Über das Ziel hinausschauen
Über das Ziel hinaus schaut, wer das Hauptaugenmerk auf die Philosophien von Menschen richtet, wer sich mit Übereifer seinen „Evangeliumssteckenpferden“ widmet und wer Regeln über die Lehre stellt.
Wir leben in einer Welt, wo Neuigkeiten, alles, was es noch nie gab, und alles Moderne sehr gefragt sind und in aller Welt verbreitet werden. Im Fernsehen, in Filmen und in den übrigen Medien werden große Gesten, das, was außerhalb der Norm liegt, Konflikte und Sexualität zelebriert und nicht die stille, alltägliche Opferbereitschaft, das Dienen und die Liebe, die einen ganz wesentlichen Teil der Botschaft Jesu Christi ausmachen und die er uns vorgelebt hat. Bei der zügellosen Suche nach ständig Neuem gerät das, was wahr ist, oft unter die Räder.
Im 17. Kapitel der Apostelgeschichte lesen wir vom Besuch des Apostels Paulus in Athen. Athen befand sich damals bereits in einer langen Phase des Niedergangs, aber die Athener waren stolz auf ihre philosophischen Traditionen. Hier werden die Stoiker und die Epikureer erwähnt, die beiden damals vorherrschenden Richtungen. Die Stoiker hielten die Tugend für das höchste Gut, die Epikureer hingegen den Genuss. Viele Stoiker waren stolz geworden und begingen unter dem Deckmantel ihrer Weltanschauung „Unrecht und frönten ihrem Ehrgeiz“. Viele Epikureer waren Hedonisten und lebten nach dem Motto: „Iss und trink, denn morgen sterben wir.“1
Paulus wurde nun gebeten, auf dem Areopag zu diesen doch recht schwierigen Zuhörern zu sprechen. In Apostelgeschichte 17:21 steht: „Alle Athener und die Fremden dort taten nichts lieber, als die letzten Neuigkeiten zu erzählen oder zu hören.“ (Hervorhebung hinzugefügt.)
Paulus erwähnte, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken, einen ihrer Altäre – den mit der Aufschrift „Einem unbekannten Gott“. Aber in Wirklichkeit wollte er über die Auferstehung Jesu Christi sprechen. Als die Menschen merkten, dass seine Botschaft etwas mit Religion zu tun hatte, verspotteten ihn einige, während andere, die vielleicht ebenfalls uninteressiert, aber wenigstens höflich waren, sagten: „Darüber wollen wir dich ein andermal hören.“ (Apostelgeschichte 17:32.)
Die Athener reagierten auf Paulus im Wesentlichen so wie jene Menschen, die der Prophet Jakob in noch früherer Zeit beschreibt: „Aber siehe, die Juden sind ein halsstarriges Volk gewesen; und sie haben die Worte der Klarheit verachtet und die Propheten umgebracht und nach dem getrachtet, was sie nicht haben verstehen können. Darum müssen sie wegen ihrer Blindheit – und zu dieser Blindheit ist es gekommen, weil sie über das Ziel hinausgeschaut haben – notwendigerweise fallen; denn Gott hat seine Klarheit von ihnen weggenommen und ihnen, weil sie es gewünscht haben, vieles gegeben, was sie nicht verstehen können. Und weil sie es gewünscht haben, hat Gott es getan, damit sie stolpern.“ (Jakob 4:14; Hervorhebung hinzugefügt.)
Auch heute neigen einige von uns dazu, über das Ziel hinauszuschauen, statt sich ihr Zeugnis von den grundlegenden Wahrheiten des Evangeliums zu bewahren. Das geschieht, wenn wir die Philosophien von Menschen an die Stelle der Wahrheiten des Evangeliums setzen, wenn wir in Evangeliumsextreme verfallen, wenn wir anstelle täglicher Weihung nur große Gesten vollbringen wollen oder wenn wir Regeln über die Lehre stellen. Dieser theologischen Blindheit, diesem Stolpern, wovon Jakob schreibt, kann man entgehen, indem man derartiges Verhalten meidet.
Philosophien von Menschen an die Stelle der Wahrheiten des Evangeliums setzen
Manch einer schämt sich offenbar der einfachen Botschaft des Erretters. Er möchte der Wahrheit Kompliziertes und Geheimnisvolles hinzufügen, damit sie schwer verständlich wird oder sich besser in die wissenschaftlichen Trends unserer Zeit einfügt. Das war einer der Gründe für den Abfall vom Glauben in der Urkirche. Die Urchristen übernahmen die griechische Philosophie und wollten ihren Glauben mit dem der sie umgebenden Kultur in Einklang bringen. Der Historiker Will Durant schreibt: „Das Christentum hat den heidnischen Glauben nicht abgeschafft – es hat ihn übernommen. Das schon absterbende griechische Gedankengut erwachte in verwandelter Form zu neuem Leben.“2
Wer geistig unreif ist, versucht manchmal, sich einen intellektuellen Anstrich zu geben. So jemand will Offenbarung nicht akzeptieren, sondern will sie auseinandernehmen und abändern und ihr Bedeutungsinhalte hinzufügen, wodurch die wundervollen Wahrheiten verkehrt werden. Elder Neal A. Maxwell vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Die Juden haben … das Evangelium zum Teil deswegen verworfen, weil es ihm an ausreichender intellektueller Ausschmückung fehlte.“3Wer einfache Evangeliumswahrheiten nicht als das nehmen will, was sie sind, schaut über das Ziel hinaus.
