2004
Der einzige Überlebende
Oktober 2004


Der einzige Überlebende

Ich war zwar vor dem Ertrinken gerettet worden, aber trotzdem musste ich noch errettet werden.

Es war ein bewölkter Morgen im Dezember 1973, aber das Wetter spiegelte nicht meine Stimmung wider. Ich stand mit meinen Eltern und meinen beiden jüngeren Geschwistern an Deck eines Frachtschiffs und war guter Dinge, als wir uns von unserer kleinen Insel im Süd-Pazifik entfernten. Das Schiff hieß Uluilakeba und wir fuhren nach Suva, der Hauptstadt der Fidschi-Inseln.

Für einen zwölfjährigen Jungen von der abgelegenen Insel Ono-i-Lau war eine Fahrt zu der großen Stadt schon ein besonderes Erlebnis. Wie meine Eltern und Geschwister hatte ich diesem Tag entgegengefiebert. Wir fünf fuhren nach Suva, um uns taufen zu lassen und der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage beizutreten.

Die Suche nach der Wahrheit

Das Licht des wiederhergestellten Evangeliums war zunächst auf bemerkenswerte Weise bei uns zu Hause erstrahlt. Mein Vater, Mosese, war im methodistischen Glauben aufgewachsen. Doch nach jahrelangem Studium der Bibel war er zu dem Schluss gekommen, dass es die wahre Kirche Jesu Christi, wie sie in der Heiligen Schrift beschrieben war, auf unserer kleinen Heimatinsel nicht gab. Er gestattete uns nie, irgendwelche Gottesdienste zu besuchen; stattdessen scharten wir uns jeden Tag um ihn und er belehrte uns aus der Bibel. Die Jahre vergingen, und mein Vater forschte weiter in der Heiligen Schrift und war immer mehr davon überzeugt, dass es die wahre Kirche Jesu Christi nicht gab.

Und so tappten wir im Dunkeln, bis schließlich 1971 unser Cousin Siga einmal kurz bei uns vorbeikam. Er war nach Hawaii gezogen, und wir freuten uns über dieses unverhoffte Wiedersehen. Meine Mutter kochte gleich Tee für unseren Gast, aber zu unserem Erstaunen lehnte er ihn ab. Er erklärte, er habe sich auf Hawaii der Mormonenkirche angeschlossen und trinke jetzt keinen Tee mehr. Mein Vater hatte noch nie von dieser Kirche gehört und fragte: „Was ist das für eine Kirche?“ Siga schlug vor, er solle im Lexikon nachschauen. Beim Eintrag „Mormonen“ las mein Vater „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“.

Mein Vater sprang sofort auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. In diesem Augenblick hatte der Heilige Geist ihm bestätigt, dass diese Kirche das war, wonach er sein ganzes Leben lang gesucht hatte. Sein Gesichtsausdruck war völlig verändert, als er Siga bat, ihm etwas über diese Kirche zu erzählen. Es entspann sich ein langes Gespräch. Zuerst lasen sie im vierten Kapitel des Epheserbriefs über „einen Glauben und eine Taufe“ (siehe Vers 5) und sprachen dann darüber, dass es Apostel und Propheten geben muss. Siga schlug meinem Vater vor, er solle sich mit den Missionaren in Verbindung setzen, um mehr zu erfahren.

Und so hörten wir zum ersten Mal von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Mein Vater schrieb an Präsident Ebbie L. Davis von der Fidschi-Mission Suva, der uns ein Buch Mormon schickte. Bald darauf erhielten wir auch Bücher und Broschüren über die Lehre der Kirche. Mein Vater verschlang diese Literatur geradezu und fand Antworten auf seine Fragen. Schon bald wünschte er sich von ganzem Herzen, dass sich unsere Familie taufen lassen könnte. Doch die Kirche war auf unserer Insel nicht vertreten. Uns wurde bald klar, dass wir dorthin reisen mussten, wo es die Kirche gab, um uns taufen lassen zu können. Wir mussten also nach Suva fahren.

