2007
Der Geist des Tabernakels
Mai 2007


Der Geist des Tabernakels

Das Tabernakel ist ein weithin sichtbares Zeichen für die Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi.

Vor 46 Jahren wurde ich als Assistent des Kollegiums der Zwölf Apostel berufen, und zum ersten Mal trat ich an dieses Pult. Ich war 37 Jahre alt. Auf einmal fand ich mich umgeben von den ehrwürdigen und weisen Propheten und Aposteln, „deren Namen“, wie es in einem Lied heißt, „wir alle ehren“ („Oh, Holy Words of Truth and Love“, Hymns, Nr. 271). Ich spürte, dass ich den Anforderungen bei Weitem nicht gerecht wurde.

Etwa zu dieser Zeit hatte ich hier im Tabernakel ein prägendes Erlebnis. Es gab mir Zuversicht und Mut.

Damals fand hier vor der Frühjahrs-Generalkonferenz noch die PV-Konferenz statt. Ich kam durch einen der Südeingänge herein, als ein großer PV-Kinderchor unter der Leitung von Schwester Lue S. Groesbeck vom Hauptausschuss der PV gerade das Anfangslied sang. Es ging so:

Andachtsvoll, friedlich leis denken wir an dich, o Herr.

Andachtsvoll, friedlich leis singen wir zu deiner Ehr.

Andachtsvoll, friedlich leis soll das Beten sein.

Heute gib den Heilgen Geist uns ins Herz hinein.

(„Andachtsvoll, friedlich leis“, Liederbuch für Kinder, Seite 11.)

Die Kinder sangen leise und der Organist, der genau wusste, dass ein wirklich brillanter Spieler die Aufmerksamkeit nicht auf sich zieht, spielte dazu kein Solo. Geschickt, fast unmerklich ließ er die Kinderstimmen zu einer Melodie voller Inspiration und Offenbarung verschmelzen. Da geschah es! Das, was ich am dringendsten als Stütze für die kommenden Jahre brauchen sollte, hielt tief und unauslöschlich Einzug in meine Seele.

Ich empfand wohl das, was der Prophet Elija verspürt hatte. Er hatte den Himmel vor dem schlechten König Ahab verschlossen und war in eine Höhle geflohen, um den Herrn zu suchen.

„Ein starker, heftiger Sturm … [zerriss] die Berge … und [zerbrach] die Felsen … Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben.

Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln.

Als Elija es hörte“, so der Bericht, „hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle“, um mit dem Herrn zu sprechen (siehe 1 Könige 19:11-13).

Ich empfand gewissermaßen, was die Nephiten gespürt haben müssen, als der Herr sich ihnen zeigte: „[Sie] vernahmen … eine Stimme, als ob sie aus dem Himmel käme; und sie ließen ihre Augen umherschweifen, denn sie verstanden die Stimme, die sie vernahmen, nicht; und es war nicht eine raue Stimme, noch war es eine laute Stimme; doch ungeachtet dessen, dass es eine sanfte Stimme war, drang sie denen, die sie vernahmen, bis ins Innerste, so sehr, dass es an ihrem Leib keinen Teil gab, den sie nicht erbeben ließ; ja, sie drang ihnen bis tief in die Seele und ließ ihnen das Herz brennen.“ (3 Nephi 11:3.)

Es ist diese sanfte, leise Stimme, die Elija und die Nephiten vernahmen und die der Prophet Joseph Smith genau kannte, als er schrieb: „So spricht die leise, sanfte Stimme, die durch alles flüstert und alles durchdringt.“ (LuB 85:6.)

In diesem prägenden Moment begriff ich, dass man die sanfte, leise Stimme eher fühlt als hört. Solange ich ihr Beachtung schenkte, würde mein geistlicher Dienst annehmbar sein.

Von da an hatte ich die Gewissheit, dass der Tröster, der Heilige Geist, für jeden da ist, der der Einladung folgt, zu bitten, zu suchen und anzuklopfen (siehe Matthäus 7:7,8; Lukas 11:9,10; 3 Nephi 14:7,8; LuB 88:63). Ich wusste, dass alles gut gehen würde. Im Laufe der Jahre hat sich das bestätigt.