Evangeliumsextreme
Geistige Unreife zeigt sich auch darin (und führt mitunter sogar zum Abfall vom Glauben), dass man sich nur auf bestimmte Evangeliumsgrundsätze konzentriert oder sich mit aller Vehemenz seinem „Evangeliumssteckenpferd“ widmet. Im Grunde genommen wird fast aus jeder Tugend ein Laster, wenn sie bis ins Extrem gesteigert wird.
Manchmal wollten Mitglieder einer bestimmten Lehre noch beträchtlich mehr hinzufügen. So etwa, wenn jemand weitere Anweisungen, die nicht von den führenden Brüdern autorisiert sind, dem Wort der Weisheit als bindend hinzufügt und andere dazu bringen will, seine Auslegung anzunehmen. Wer aus einem Gesundheitsgesetz oder irgend einem anderen Grundsatz eine Form des religiösen Fanatismus macht, schaut über das Ziel hinaus.
Manch einer hat keine Vollmacht, im Namen der führenden Brüder zu sprechen, gibt aber vor, in seiner Botschaft „die feste Speise“ zu verkünden, die die führenden Brüder lehren würden, wenn sie nicht gezwungen wären, nur „Milch“ zu lehren. Wieder andere wollen den führenden Brüdern Rat erteilen und stehen allen Lehren kritisch gegenüber, die nicht mit dem übereinstimmen, was ihrer Meinung nach gelehrt werden müsse.
Der Herr sagte im Zusammenhang mit einer wichtigen Lehre: „Wer auch immer mehr oder weniger als das verkündet, der ist nicht von mir.“ (LuB 10:68.) Und: „Was mehr ist als das – oder weniger –, das ist vom Übel.“ (LuB 124:120.) Man schaut also über das Ziel hinaus, wenn man einen Grundsatz – ganz gleich, wie wertvoll er auch sein mag –, als so wichtig erachtet, dass man dadurch das Engagement für weitere, ebenso wichtige Grundsätze verringert. Das Gleiche ist der Fall, wenn man einen Standpunkt vertritt, der dem widerspricht, was die führenden Brüder lehren.
Große Gesten anstelle täglicher Weihung
James S. Jardine, ehemals Vorsitzender des Treuhänderausschusses der University of Utah, hat in einer Vorlesung an der Brigham Young University gesagt, er sei als Student von dem Gedanken angetan gewesen, sein „Leben in einer großen, heldenhaften Tat zu weihen“. Mit der Zeit sei ihm allerdings bewusst geworden, dass „Weihung nicht in einer einmaligen Geste besteht, sondern in täglicher Hingabe“.4
Als ich jung war, wollte auch ich mich durch eine herausragende Tat beweisen. Mein Urgroßvater David Patten Kimball war einer der jungen Männer, die die Mitglieder der Handkarrengruppe Martin über den Sweetwater River tragen halfen. Solche Weihung schwebte auch mir vor. In einem Gespräch mit meinem Großvater Crozier Kimball erfuhr ich dann, dass Präsident Brigham Young die Hilfsmannschaft ganz konkret angewiesen hatte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Handkarrenabteilung zu retten. Ihre Hingabe bestand ebenso konkret darin, „dem Propheten zu folgen“. Mein Großvater machte mir klar, wie bewundernswert treue, unwandelbare Hingabe an eine Pflicht oder einen Grundsatz ist. So Großes, wie David Patten Kimball damals für die Rettung der Pioniere getan hatte, mag heutzutage darin bestehen, dass man dem Propheten folgt und sich keine unsittlichen Filme ansieht oder sich einer reinen Sprache bedient.
Mein Missionspräsident hat mir letztlich einen anderen Blickwinkel vermittelt. Von ihm habe ich gelernt, dass der Wunsch nach heldenhaften Taten auch bedeuten kann, dass man über das Ziel hinausschaut. Er hat einmal ein Gedicht vorgelesen, von dem ich hier einen Ausschnitt zitiere:
Mit einer einzigen mächtigen
Tat erweiset sich der Mann als Held.
Was Großes er geleistet hat,
zeigt er im Rampenlicht der Welt.
Doch schwierig wird’s im Alltag dann.
Fangen erst Probleme an,
ob man dann noch lächeln kann?
Wahre Größe zeigt allein,
wie man lebt tagaus, tagein. 5
Es gibt Mitglieder, die behaupten, sie würden sich eifrig einer wirklich großen Berufung widmen, doch das Heimlehren oder Besuchslehren ist ihnen für nachhaltige Bemühungen nicht bedeutend genug.