Auf stürmischer See

Schließlich war es nach fast zwei Jahren Planung und Vorbereitung so weit, und wir befanden uns an Bord der Uluilakeba. Es lag Spannung in der Luft; dicht drängten wir uns an die anderen Passagiere. Unser Herz war von Hoffnung und Vorfreude erfüllt, als wir auf die Abfahrt warteten.

Das Schiff legte am Montag, dem 10. Dezember 1973, gegen 8.00 Uhr ab. Ganz von meinen Gefühlen eingenommen, bemerkte ich den stürmischen Wind und die bedrohlichen Wolken in der Ferne kaum. Doch als das Schiff die offene See erreichte, verschlechterte sich das Wetter. Bald erreichten uns Meldungen über einen herannahenden tropischen Sturm. Trotz der Warnungen war unser Kapitän sicher, wir könnten die Reise gefahrlos fortsetzen. Wir fuhren weiter und die See um uns wurde immer bewegter und es regnete immer mehr. Es dauerte nicht lange und alle Passagiere wurden aufgefordert, sich in das Schiffsinnere zu begeben, während die Mannschaft das Schiff durch das tosende Meer steuerte.

Der Kapitän war mit meinem Vater verwandt und überließ uns seine Kabine, damit wir uns dort während des Sturms aufhalten konnten. Unsere Familie saß zusammengedrängt in diesem Raum und wartete. Obwohl das Schiff jetzt heftig hin und her schlingerte, waren mein Bruder, meine Schwester und ich ein paar Minuten später eingeschlafen.

Es kam mir so vor, als sei nur ein Augenblick vergangen, als wir von einem Schrei meiner Mutter geweckt wurden. Durch eine kleine Luke drang Wasser ein.

Ich richtete mich auf und sah, dass mein Vater nicht da war. Ich dachte, er werde wohl an Deck gegangen sein, und ließ meine Mutter und meine Geschwister zurück.

Es war ziemlich schwer, an Deck zu gelangen, aber in meiner Panik erkannte ich nicht, woran das lag. Mir war nicht klar, dass zu viel Wasser in das Schiff eingedrungen war und dass es sank. Gerade, als ich das Deck erreichte, begann die Uluilakeba zu kentern, und ich stürzte ins tosende Meer.

Ich dachte nur noch ans Überleben. Verzweifelt schwamm ich mit aller Kraft, um oberhalb der gigantischen Wellen zu bleiben. Nach ein paar Minuten entdeckte ich einen älteren Mann, der sich an zwei schwimmenden Säcken mit Kokosnüssen festhielt. Es gelang mir, zu ihm zu schwimmen. Ich bat ihn um einen der Säcke. Er hatte Mitleid und überließ mir einen davon. Ich griff nach dem Sack und klammerte mich verzweifelt daran fest.

Ein paar Minuten später entdeckte ich meine Mutter. Sie sah mich auch. Sie schwamm zu mir und wir umarmten uns. Mit Worten, die ich nie vergessen werde, sagte sie mir, ich solle mich unter allen Umständen an diesem Sack festhalten, denn mein Leben hinge davon ab. Dann küsste sie mich auf die Wange und machte sich auf die Suche nach meinem Bruder und meiner Schwester. Danach sah ich meine Mutter nie wieder.

Der Sturm tobte weiter und ich dachte nicht darüber nach, was geschehen war. Ich kämpfte nur darum, mich über Wasser zu halten. Ich trieb im Meer auf und ab und sah viele Leute, aber meine Familie war nicht zu entdecken.

Die Stunden zogen sich hin wie ein Alptraum. Bald brach die Nacht herein und wir schwammen in der Dunkelheit weiter. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, ehe die Sonne wieder aufging, und ich hielt einen weiteren Tag und eine weitere Nacht durch. Schließlich entdeckte uns am Mittwoch gegen 17.00 Uhr ein Rettungsboot.

