?“
Die Frage hing in der Luft, und Marco Villavicencio wartete gespannt auf die Antwort seiner Frau Claudia. Sein Arbeitgeber, ein Telekommunikationsunternehmen in Machala in Ecuador, hatte ihm gerade eine Beförderung angeboten. Er könnte in Puerto Francisco de Orellana, einer Kleinstadt direkt im Amazonas-Regenwald im Osten Ecuadors, der Leiter eines neuen Büros werden.
Marco hatte durchaus Interesse an der Stelle, wollte aber nichts ohne Claudia entscheiden, denn die Villavicencios müssten dann mit ihrem vierjährigen Sohn Sair über sechshundert Kilometer weit wegziehen.
Claudia war wie ihr Mann Marco in einer Großstadt aufgewachsen – der Umzug in den Regenwald würde daher eine große Umstellung bedeuten. Doch selbstverständlich unterstützte sie Marcos beruflichen Aufstieg. Zudem gefiel ihr der Gedanke, aufs Land zu ziehen, und sie dachte, das werde sie als Familie einander bestimmt näherbringen.
Allerdings hatten Marco und sie in Bezug auf den neuen Wohnort dieselbe Frage im Kopf: „Gibt es denn dort überhaupt eine Gemeinde?“ Beide waren zurückgekehrte Missionare. Die Kirche war ihnen wichtig. Sie wollten ihren Sohn an einem Ort aufwachsen lassen, wo er die Primarvereinigung besuchen, das Evangelium lernen und geistige Erfahrungen machen könnte. In Ecuador gab es insgesamt fast zweihunderttausend Heilige der Letzten Tage. Die meisten lebten allerdings in den Ballungsräumen von Großstädten wie etwa der Hauptstadt Quito oder im Großraum Guayaquil, wo 1999 ein Haus des Herrn geweiht worden war.
Puerto Francisco de Orellana, von den Einheimischen El Coca genannt, war im Vergleich dazu klein, obwohl der Ort rasch gewachsen war, nachdem man einige Jahre zuvor dort auf Öl gestoßen war. Über die Gemeindehaussuche auf der Website der Kirche suchte Claudia dort nach einer Gemeinde oder einem Zweig. Die Suche verlief zwar ergebnislos, doch bald darauf erzählten ihnen Freunde, dass einige andere Mitglieder ebenfalls aus beruflichen Gründen dorthin gezogen waren.
Das war für Marco und Claudia denn doch ein gewisser Trost. Nachdem sie gebetet hatten, beschlossen sie, dass Marco die Stelle annehmen werde.
Im Februar 2009 kamen die Villavicencios in El Coca an. Die Stadt lag mitten im dichten Regenwald, doch zu ihrer Überraschung fühlte man sich dort nicht vom Rest der Welt abgeschnitten. Wohin man auch blickte – überall herrschte geschäftiges Treiben, und viele zogen in die Gegend.
Als der Vermieter der Villavicencios erfuhr, dass sie der Kirche angehörten, teilte er ihnen mit, wo sich eine Gruppe von Heiligen traf, die gemeinsam in den heiligen Schriften las. „Ich habe ihnen dazu ein Haus zur Verfügung gestellt“, erklärte er.
Die Gruppe kam jeden Sonntagmorgen um neun Uhr zusammen, sang zusammen Kirchenlieder, las im Liahona und befasste sich mit den heiligen Schriften. Die Mitglieder hatten auch Timothy Sloan kontaktiert, den Präsidenten der Ecuador-Mission Quito, der zwei Missionare sandte. Allerdings wohnten die Missionare vier Stunden weit weg und konnten daher nicht allzu oft nach El Coca kommen.
Marco, Claudia und Sair nahmen nun jede Woche an diesen Sonntagstreffen teil. Zuerst vermisste Sair die Primarvereinigung und fragte sich, wo denn die übrigen Kinder seien. Auch Marco und Claudia fehlte ihr vorheriger Lebensrhythmus, doch weil sie sich im Dienst des Herrn engagierten, machte ihnen das Heimweh weniger zu schaffen.