Ich erkannte außerdem, welch große Wirkung Musik auf uns haben kann. Wenn Musik ehrfürchtig dargeboten wird, kann sie einer Offenbarung gleichkommen. Zeitweise kann man sie wohl nicht von der Stimme des Herrn, der leisen, sanften Stimme des Geistes, trennen.

Gute Musik jeder Art hat ihren Platz. Und es gibt zahllose Orte, wo man sie hören kann. Aber das Tabernakel auf dem Tempelplatz lässt sich mit keinem davon vergleichen.

Seit Generationen beginnt die wöchentliche Sendung des Tabernakelchors mit dem Singen dieser Worte aus der Feder von William W. Phelps:

Seht, der Tag des Herrn bricht an!

Sanft und leise kommt heran;

besinnt euch nun, lasst alles ruhn.

Kommt und danket eurem Gott,

der euch hilft aus eurer Not.

(„Seht, der Tag des Herrn bricht an“, Gesangbuch, Nr. 96.)

Vor über 100 Jahren hielt Präsident Wilford Woodruff, der damals über 91 Jahre alt war, seine vielleicht letzte Ansprache an diesem Pult. Unter den Zuhörern war der 12-jährige LeGrand Richards. Sein Vater, George F. Richards (der später zum Apostel ordiniert wurde), brachte seine Söhne zum Tabernakel, damit sie die führenden Brüder hören konnten. LeGrand hat dieses Erlebnis nie vergessen.

Über 20 Jahre stand ich Elder LeGrand Richards sehr nahe. Als er 96 Jahre alt war, trug er diese Botschaft noch immer im Herzen. Er konnte sich nicht mehr an Präsident Woodruffs Worte erinnern, aber er konnte nie vergessen, was er empfunden hatte, als sie gesprochen wurden.

Manchmal habe ich die Gegenwart derjenigen verspürt, die dieses Tabernakel erbaut und instand gehalten haben. Mit Musik und gesprochenen Worten haben diejenigen, die uns vorangegangen sind, das Einfache am Evangelium und das Zeugnis von Jesus Christus bewahrt. Dieses Zeugnis war das Licht, von dem sie sich leiten ließen.

Großes, was das Schicksal der Kirche bestimmt hat, hat sich hier in diesem Tabernakel auf dem Tempelplatz ereignet.

Abgesehen von Joseph Smith und Brigham Young ist jeder Präsident der Kirche in einer feierlichen Versammlung in diesem Tabernakel bestätigt worden. In ähnlicher Weise wird einmal im Jahr bei der Generalkonferenz die Beamtenbestätigung vorgenommen wie auch noch ein weiteres Mal in jedem Pfahl, jeder Gemeinde und jedem Zweig, wie die Offenbarung es verlangt.

Der Herr hat gesagt: „Keinem soll es gegeben sein, hinzugehen, um mein Evangelium zu predigen oder meine Kirche aufzurichten, außer er sei von jemandem dazu ordiniert worden, der Vollmacht hat, und es ist der Kirche bekannt, dass er Vollmacht hat und von den Häuptern der Kirche ordnungsgemäß ordiniert worden ist.“ (LuB 42:11.)

Deshalb kann kein Fremder unter uns auftreten und Vollmacht beanspruchen und versuchen, die Kirche in die Irre zu führen.

Hier wurde 1880 die Köstliche Perle als offizielle heilige Schrift der Kirche anerkannt.

Hier wurden außerdem den Standardwerken zwei Offenbarungen hinzugefügt, heute bekannt als Abschnitt 137 und 138 in Lehre und Bündnisse. Abschnitt 137 gibt eine Vision wieder, die im Kirtland-Tempel an den Propheten Joseph Smith ergangen ist, und Abschnitt 138 ist eine Vision, in der Präsident Joseph F. Smith gesehen hat, wie der Erretter den Geistern der Toten erschienen ist.

Hier wurde den Mitgliedern 1979 nach jahrelanger Vorbereitung die von der Kirche herausgegebene King-James-Übersetzung der Bibel vorgestellt.