Es waren mehr als zwei Tage vergangen. Von den etwa 120 Passagieren, die an Bord des dem Untergang geweihten Schiffs gewesen waren, wurden 35 lebend aus dem Wasser gezogen. Wir wurden nach Suva ins Krankenhaus gebracht. Dort erfuhr ich genau, was vorgefallen war. Nicht einmal vier Stunden nach dem Ablegen waren wir in den Zyklon Lottie geraten, einen kurzlebigen Pazifiksturm. Die Uluilakeba wurde nie gefunden. Außerdem erfuhr ich, dass von den fünf Mitgliedern meiner Familie, die an Bord gewesen waren, nur ich überlebt hatte. Das Vorhaben meiner Familie, sich taufen zu lassen und der Kirche beizutreten, war in den Tiefen des Meeres untergegangen.

Verloren und wiedergefunden

Die Zeit verging und ich blieb auf der Insel Viti Levu, der Hauptinsel von Fidschi. Ich wohnte bei meiner älteren Schwester, die Jahre zuvor von daheim ausgezogen war. In dem Durcheinander nach dem Unglück verlor Präsident Davis mich aus den Augen und ich die Kirche. Doch er hatte erfahren, dass ich überlebt hatte, und beauftragte die Missionare, nach mir zu suchen. Monatelang suchten sie erfolglos nach mir. Präsident Davis’ Zeit als Missionspräsident ging zu Ende, und er überließ die weitere Suche seinem Nachfolger.

Die Jahre vergingen, aber aufgrund schlechter Kommunikationswege blieb ich unauffindbar. Die Familie, bei der ich lebte, interessierte sich nicht für das Evangelium, also hatte ich als Teenager kaum Aussichten, die Kirche zu finden. Der Verlust meiner Familie machte mir zu schaffen, und ich fragte mich, weshalb ich allein zurückbleiben musste. Doch im Herzen bewahrte ich die Wahrheiten, die meine Eltern mir beigebracht hatten. Auch wenn ich manchmal Schwächen und Versuchungen nachgab, dachte ich doch stets an das Zeugnis meines Vaters von Jesus Christus und seiner wahren Kirche. Schließlich heiratete ich und zog nach Vanua Levu, der nördlichen Fidschi-Insel.

Im März 1985 arbeitete ich gerade an der Hauptstraße und schnitt Kokosmark aus Kokosnüssen, als ein älteres Ehepaar in einem kleinen Auto anhielt und mir etwas zurief. Sie fragten, ob ich einen Mann namens Joeli Kalougata kannte. Doch ehe ich ihnen offenbarte, dass er vor ihnen stehe, fragte ich, was sie denn wollten. Sie stellten sich als Elder und Sister Kimber vor und erklärten, sie seien Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Endlich hatten sie mich gefunden! Es war ein herrlicher Augenblick. Nachdem wir die sechs Lektionen der Missionare an zwei Tagen angehört hatten, ließen sich meine Frau, Elenoa, und ich uns am 18. März 1985 taufen. Seitdem hat sich unser Leben von Grund auf geändert.

Ich blicke zurück und sehe die großen Segnungen, mit denen der Vater im Himmel mich überschüttet hat. Ich werde stets dankbar sein für meine liebevollen Eltern und die Grundsätze und Wahrheiten, die ich von ihnen gelernt habe. Dank des Beispiels meiner Eltern gehören meine Frau, meine Kinder und ich jetzt der Kirche Jesu Christi an.

1998 flogen Elenoa und ich nach Tonga, um dort im Nuku’alofa-Tempel heilige, ewige Bündnisse zu schließen und die heiligen Handlungen des Tempels für meine Eltern und meine Geschwister zu vollziehen. Ein paar Jahre später wurden unsere Kinder im neuen Suva-Tempel in Fidschi an uns gesiegelt. Jetzt blicke ich auf meine Familie – meine ewige Familie – und danke dem Herrn, dass er mich nicht vergessen und mir das Evangelium zurückgebracht hat.

Joeli Kalougata gehört zum Zweig Nabua im Distrikt Labasa in Fidschi.