Wann immer die Missionare in die Stadt kamen, nahm Marco ihre Hilfe in Anspruch, um eventuell weitere Mitglieder zu finden. „Elders“, bat er, „spazieren Sie doch einfach jedes Mal durch die Stadt.“ Er ging nämlich davon aus, dass ein Mitglied die Missionare bestimmt erkennen und dann fragen würde, wo sich die Heiligen denn versammelten.
Nach und nach erfuhren also die in der Stadt lebenden Mitglieder von den Treffen und schlossen sich der Gruppe an. Die Gruppe wuchs, und Marco wurde ihr Leiter. Die Missionare kamen nun jede Woche, um Menschen im Evangelium zu unterweisen und weitere Mitglieder zu finden. Bald erhielten die Heiligen in El Coca von der Kirche die Genehmigung, nach dem Programm für kleinere Einheiten vorzugehen.
Damit wurden sie auch bevollmächtigt, das Abendmahl zu spenden.
Als Angela Peterson Fallentine erfuhr, dass es für sie und ihren Mann kaum möglich sein werde, eigene Kinder zu bekommen, rief sie ihre Mutter an. „Keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll“, klagte sie. „Und ich kenne auch niemanden sonst mit diesen Schwierigkeiten.“ Angesichts dieses Schocks war sie wie gelähmt.
Ihre Mutter hörte ihr ruhig zu und fragte sie dann, ob sie sich noch an Ardeth Kapp, die ehemalige Präsidentin der Jungen Damen, erinnern könne. „Sie und ihr Mann konnten auch keine Kinder bekommen“, meinte sie, „doch sie hat beispielhaft vorgelebt, wie man mit Kinderlosigkeit umgeht, ohne sein Selbstwertgefühl davon abhängig zu machen.
Mach das also nicht zu deinem Stolperstein“, riet ihr ihre Mutter. „Ich glaube, du musst dir über die Lehre von der Mutterschaft und Kindern jetzt erst einmal für dich Klarheit verschaffen, sonst stolperst du dein Leben lang darüber.“
Abschließend meinte sie noch: „Ich weiß nicht, wieso John und du das alles durchmachen müsst oder wie lange es noch dauert, aber wenn ihr durchhaltet und versucht zu verstehen, was der Herr euch dadurch sagen möchte, werden die Antworten schon kommen.“
Angela konnte aus den Worten ihrer Mutter deren Liebe und Unterstützung heraushören und hielt sich an dem Gesagten fest, während John und sie sich nun weiteren Bedrängnissen stellten und sonstige Wege der Elternschaft in Erwägung zogen, etwa Adoption oder künstliche Befruchtung. Beim Familiendienst der Kirche und bei der neuseeländischen Adoptionsinitiative erkundigten sie sich wegen einer Adoption, doch man teilte ihnen mit, ihre Chancen dafür seien verschwindend gering.
Angela erlebte folglich eine Enttäuschung nach der anderen, doch sie stützte sich auf Gebet, Fasten und den Gottesdienst im Tempel. Sie dachte oft an den Erretter. Der Gedanke, dass er ihr ja zur Seite stand, stimmte sie zuversichtlich, sodass sie ihre Prüfungen zu ertragen vermochte. Und dennoch wünschte sie sich bisweilen, er möge ihr das Problem doch einfach abnehmen. In solchen Augenblicken tröstete John sie. Er glaubte daran, dass sich alles zum Guten entwickeln werde.