Gott setzt uns nicht „aufgrund unserer Werke“ ein, sondern „aus eigenem Entschluss“ (siehe 2 Timotheus 1:9). Wer für sein Engagement Bedingungen stellt oder sich nicht täglich weiht, schaut über das Ziel hinaus.
Regeln über die Lehre stellen
Der Erretter war betrübt, wenn jemand Regeln über die Lehre stellte. In Matthäus 23:23 lesen wir: „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gebt den Zehnten von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz außer Acht: Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue. Man muss das eine tun, ohne das andere zu lassen.“
Elder Bruce R. McConkie (1915–1985) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat darauf hingewiesen, dass das, was Jakob zum Thema „über das Ziel hinausschauen“ sagte, auch für die Juden zur Zeit Jesu galt:
„Sie fügten der schlichten, reinen Religion eine Unzahl eigener Auslegungen hinzu; sie schmückten sie mit zusätzlichen Riten und Verrichtungen aus und machten aus der begeisterten, freudigen Gottesverehrung ein einengendes, deprimierendes System von Ritualen und Verrichtungen. Der lebendige Geist des Gesetzes des Herrn wurde in ihren Händen zum toten Buchstaben jüdischer Riten.“6
Die Lehre gibt üblicherweise Antwort auf die Frage Warum . Grundsätze geben für gewöhnlich Antwort auf das Was . Wenn wir das Wie besonders hervorheben, ohne uns mit dem Warum oder dem Was zu befassen, laufen wir Gefahr, über das Ziel hinauszuschauen. Zumindest geraten wir dann in die Falle, die Paulus in seinem Brief an die Korinther so beschrieben hat: „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ (2 Korinther 3:6.)
So hat etwa Elder Dallin H. Oaks vom Kollegium der Zwölf Apostel die Diakone des Aaronischen Priestertums in den Lehren und Grundsätzen unterwiesen, die für die Abendmahlsversammlung gelten; sie sollten wissen, dass die Regeln, die sich daraus ableiten lassen (zum Beispiel dass man möglichst ein weißes Hemd und eine Krawatte trägt und dass man das Abendmahl ohne viel Aufhebens austeilt), das bewirken können, was der Herr in der Abendmahlsversammlung von uns erwartet (dass wir nämlich unsere Bündnisse erneuern und voll Ehrfurcht an das Sühnopfer denken).7Auf vielen Gebieten lassen wir uns nur durch Lehren und Grundsätze leiten und nicht durch Regeln. Der Prophet Joseph Smith hat gesagt: „Ich lehre sie die richtigen Grundsätze, und sie regieren sich selbst.“8In einer solchen Situation sind wir dem Herrn gegenüber dafür verantwortlich, wie wir uns verhalten.
Wer sich nur den Regeln verpflichtet und sich nicht um die dahinterstehenden Lehren und Grundsätze kümmert, kann besonders leicht über das Ziel hinausschauen. Ebenso gefährlich sind Menschen, die sich in Regeln verstricken und dann weniger gewillt sind, Änderungen anzunehmen, wie sie durch fortdauernde Offenbarung zustande kommen.
Christus ist das „Ziel“
Über das Ziel hinausschauen bedeutet, über Christus hinausschauen – über den einzigen Namen unter dem Himmel, wodurch der Mensch errettet werden kann. Elder Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt: „Jakob hatte gesehen, wie die Juden auf der Suche nach dem Heiligen Israels, dem buchstäblichen Sohn Gottes, der als Jesus Christus bekannt sein würde, über das Ziel hinausschauen und stolpern würden. Und weil sie stolperten, lehnten sie den Fels ab, auf dem sie bauen und eine sichere Grundlage hätten haben können.“9
Es ist sehr traurig, dass sich heutzutage viele sogenannte christliche Theologen weigern, Jesus Christus als Sohn Gottes anzuerkennen. Einige halten ihn einfach für einen großen Lehrer. Das ist das Paradebeispiel dafür, wie jemand über das Ziel hinausschaut. So geschah es zu Lebzeiten Jakobs, so geschah es in der Mitte der Zeit, als der Erretter auf der Erde lebte, und so geschieht es auch heute, da das Evangelium auf der Erde wiederhergestellt ist.
Eine der großen Herausforderungen des Lebens besteht darin, dass wir Christus als den annehmen, der er ist – der auferstandene Erretter der Welt, unser Erlöser, unser Herr und Meister, unser Fürsprecher beim Vater. Wenn er die Grundlage all dessen bildet, was wir tun, dann entgehen wir der religiösen Blindheit, die daher rührt, dass man über das Ziel hinausschaut. Wir empfangen dann die herrlichen Segnungen, die er verheißen hat: „Komm zu mir, du Gesegneter“, spricht er zu dem, der ihm nachfolgt, „denn für dich ist ein Platz bereitet in den Wohnungen meines Vaters.“ (Enos 1:27.)