Hintergrundwissen zum Neuen Testament
Interpretationsansätze zum Buch Offenbarung
Es kann uns weiterbringen, wenn wir die Offenbarung des Johannes auf verschiedene Weise lesen
Das Buch Offenbarung ist im Neuen Testament einzigartig. Es handelt sich dabei nicht – wie etwa bei den vier Evangelien – um eine ins Einzelne gehende Schilderung des irdischen Wirkens Jesu Christi. Es veranschaulicht auch nicht die schwierigen Umstände der frühchristlichen Kirche, wie das etwa bei den Briefen der Fall ist. Vielmehr bietet das Buch Offenbarung etwas, was den Lesern moderner Fantasy-Romane vertraut sein dürfte: Ein Drache quält die Welt. Ein Tier steigt aus dem Meer. Überall herrschen Chaos und Zerstörung. Die Hoffnung verblasst – bis ein Reiter auf einem weißen Pferd erscheint, den Drachen besiegt und dem Land Frieden und Wohlstand verschafft.
Wie soll ein religiös gesinnter Leser des Buches Offenbarung im 21. Jahrhundert ein Buch begreifen und ihm Anwendungsbeispiele entnehmen, wenn es sich doch jeder geradlinigen Deutung widersetzt?
Verschiedene neuzeitliche Herangehensweisen
In erster Linie werden Sie das Buch Offenbarung besser verstehen können, wenn Sie um den Geist der Prophezeiung und Offenbarung beten. Lehre und Bündnisse 77 – eine Offenbarung, in der Joseph Smith vom Herrn Kenntnis über den Hintergrund und viele Symbole im Buch Offenbarung erhält – sollte ebenfalls Teil Ihres Studiums sein.
Außerdem kann es hilfreich sein, wenn man die gängigen Deutungsansätze kennt – wie also das Buch Offenbarung heutzutage von Lesern und Gelehrten ausgelegt wird. Im Allgemeinen lässt sich die Herangehensweise an Kontext und Bedeutung des Buches Offenbarung grob in vier Kategorien einteilen. Jede davon hat ihre Stärken und Schwächen:
1. Das Buch Offenbarung als Geschichtsbericht, der mit Symbolen gespickt ist. Bei dieser Herangehensweise deuten die Bilder und Symbole im Buch Offenbarung auf Schlüsselfiguren und wichtige Ereignisse vom Anfang der christlichen Kirche bis zum Zweiten Kommen hin. Das Problem bei diesem Ansatz besteht darin, dass er oftmals auf Mutmaßungen beruht und weitestgehend davon abhängt, auf welche geschichtlichen Persönlichkeiten oder Ereignisse sich der Interpretierende konzentriert. Zudem muss der Leser seine Auslegung im Laufe der Zeit oftmals ändern und an die Zeitgeschichte anpassen, solange Jesus Christus noch nicht zurückgekehrt ist. Diese Herangehensweise war in den Jahrhunderten vor dem 20. Jahrhundert zwar weit verbreitet, wird aber inzwischen nicht mehr gern verwendet.
2. Der Umfang des Buches Offenbarung ist auf das erste Jahrhundert nach der Geburt Christi beschränkt. Bei diesem Ansatz werden die Ereignisse und Symbole im Buch Offenbarung ausschließlich auf die Urkirche im ersten Jahrhundert ihres Bestehens bezogen. Der Vorteil dieses Leseverständnisses besteht darin, dass der Schwerpunkt auf den Christen aus dem ersten Jahrhundert und auf der Tatsache liegt, dass die Botschaft des Buches für sie bestimmt ist. Der große Nachteil dieser Herangehensweise besteht jedoch darin, dass man meinen könnte, das Buch Offenbarung sei nur ein Überbleibsel aus der Vergangenheit und nicht das, was es ist: lebendige heilige Schrift, aus der sich wichtige geistige Lektionen für die heutige Zeit ziehen lassen.