Angelas Blick fiel immer wieder auf die Proklamation zur Familie, die bei ihnen an der Wand hing. Diese Lehren bedeuteten ihr nach wie vor viel. Doch seit sie von ihrer Unfruchtbarkeit wusste, verspürte sie mitunter einen Stich im Herzen bei den Worten, dass Gottes Gebot für seine Kinder, sich zu vermehren und die Erde zu bevölkern, noch immer in Kraft sei. Ihr war bewusst, dass John und sie kein Gebot brachen, weil sie auf natürlichem Wege keine Kinder bekommen konnten. Doch selbst als sie sich wegen ihres Kinderwunsches behandeln ließen, fragte sich Angela bisweilen, ob sie denn in dieser Hinsicht genug unternahmen.
Etwa zu dieser Zeit zogen sie nach Tauranga um, einer großen neuseeländischen Stadt in der Bucht „Bay of Plenty“, und Angela wurde als Pfahl-JD-Präsidentin berufen. Die neue Berufung machte ihr Angst. Sie war Anfang dreißig und fühlte sich einerseits zu jung, als dass sie den übrigen Führerinnen etwa hätte Anweisungen geben können. Und andererseits fragte sie sich, ob sie denn nicht zu alt sei, um sich in die Mädchen hineinversetzen zu können. Sie betete und wollte herausfinden, wie sie ihnen am besten ein Beispiel sein könnte.
Schon bald stellte sie fest, dass sie sich mit den Mädchen in ganz unerwarteter Hinsicht identifizieren konnte. Sie war jünger als deren Eltern, und viele Junge Damen schauten zu ihr auf und nahmen sich ihren Rat zu Herzen. Und sie wiederum konnte ihnen Mut machen und sich mit ihnen anfreunden, wie es ihren eigenen Müttern eher nicht möglich war. Sie stellte fest, dass sie ohne eigene Kinder den Mädchen mehr Zeit schenken und ihnen Rat geben konnte, wenn sie das gerade von einem vertrauenswürdigen Erwachsenen brauchten.
Den Fallentines bereitete es Freude, in ihrer Gemeinde und in ihrem Pfahl auch andere Familien zu unterstützen. Oft veranstalteten sie Grillfeste, Filmabende im Freien oder Familienabende. Vor der Generalkonferenz luden sie die Jungen Damen zu sich nach Hause ein, aßen zusammen Crêpes und gingen anschließend zur Übertragung der Allgemeinen JD-Versammlung ins Pfahlhaus. Da es für sie traurig war, zur Weihnachtszeit so weit weg von all ihren Lieben zu sein, veranstalteten sie an Heiligabend eine Feier für einige Einwanderer, die sie aus Südafrika und vom Inselstaat Niue her kannten. Solche Aktivitäten brachten es stets mit sich, dass ihr Zuhause voller Kinder war, und Angela und John genossen die Zeit mit ihnen und den Eltern.
Eines Tages, als Angela daheim wieder an der eingerahmten Proklamation zur Familie vorbeiging, fiel ihr Blick auf die einleitenden Worte: „Wir, die Erste Präsidentschaft und der Rat der Zwölf Apostel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, verkünden feierlich …“
„Glaube ich das denn wirklich?“, fragte sie sich. „Glaube ich wirklich, dass diese Worte von Propheten und Aposteln kommen?“ Was sie durchgemacht hatte, hatte dazu geführt, dass sie die Proklamation zur Familie nun anders las und verstand. Sie wusste jedenfalls, dass Propheten und Apostel ein besonderes Zeugnis für Jesus Christus ablegten, und sie glaubte ihren Worten.
Sie begann zu erkennen, dass es viele Möglichkeiten gab, Mutter zu sein, und sie glaubte daran, dass John und sie in der Ewigkeit die Möglichkeit haben würden, Eltern zu sein. Dieses Wissen half ihr, den Stellenwert von Ehe und Familie im Erlösungsplan einzuordnen.
Sie dachte daran zurück, wie sehr die Proklamation zur Familie den Mechaniker und den Regierungsvertreter aus dem Nahen Osten, die sie in Washington kennengelernt hatte, inspiriert und beeindruckt hatte. Die Wahrheiten darin waren machtvoll und auch für sie von Belang, und sie schenkte ihnen ihr Vertrauen.
