2003
Ich möchte den Propheten sehen
Oktober 2003


Ich möchte den Propheten sehen

Nach einer wahren Begebenheit

„Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet.“ (Matthäus 7:7.)

Als Sally etwa acht Jahre alt war, lebte sie in Salt Lake City. Präsident David O. McKay (1873–1970) war der Prophet. Sally hatte viele Geschichten von Menschen gehört, die ihm begegnet waren. Nach der Generalkonferenz kam er immer zu einer Hintertür des Tabernakels heraus und stieg in ein großes Auto. Eine große Menschenmenge wartete außerhalb des Tabernakels, um ihn zu sehen. Sie hofften, ihm vielleicht die Hand geben zu können, ihn zu begrüßen – ihn einfach selbst zu sehen anstatt nur im Fernsehen. Sally dachte, es müsse etwas Wundervolles sein, dem Propheten zu begegnen.

Sie wollte ihre Eltern bitten, sie während der Generalkonferenz zum Tempelplatz zu bringen. Sie sagte ihnen aber nicht, dass sie mit den anderen Leuten warten wollte, um vielleicht mit Präsident McKay sprechen zu können. Das war ihr Geheimnis.

Es war ein wunderschöner Tag, nicht zu heiß und nicht zu kalt, als Sallys Familie am Nachmittag auf den Tempelplatz ging und sich dort auf dem Gelände die Generalkonferenz anhörte. Große Lautsprecher übertrugen die Versammlung nach draußen, denn das Tabernakel war zum Bersten gefüllt.

Als Sally an den geöffneten Türen vorbeilief, erhaschte sie einen Blick auf den Tabernakelchor und die Generalautoritäten. Ihr Herz hüpfte vor Freude, als sie dachte: „Heute ist der Tag! Heute ist es so weit! Ich werde Präsident McKay begegnen.“

Sie sah, dass die Menschen anfingen, sich hinter dem Tabernakel zu versammeln. Nachdem sie ihre Eltern um Erlaubnis gefragt hatte, schloss sie sich der Gruppe an und kämpfte sich nach vorn durch. Sie war nicht sehr groß, wenn sie also nicht ganz vorn stand, konnte sie den Propheten unmöglich sehen.

Endlich hatte sie sich mühsam durchgeschlängelt und stand ganz vorn an den Seilen, die einen Weg zwischen dem Tabernakel und der Straße absperrten. Dort wartete, wie es ihr erzählt worden war, das große glänzende Auto.

„Nun dauert es nicht mehr lange“, dachte sie. Sie hörte, dass das Schlusslied gesungen wurde. „Singt schneller! Singt schneller!“, flehte sie leise. Nach dem Schlussgebet begann der Organist noch einmal auf der mächtigen Orgel des Tabernakels zu spielen. Jetzt war es so weit!

Die Menge drückte nach vorn, gegen die Seile. Noch mehr Menschen strömten aus dem Gebäude und viele von ihnen schlossen sich der Menge an, in der Hoffnung, einen Blick auf den Propheten zu erhaschen.

Das große Auto wurde angelassen und fuhr ein Stück vor. Eine große Tür hinten am Gebäude ging auf.

Sehr zu ihrer Enttäuschung konnte Sally aber nun, da das Auto weitergefahren war, nur noch das Auto sehen und sonst nichts! Sie sah ein paar Köpfe. Aber Präsident McKay ging es nicht so gut. Er war zwar ein großer Mann, aber nun saß er im Rollstuhl. Sally konnte ihn überhaupt nicht sehen, nicht einmal einen Blick auf die Räder des Rollstuhls erhaschen. Wie sollte sie den Propheten sehen, geschweige denn ihm begegnen , wenn sie überhaupt nichts sehen konnte?

Sie wollte unter dem Seil durchlaufen und zum Auto rennen. Sie wollte ins Auto klettern und ihm die Hand geben und Hallo sagen – irgendetwas tun.

Doch viel zu schnell knallten die Türen zu und das große Auto fuhr langsam auf die Straße zu. Es war vorbei. Er war fort.

Sally stand regungslos da. Ihre Träume! Ihre Pläne!

Die Menge zerstreute sich und sie stand allein da und starrte auf die Seile, die auf den Boden geworfen worden waren, nachdem Präsident McKay gegangen war.

Da kam ihr ein leise flüsternder Gedanke in den Sinn: „Warum möchtest du ihm überhaupt begegnen?“

„Um ihn zu sehen und selbst zu wissen, dass er ein Prophet ist“, sagte sie fast laut vor sich hin und spürte die Tränen kommen.

Plötzlich durchströmte Wärme ihr Herz. Sie spürte große Liebe und einen leichten Tadel. Ihr kam der Gedanke: „Du musst ihn nicht sehen, um es zu wissen. Du musst nur fragen.“

Fragen?

Es war so einfach! Ehe sie überhaupt beginnen konnte, im Herzen ein kurzes Gebet zu sprechen, wurde sie von Kopf bis Fuß von einer unbeschreiblichen Wärme erfüllt. Sie wusste es. Der Mann in dem Auto, der die ganze Konferenz über so still dagesessen hatte, der so zerbrechlich zu sein schien, der – in ihren Augen – schon eine Ewigkeit gelebt haben musste, war ohne jeden Zweifel der Prophet des Herrn. Sie brauchte ihm nicht zu begegnen. Und sie brauchte ihm nicht die Hand zu geben. Er musste ihr nicht den Kopf tätscheln oder mit ihr sprechen. Sie wusste es einfach.

Und nun verstand sie auch, dass sie immer herausfinden konnte, dass der Mann, der der Prophet und Präsident der Kirche wurde, von Gott berufen war. Sie musste einfach nur fragen.

„Gott [unterweist] seine Söhne und Töchter durch die Macht seines Geistes, der ihnen den Verstand erleuchtet und ihnen Frieden zuspricht, was die Fragen angeht, die sie ihm gestellt haben.“

Elder Dallin H. Oaks vom Kollegium der Zwölf Apostel, „Durch den Geist lehren und lernen“, Der Stern, Mai 1999, Seite 22.