3. Die meisten Ereignisse aus dem Buch Offenbarung sind noch nicht in Erfüllung gegangen. Diese Sichtweise legt nahe, dass sich die meisten Ereignisse aus dem Buch Offenbarung erst in Zukunft erfüllen werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Buch eine Chronologie von Ereignissen bietet, jedoch für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit. Der Leser bekommt einen klaren chronologischen Überblick über künftige Ereignisse, indem er die im Buch verstreuten Hinweise zusammenfügt. Den Blick in die Zukunft gerichtet, ist der Leser jedoch geneigt, Geschehnisse und Personen aus dem Buch Offenbarung eher wörtlich zu nehmen. Eine Stärke dieser Herangehensweise besteht darin, dass der Leser sich ständig mit Ereignissen aus der Offenbarung beschäftigt, als könnten sie morgen schon eintreffen. In Nephis Vision in 1 Nephi 11 bis 14 wird ihm von einem Engel gesagt, Johannes werde „über das Ende der Welt schreiben“ (1 Nephi 14:22), also muss sich ein Teil des Buches Offenbarung mit künftigen Ereignissen befassen. Ein Nachteil dieser Herangehensweise ist jedoch, dass das Buch Offenbarung fast vollständig aus dem Kontext des ersten Jahrhunderts herausgerissen wird und der Leser Gefahr läuft, etwas von der Bedeutung zu verpassen, die Johannes seiner direkten Zuhörerschaft vermitteln wollte.
4. Das Buch Offenbarung ist ein Gleichnis für den Kampf zwischen Gut und Böse. Bei dieser Sichtweise bezieht sich das Buch Offenbarung nicht auf konkrete vergangene oder künftige Ereignisse, sondern dient als Gleichnis für die Auseinandersetzung zwischen Jesus Christus und dem Satan, zwischen den Rechtschaffenen und den Schlechten, zwischen der Kirche des Lammes und der Kirche des Teufels. So gesehen soll das Buch Offenbarung bestimmte Ideale untermauern: dass Jesus Christus triumphiert, dass die Rechtschaffenen Hilfe bekommen, dass die Schlechten bestraft werden. Die im Buch Offenbarung beschriebenen Ereignisse dienen sinnbildlich als Träger dieser übergeordneten Grundsätze. Eine Stärke dieser Herangehensweise besteht darin, dass die Entscheidung zwischen Gut und Böse ja alle Menschen zu allen Zeiten betrifft. Eine Schwäche besteht darin, dass der Leser Zeichen oder Symbole übersehen könnte, die sich auf bestimmte Ereignisse oder Zeiträume beziehen sollen.
Drei Punkte, die Sie beim Lesen des Buches Offenbarung im Hinterkopf behalten sollten
Viele Leser (auch ich) übernehmen diese Herangehensweisen teilweise und passen sie an. Ich denke, dass dieser Ansatz am besten mit dem übereinstimmt, was neuzeitliche heilige Schriften und Offenbarungen darüber kundtun, wie man das Buch Offenbarung versteht (siehe beispielsweise Lehre und Bündnisse 77). Das Buch lässt sich nicht problemlos kategorisieren, sondern spricht Leser an, die offen dafür sind, unterschiedliche Auslegungsansätze miteinzubeziehen. Eine Herangehensweise, die für Offenbarung 5 nützlich ist, ist für Offenbarung 11 vielleicht nicht sonderlich geeignet.
Während der Leser verschiedene Möglichkeiten für das Lesen des Buches Offenbarung auslotet, empfehle ich, dabei dreierlei im Hinterkopf zu behalten.
1. Denken Sie immer an die ersten Worte des Buches: „Die Offenbarung des Johannes, eines Dieners Gottes, die ihm von Jesus Christus gegeben wurde.“1
In diesem Buch geht es um den Erretter. Jedes Symbol, jede Geschichte offenbart uns etwas über Jesus Christus. Er ist das Lamm, das seinem Volk Frieden bringt, und er ist die Gestalt, die, in Rot gekleidet, dem Feind Vernichtung bringt. Er ist der Bräutigam, der seiner Braut und Gott auf dem Thron immer treu bleibt.
Das griechische Wort, das im Titel des Buches mit „Offenbarung“ übersetzt wird, lautet apocalypsis, was „enthüllen“ oder „offenbaren“ bedeutet. Genau das macht Johannes für seine Leser: Er zieht den Schleier zurück und offenbart uns, wer Jesus Christus wirklich ist. Der Name Jesus wird im Buch Offenbarung eher selten verwendet (etwa ein Dutzend Mal), aber sein Einfluss und seine Bedeutung sind in jedem Vers zu finden.
2. Denken Sie an die Aussage von Joseph Smith, das Buch Offenbarung sei „eines der klarsten Bücher, die Gott jemals hat schreiben lassen“2.