In El Coca in Ecuador hatte Marco Villavicencio schon bald ein Büro seines Telekommunikationsunternehmens eröffnet, doch das Tagesgeschäft stellte ihn immer wieder aufs Neue vor Herausforderungen. Seine Mitarbeiter waren noch unerfahren in der Branche und mussten erst geschult werden, ehe sie Kundenwünsche und -anforderungen zufriedenstellen konnten. Und dann war da noch die Frage der Kundenakquise. Da das Büro ganz neu war, verbrachten Marco und sein Team viel Zeit mit Geschäftstreffen und Werbemaßnahmen, die das Unternehmen bekanntmachen sollten. Sie waren fleißig bei der Sache, und ihre Zweigstelle wuchs allmählich.
So beschäftigt Marco auch war – immer nahm er sich Zeit für Familie und Kirche. Mit jedem Monat kamen sonntagvormittags mehr Menschen zur Abendmahlsversammlung. Der Geist des Herrn hatte viele auf das wiederhergestellte Evangelium Christi vorbereitet und in ihnen die Sehnsucht geweckt, mehr über Gott und seine Liebe zu erfahren.
Die Missionare kamen nun mehrmals pro Woche in die Stadt, um Menschen zu unterweisen und zur Kirche einzuladen. Marco und Claudia fragten sich, wie lange es wohl noch dauern werde, bis aus ihrer Gruppe ein Zweig werden sollte.
Sieben Monate nach der Ankunft der Villavicencios in El Coca kam eines Tages Missionspräsident Timothy Sloan in die Stadt. Da Marco ja die örtliche Gruppe leitete, bat ihn Präsident Sloan, mit ihm gemeinsam einige Mitglieder in El Coca aufzusuchen.
Am Vormittag und bis weit in den Nachmittag hinein führte Marco den Missionspräsidenten also durch die Stadt. Besonders viel lag Präsident Sloan daran, Träger des Melchisedekischen Priestertums kennenzulernen, und mit einigen von ihnen führte er auch eine Unterredung. Während sie eine Familie nach der anderen aufsuchten, erkundigte er sich aber auch bei Marco nach dessen Familie, Beruf und kirchlichem Werdegang.
Am Ende des Tages wollte Präsident Sloan dann noch mit Marco reden. Sie gingen in das Haus, in dem die Heiligen ihre Versammlungen abhielten, und zogen sich in einen leeren Raum zurück. Präsident Sloan ließ Marco wissen, dass er darum gebetet habe, in der Stadt einen Zweigpräsidenten zu finden. „Ich habe das Gefühl, dass Sie derjenige sind“, stellte er fest. „Nehmen Sie diese Berufung vom Herrn an?“
„Selbstverständlich“, antwortete Marco.
Am nächsten Tag, dem 6. September 2009, gründete Präsident Sloan den Zweig Orellana und setzte Marco als Präsidenten ein. Eine Woche später schickte das Gebietsbüro in Quito Stühle, Tafeln, Tische und mehr für den Versammlungsort der Heiligen.
Im Zweig gab es jetzt viele, die neu in Führungsämtern dienten. Claudia etwa war Präsidentin der Jungen Damen. Die meisten dieser Verantwortlichen hatten jedoch kaum Erfahrung in der Kirche. Marco setzte daher viel auf Schulung. Ihm war es wichtig, dass die Führerinnen und Führer des Zweiges ein Vorbild an christlicher Liebe und christlichem Dienst am Nächsten waren. Er nutzte alle ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen – jeden Leitfaden und jedes Video der Kirche –, um den neuen Führungsverantwortlichen ihre Aufgaben begreiflich zu machen. Da Handys in der Stadt immer gebräuchlicher wurden, rief er unter der Woche die Mitglieder an oder schickte eine SMS, um Angelegenheiten des Zweiges zu regeln, Aktivitäten zu planen und den Bedürfnissen der Heiligen gerecht zu werden.