Die neuen Ausgaben des Buches Mormon, des Buches Lehre und Bündnisse und der Köstlichen Perle wurden der Kirche hier angekündigt.

Bei der Generalkonferenz 1908 verlas Präsident Joseph F. Smith Abschnitt 89 des Buches Lehre und Bündnisse – das Wort der Weisheit. Dann sprachen er, seine beiden Ratgeber und der Präsident der Zwölf alle über dasselbe Thema, das Wort der Weisheit. Daraufhin wurde es in einer Abstimmung einstimmig als für die Mitglieder der Kirche bindend angenommen.

Diese Offenbarung beginnt folgendermaßen: „Infolge der Schlechtigkeit und der bösen Absichten, die im Herzen von verschwörerischen Menschen in den Letzten Tagen vorhanden sind und sein werden, habe ich euch gewarnt und warne euch im Voraus, indem ich euch durch Offenbarung dieses Wort der Weisheit gebe.“ (LuB 89:4.)

Es ist ein Schild und Schutz für unsere Mitglieder, besonders für unsere Jugendlichen. Es ist Bestandteil der „ganzen Waffenrüstung“ Gottes, die, so hat Gott es in den Offenbarungen verheißen, sie vor den „feurigen Pfeilen“ des Widersachers schützen wird (siehe LuB 27:15-18).

Die Kirche und einzelne Mitglieder sehen sich seit je den Angriffen des Widersachers ausgesetzt, und das wird immer so sein. Mit lauter, misstönender Musik überdeckt er die sanfte, leise Stimme oder vertreibt sie gar. Diese Musik strotzt nur so vor Texten, die man nicht versteht – wenn man sie versteht, wird es dadurch oft nur noch schlimmer. Er bemüht sich sehr, uns auch mit jeder anderen Versuchung, mit der er aufwarten kann, in die Irre zu führen.

Hier hat der Herr durch Offenbarung die Ordnung des Priestertums erklärt, und dies öffnete die Tür dafür, dass des Heilands Gebot erfüllt wurde, das Evangelium „jeder Nation, jedem Geschlecht, jeder Sprache und jedem Volk“ (siehe LuB 133:37) zu bringen und die Kirche unter ihnen aufzurichten.

Hier erhielt das Buch Mormon den Untertitel „Ein weiterer Zeuge für Jesus Christus“. Seitdem weiß ein jeder, der das Buch aufschlägt, schon anhand des Titels, was darin zu finden ist.

Das, was in diesem heiligen Gebäude gelehrt und gepredigt sowie musikalisch dargeboten wird, das, was man hier spürt, und der Geist, der hier anwesend ist, überträgt sich unvermindert auf das große Konferenzzentrum nebenan. Dort vernehmen Zehntausende die Worte, die in Dutzende Sprachen übersetzt und an Versammlungsorte in aller Welt gesandt werden.

Ja, mehr noch, der Geist gelangt in das Zuhause von Abermillionen Heiliger der Letzten Tage. Dort beten die Eltern für das Wohlergehen ihrer Kinder. Männer und Frauen und, wie im Buch Mormon verheißen, selbst kleine Kinder können das Zeugnis von Jesus Christus (siehe Mosia 24:22; Alma 32:23; 3 Nephi 17:25) und von der Wiederherstellung seines Evangeliums empfangen.

Dieses Tabernakel auf dem Tempelplatz ist „ein Haus des Betens, ein Haus des Fastens, ein Haus des Glaubens, ein Haus der Herrlichkeit und Gottes …, ja, [sein] Haus“ (siehe LuB 109:16). Wer auch immer gebeten wird, hier zu sprechen oder aufzutreten, in mündlicher oder musikalischer Form etwas vorzutragen oder etwas Kulturelles darzubieten, muss darauf achten, dass sein Beitrag angemessen ist.