Eine der Stolperfallen, die den Leser des Buches Offenbarung manchmal ereilt, ist der Frust darüber, dass man den Geschehnissen nicht folgen kann, weil ein Sinnbild nach dem anderen die Sicht auf eine klare Bedeutung und Umsetzung immer weiter trübt. Aber Joseph Smith hält uns vor Augen, dass das Buch Offenbarung ein klares Buch ist – geschrieben, um verständlich zu sein.
Ich sage meinen Studenten oft, dass man das Buch Offenbarung kurz und knapp so zusammenfassen kann: „Der Erretter Jesus Christus gewinnt!“ Lesen Sie es zunächst mit diesem Gedanken im Hinterkopf. Wenn Sie auf ein Symbol oder eine Geschichte stoßen, die Ihnen verwirrend vorkommt, fragen Sie sich, was sie über den Sieg Jesu Christi vermittelt. Das beantwortet vielleicht nicht alle Ihre Fragen, aber es schafft einen wesentlichen Rahmen.
Elder Bruce R. McConkie (1915–1985) vom Kollegium der Zwölf Apostel hat gesagt, dass die verbreitete Vorstellung, das Buch Offenbarung befasse sich mit Tieren, Plagen und geheimnisvollen Symbolen, die einfach unergründlich seien, einfach nicht wahr ist, und fügte hinzu, dass der größte Teil des Buches klar und deutlich sei und vom Volk des Herrn verstanden werden solle. Ja, bestimmte Bilder und Symbole sind schwerer zu entziffern als andere, aber das bedeutet nicht, dass wir sie nicht verstehen können, wenn wir im Glauben wachsen, wie wir das ja tun sollen.3 Mit anderen Worten: Lassen Sie sich vom Buch Offenbarung nicht einschüchtern – es mag schwierig sein, aber es ist die Mühe wert!
3. Bemühen Sie sich immer, das Buch Offenbarung mit dem Heiligen Geist und einem offenen Sinn zu lesen.
So wie viele es machen, ist es sicherlich verlockend: Alle Schilderungen von Tieren, Zahlen oder Ereignissen aufgreifen und versuchen, all diese Symbole etwas Konkretem überzustülpen, so als würde etwa die versteckte Bedeutung hinter der Zahl „dreieinhalb“ dem Leser geheime Informationen enthüllen, die dem Rest der Menschheit verborgen sind.
Das Schöne an einem Buch wie dem Buch Offenbarung ist jedoch, dass all die Symbole, Zahlen und Ereignisse zu einer Vielzahl an gültigen und nützlichen Auslegungen führen können, vor allem dann, wenn wir um den Geist beten und wichtige Hilfsmittel wie 1 Nephi 11 bis 14, Lehre und Bündnisse 77 und die Joseph-Smith-Übersetzung miteinbeziehen. Vielleicht liest einer die Schilderung des Johannes von dem Lamm und dem Drachen und stellt sich dabei die historische Schlacht zwischen Zion und Babylon vor, die ab den ersten Seiten der Bibel ausgetragen wird. Ein anderer entnimmt diesen Worten des Johannes eine Vorhersage über das Zweite Kommen und den sicheren Triumph Jesu Christi und entdeckt darin Hoffnung in einer immer finsterer werdenden Welt. Und ein Dritter wiederum findet darin vielleicht Handlungsansätze, wie man im täglichen Ringen mit seinen Entscheidungen den Widersacher besiegen kann. Das Bemerkenswerte am Buch Offenbarung ist, dass alle drei Lesarten produktive und aufschlussreiche Ansätze darstellen, auf die der Leser stoßen kann, wenn er vom Heiligen Geist geführt wird.
Der Prophet Joseph Smith hat gesagt: „Immer wenn Gott die Vision einer Gestalt oder eines Tieres oder irgendeiner Form gibt, so lässt er es sich angelegen sein, eine Offenbarung oder Auslegung davon zu erteilen, was das alles bedeuten soll; andernfalls könnten wir ja nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass wir daran glauben.“4 Wenn wir das Buch Offenbarung aufschlagen und darin zu lesen beginnen, hilft uns Gott, sofern wir uns bemühen, aus der bemerkenswerten Vision des Johannes mehr Licht und Erkenntnis zu ziehen.
Das Buch Offenbarung enthält viele wertvolle Lektionen für uns. Mögen wir alle darin inspirierte Bedeutung sowie tiefgründigere Anwendungsmöglichkeiten finden, wenn wir diesen bewegenden und geistig anregenden Text gebeterfüllt durcharbeiten.