Der Zweig hatte von der Kirche auch einen Desktop-Computer mit Internetzugang erhalten. Die Kirche hatte ein Computerprogramm mit der Bezeichnung „Member and Leader Services“ entwickelt, das die örtlichen Amtsträger und Sekretäre in die Lage versetzte, Zehntengelder, Anwesenheit und weitere Daten genau und sicher zu erfassen und zu Berichtszwecken weiterzugeben. Marco kannte sich durch seine beruflichen Erfahrungen in der Technikbranche mit Computern aus und erlernte den Umgang mit der Software rasch. Computer gab es in El Coca allerdings nur wenige, sodass er auch einigen neuen Führungsverantwortlichen erst zeigen musste, wie man sie bedient. Glücklicherweise wurden sie vom Heiligen Geist geführt, waren wissbegierig und gewöhnten sich bald an die technische Neuerung.
In den Ratssitzungen des Zweiges äußerten Marco und die übrigen Teilnehmer frei ihre Gedanken dazu, wie man die Menschen in ihrer Obhut unterstützen könne. Dem Rat war bewusst, dass jeder Einzelne im Zweig ein Zeugnis von Jesus Christus entwickeln musste. Bei den Versammlungen und Aktivitäten des Zweiges sprachen Marco und weitere Führungsverantwortliche häufig über Christus und schufen ein Umfeld, in dem Besucher und neue Mitglieder die Liebe des Erretters spüren und zu ihm kommen konnten.
Einen Monat nach der Gründung des Zweiges übertrug die Kirche über Funk, Fernsehen, Satellit und Internet die Herbst-Generalkonferenz. Obgleich diese Kanäle schon fast alle Gebiete der Welt abdeckten, hatte der Zweig in El Coca weder Zugang zu Satellitenfernsehen noch eine Internetverbindung, die stabil genug war, um die Konferenz übertragen zu können. Nicht lange darauf schickte das Büro der Kirche in Quito dem Zweig jedoch eine DVD mit der spanischen Übersetzung der Konferenz.
Marco und die übrigen Führer des Zweiges wollten gern, so gut es ging, die gleiche Atmosphäre schaffen wie beim direkten Besuch der Generalkonferenz und beschlossen daher, die Aufzeichnungen – nach Versammlungen aufgeteilt – im Verlauf eines einzigen Wochenendes zu zeigen. Sie stellten im Gemeindehaus Stühle, einen Fernseher und Lautsprecher auf und schickten an jedes einzelne Mitglied eine entsprechende Einladung. Claudia war dafür zuständig, alle bei ihrer Ankunft willkommen zu heißen.
Am Tag der ersten Versammlung kamen die Heiligen in Sonntagskleidung. Einige wussten, was die Generalkonferenz ist, andere hatten keine Ahnung, was sie erwartete. Der Geist war zu spüren, und alle lauschten aufmerksam den Rednern und genossen die Musik des Tabernakelchors.
Viele neue Mitglieder waren davon ausgegangen, die Kirche sei klein und nur vor Ort vertreten. Als sie nun die Konferenz verfolgten, wurde ihnen bewusst, dass sie Teil einer weltweiten Organisation waren. Genau wie sie auch wirkten Millionen von Heiligen zusammen, um das Werk des Herrn voranzubringen.
Anfang 2010 zählte die Kirche in der Karibik über hundertsiebzigtausend Mitglieder. In der Dominikanischen Republik etwa, wo zwei Drittel der Heiligen lebten, gab es achtzehn Pfähle und drei Missionen. 1998 errichtete die Kirche in der Hauptstadt Santo Domingo eine Missionarsschule, wo die Missionare aus der Karibik auf ihren Dienst vorbereitet wurden. Zwei Jahre später kam Präsident Hinckley im September 2000 in die Stadt und weihte den Santo-Domingo-Tempel, das erste Haus des Herrn dort.