Wer nach Ansehen bei den Menschen trachtet, so warnen uns die heiligen Schriften, lässt sich sachte von dem einzig sicheren Pfad im Leben wegführen (siehe Johannes 12:43; 1 Nephi 13:9; 2 Nephi 26:29; Helaman 7:21; Mormon 8:38; LuB 58:39). Die heiligen Schriften warnen uns auch unmissverständlich vor dem, was folgt, wenn wir „nach den Ehren der Menschen streben“ (siehe LuB 121:35).

Es kommt nicht so sehr darauf an, was man in einer Predigt hört, sondern vielmehr darauf, was man dabei empfindet. Der Heilige Geist kann allen, die in seinen Einflussbereich gelangen, bestätigen, dass die Botschaften wahr sind, dass dies die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist.

Das Tabernakel steht hier direkt neben dem Tempel als feste Bezugsgröße, und es ist zu einem Symbol der Wiederherstellung geworden. Es wurde von mittellosen und ganz gewöhnlichen Menschen erbaut. Heute kennt man es in aller Welt.

Der Tabernakelchor, der nach diesem Gebäude benannt ist, ist seit vielen Jahren ein Aushängeschild der Kirche. Möge er niemals von dieser, seiner zentralen Aufgabe abkommen, die ihm seit Generationen zukommt, oder sich davon abbringen lassen.

Von Generation zu Generation hat der Chor jede Sendung mit dem Lied „Seht, der Tag des Herrn bricht an“ (Gesangbuch, Nr. 96) begonnen und mit dem Lied „Wie der Tau, vom Himmel träufelnd“ (Gesangbuch, Nr. 97) geschlossen – eine inspirierende Botschaft, die auf die Lehre von der Wiederherstellung aufbaut und zahlreiche Grundsätze vermittelt.

Das Tabernakel gilt in der Welt als eines der großen Zentren erhebender Musik und Kultur. Aber vor allem ist es ein weithin sichtbares Zeichen für die Wiederherstellung des Evangeliums Jesu Christi. Dieses schlichte Zeugnis hat sich mir hier in diesem Gebäude tief und unauslöschlich eingeprägt, als diese PV-Kinder so voller Ehrfurcht sangen, dass es wie eine Offenbarung klang.

Gott segne dieses heilige Gebäude und alles, was innerhalb seiner Mauern geschieht. Wie dankbar sind wir doch, dass es erneuert und renoviert worden ist, ohne seinen heiligen Charakter einzubüßen.

Elder Parley P. Pratt vom Kollegium der Zwölf Apostel las einmal folgende Worte aus Abschnitt 121 im Buch Lehre und Bündnisse: „Lass Tugend immerfort deine Gedanken zieren; dann wird dein Vertrauen in der Gegenwart Gottes stark werden, und die Lehre des Priestertums wird auf deine Seele fallen wie der Tau vom Himmel.

Der Heilige Geist wird dein ständiger Begleiter sein und dein Zepter ein unwandelbares Zepter der Rechtschaffenheit und Wahrheit, und deine Herrschaft wird eine immerwährende Herrschaft sein, und ohne Nötigung wird sie dir zufließen für immer und immer.“(LuB 121:45,46.)

Tief bewegt wandte Parley P. Pratt sich in Gedanken einem Lied zu, das eigentlich ein Gebet ist. Viele Jahre lang hat der Chor damit seine wöchentliche Sendung beendet:

Wie der Tau, vom Himmel träufelnd,

auf dem Gras sucht sanfte Rast,

es belebt und so erfüllet,

was du vorgesehen hast;

so lass, Herr, auch deine Lehre

auf uns Menschen kommen nun,

dass sie uns dazu bewege,

deiner Liebe Werk zu tun.

Herr, sieh an, die hier versammelt,

deren Durst dein Wort nur stillt,

dass für sie von deinem Throne

reiner Tau des Lebens quillt.

Herr, erhöre unser Flehen:

Gieße aus den Heilgen Geist,

dass die Menschen dich verehren

und dich jede Seele preist.

(„Wie der Tau vom Himmel träufelnd“, Gesangbuch, Nr. 97.)

Dem möchte ich an diesem heiligen Tag der Weihung mein Zeugnis hinzufügen, dass Jesus der Messias ist, dass dies sein Haus ist. Im Namen Jesu Christi. Amen.