Als 1978 Missionare der Kirche Jesu Christi in der Dominikanischen Republik eintrafen, wurden sie am Flughafen von etwa einem Dutzend Mitgliedern – damals den einzigen im Land – abgeholt. Unter ihnen waren Rodolfo und Noemí Bodden. Die Boddens und einige ihrer Kinder hatten sich drei Monate zuvor durch ihre Freunde John und Nancy Rappleye sowie Eddie und Mercedes Amparo der Kirche angeschlossen. In den darauffolgenden Jahren dienten Rodolfo und Noemí treu in der Kirche.
In ähnlicher Weise verbreitete sich das wiederhergestellte Evangelium auch in den anderen Ländern der Karibik. Auf der Insel Jamaika westlich der Dominikanischen Republik hatten Missionare bereits um das Jahr 1850 das Evangelium verkündet. Die Kirche etablierte sich dort jedoch erst, als sich die in Jamaika geborenen Bekehrten Victor und Verna Nugent in den 1970er Jahren dafür interessierten. Eines Tages erhielten Victor und Verna nämlich von einem amerikanischen Kollegen namens Paul Schmeil ein Buch Mormon. Er zeigte den beiden auch den Film Des Menschen Suche nach Glück, und dessen Botschaft sowie das christliche Beispiel Pauls sprachen Victor an.
Am 20. Januar 1974 ließ sich Familie Nugent daher taufen. Vier Jahre später, nachdem die Offenbarung an Präsident Spencer W. Kimball Familie Nugent und weiteren Menschen schwarzafrikanischer Abstammung die Tür geöffnet hatte, um alle Segnungen des Priestertums zu empfangen, wurde die Familie im Salt-Lake-Tempel gesiegelt.
Ebenfalls im Jahr 1978 taufte Greg Young, ein weiteres amerikanisches Mitglied der Kirche, auf Barbados seine Freunde John und June Naime. Gut ein Jahr später wurde in Barbados der erste Zweig gegründet. John wurde Zweigpräsident und June Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung. Später wurde Barbados zum Sitz der Westindischen Mission. Von dort aus verbreitete sich das Evangelium nach Grenada, Guadeloupe, St. Lucia, Martinique, St. Vincent, Französisch-Guayana, Sint Maarten und weitere angrenzende Länder.
In Haiti hörte der in Chile geborene Haitianer Alexandre Mourra durch einen Verwandten von der Kirche. Dieser hatte von Missionaren in Florida nämlich ein Buch Mormon und weitere Literatur der Kirche erhalten. Alexandre las das Zeugnis des Propheten Joseph Smith, ließ sich ebenfalls ein Buch Mormon schicken und empfing das Zeugnis, dass es wahr ist. Da die Kirche in Haiti noch nicht vertreten war, flog er nach Florida, traf sich dort mit dem Missionspräsidenten und ließ sich im Juli 1977 taufen. Danach kehrte er wieder nach Port-au-Prince zurück und verkündete dort das Evangelium. Ein Jahr später kam der Missionspräsident nach Haiti und taufte dort zweiundzwanzig Bekannte Alexandres.
In den folgenden Jahren wuchs die Kirche in Haiti ungeachtet der ständigen sozialen und politischen Unruhen. Ende 2009 gab es sechzehntausend Heilige in zwei Pfählen und zwei Distrikten. Ihre Belastbarkeit wurde allerdings am 12. Januar 2010 auf eine harte Probe gestellt, denn Haiti wurde von einem verheerenden Erdbeben erschüttert, das Häuser dem Erdboden gleichmachte und mehr als zweihunderttausend Menschenleben forderte, darunter zweiundvierzig Heilige der Letzten Tage.
Zum Zeitpunkt des Erdbebens hatte Soline Saintelus im Gemeindehaus in Port-au-Prince gerade ein Gespräch mit ihrem Bischof. Ihr Mann Olghen war Angestellter in einem Hotel der Stadt. Sie hetzten sogleich nach Hause zu ihrem Wohnblock, wo eine Babysitterin eigentlich auf die drei kleinen Kinder aufpasste. Das Gebäude war ein einziger Trümmerhaufen.
„Vater im Himmel, wenn es dein Wille ist, dann lass doch wenigstens eines meiner Kinder am Leben“, betete Olghen. „Bitte, bitte, hilf uns!“
Zehn Stunden lang wühlten sich Rettungskräfte durch die Trümmer. Plötzlich hörten sie das älteste Kind, den fünfjährigen Gancci, sein Lieblingslied „Ich bin ein Kind von Gott“ singen. Seine Stimme führte den Suchtrupp an die Stelle, wo er, seine Geschwister und die Babysitterin schließlich gerettet wurden.
In den Wochen danach unterstützte die Kirche örtliche Führer und humanitäre Organisationen mit der Entsendung von Ärzten und der Bereitstellung von Zelten, Lebensmitteln, Rollstühlen, medizinischem Bedarf und anderem. Gemeindehäuser wurden der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt und boten vielen, die durch die Katastrophe ihr Zuhause verloren hatten, Zuflucht und Obdach. Später trug die Kirche das Ihre dazu bei, dass Menschen wieder Arbeit fanden oder sich erneut selbstständig machen konnten.
Nach seiner Rettung wurde Gancci Saintelus zur Behandlung seiner schweren Verletzungen nach Florida gebracht. Die dortigen Mitglieder unterstützen Familie Saintelus und schenkten Spielzeug, Lebensmittel, Windeln und sonstige Bedarfsgüter. Ihre Hilfsbereitschaft trieb Olghen die Tränen in die Augen.
„Ich bin meiner Kirche so dankbar“, meinte er.
Im September 2010 waren die Einwohner von Luputa in der Demokratischen Republik Kongo mit der Verlegung der Trinkwasserleitung, die von der Kirche finanziert wurde, fast fertig. Im Gespräch mit einem Journalisten wies Distriktspräsident Willy Binene auf die Bedeutung der Wasserleitung hin.
„Ohne elektrischen Strom kann der Mensch leben“, stellte er fest. „Aber der Mangel an sauberem Wasser ist eine Last, die fast zu schwer zu ertragen ist.“
Ob es dem Reporter bewusst war oder nicht – Willy sprach jedenfalls aus lebenslanger Erfahrung. Als Student der Elektrotechnik hatte er ja niemals vorgehabt, in der Ortschaft Luputa zu leben, wo es gar keine Elektrizität gab. Seine Pläne hatten sich geändert – doch er war gut ohne Strom ausgekommen und sogar aufgeblüht. Allerdings litten seine Familie und er sowie jede andere Familie in der Gegend unter den schmerzhaften Auswirkungen von Krankheiten, die auf verunreinigtes Wasser zurückzuführen waren. Um sich in der Kirche zu schützen, hatten sie sogar Geld ausgegeben und sauberes Trinkwasser in Flaschen für das Abendmahl gekauft.
Noch ein paar abschließende Arbeiten – dann würde sich das Leben in Luputa ändern. Zu Projektbeginn waren jedem Stadtteil und auch den benachbarten Dörfern Tage zugewiesen worden, an denen die Bevölkerung an der Wasserleitung arbeiten musste. Am betreffenden Tag kamen Lastwagen der Trägerorganisation ADIR in aller Frühe im jeweiligen Stadtteil an, holten die freiwilligen Helfer ab und brachten sie zu ihrem Einsatzort.
Als Distriktspräsident wollte Willy mit gutem Beispiel vorangehen. An den Tagen, an denen sein Stadtteil zum Arbeiten eingeteilt war, tauschte er also seine Aufgaben als Krankenpfleger gegen die eines Bauarbeiters. Zwischen Luputa und der Trinkwasserquelle lagen kilometerweit Hügel und Täler. Da die Wasserleitung allein durch Schwerkraft funktionieren sollte, mussten die Freiwilligen den Graben so ausheben und das Rohr genau so legen, dass das Wasser auch fließen konnte.
Willy und die übrigen Freiwilligen mussten die Erde von Hand wegschaufeln. Die Rinne musste fast einen halben Meter breit und einen Meter tief sein. Mancherorts war der Boden sandig, und die Arbeit ging daher zügig voran. An anderen Stellen gab es ineinander verflochtene Baumwurzeln und Fels, was das Graben äußerst beschwerlich machte. Die Arbeitstrupps konnten bloß beten, dass sie nicht noch durch ein Buschfeuer oder Nester stechender Insekten von der Arbeit abgehalten wurden. An einem guten Tag schafften sie vielleicht einhundertfünfzig Meter.
Die Heiligen aus dem Distrikt Luputa arbeiteten zusätzlich zur gewöhnlichen Schicht ihres Stadtteils auch noch in Sonderschichten. An solchen Tagen hoben die Brüder gemeinsam mit den regulären Helfern weiter den Graben aus, und die Schwestern von der Frauenhilfsvereinigung kochten für die Arbeitenden.
Das Engagement der Heiligen für das Projekt trug dazu bei, dass ihr Glaube allgemein bekannter wurde. Die Menschen in der Gegend sahen in der Kirche nunmehr eine Institution, die nicht nur auf die eigenen Mitglieder schaute, sondern auf das Wohl der Allgemeinheit bedacht war.
Der Bau der Wasserleitung wurde im November 2010 fertiggestellt. Viele Schaulustige kamen nach Luputa und wollten miterleben, wie erstmals Wasser aus den Rohren floss. In der Stadt hatte man auf hohen Stelzen große Zisternen zur Wasserspeicherung errichtet. Dennoch fragten sich einige, ob die Durchflussmenge denn wirklich genügen werde, um die Speicher zu füllen. Auch Willy selbst hegte da seine Zweifel.
Doch als die Schleusen geöffnet wurden, rauschte das Wasser für alle vernehmlich und füllte die Zisternen. Die Menge jubelte vor Freude. Dutzende kleiner Wasserentnahmestellen aus Beton, die jeweils mit mehreren Wasserhähnen ausgestattet waren, versorgten nun ganz Luputa mit Trinkwasser.
Die Stadt feierte den Anlass gebührend. Fünfzehntausend Menschen aus Luputa und den umliegenden Dörfern ließen es sich nicht nehmen, der Feier beizuwohnen. Unter den Ehrengästen befanden sich Würdenträger der Regierung und von Stammesverbänden, Vertreter von ADIR sowie ein Mitglied der Präsidentschaft des Gebiets Afrika Südost. An einem Wasserspeicher hing ein großes Banner mit leuchtend blauen Buchstaben:
DANKE AN DIE KIRCHE
DANKE AN ADIR
FÜR UNSER TRINKWASSER
Bei der Ankunft der Ehrengäste und während diese unter dem eigens dafür errichteten Sonnenschutz Platz nahmen, sang ein Chor junger Heiliger der Letzten Tage Kirchenlieder.
Nachdem jeder seinen Platz gefunden hatte und sich der Trubel gelegt hatte, griff Willy zum Mikrofon. In seiner Eigenschaft als örtlicher Vertreter der Kirche verkündete er den Anwesenden: „So wie Jesus viele Wunder vollbracht hat, ist auch heute ein Wunder geschehen – Wasser ist nach Luputa gekommen.“ Er gab bekannt, dass die Kirche diese Wasserleitung für die gesamte Bevölkerung finanziert habe, und forderte alle auf, sie pfleglich zu behandeln.
Und jedem, der wissen wollte, wieso sich die Kirche denn so sehr für einen Ort wie Luputa interessiere, gab er die einfache Antwort:
„Wir alle sind Kinder des Vaters im Himmel.“ Weiter bekräftigte er: „Wir müssen jedermann Gutes tun.“