Achtes Kapitel
Eine Zeit der Prüfungen
Präsident John Taylor
Nach dem Tod von Brigham Young führte das Kollegium der Zwölf Apostel, über das John Taylor präsidierte, drei Jahre die Kirche. Am 10. Oktober 1880 wurde John Taylor als Präsident der Kirche bestätigt. Präsident Taylor war ein begabter Autor und Journalist; er hat ein Buch über das Sühnopfer geschrieben und einige der wichtigsten Zeitschriften der Kirche herausgegeben, darunter die Times and Seasons und The Mormon. Seinen Mut und sein großes Engagement für das wiederhergestellte Evangelium stellte er mehrfach unter Beweis, unter anderem als er freiwillig zu den Brüdern ins Gefängnis zu Carthage ging, wo er vier Schußwunden davontrug. Seine Loyalität Gott und der Kirche gegenüber kam in seinem Lebensmotto zum Ausdruck: „Das Reich Gottes oder gar nichts.“
Die Missionsarbeit
Präsident Taylor wollte alles tun, damit das Evangelium bis an die Enden der Erde verkündigt wurde. Auf der Generalkonferenz im Oktober 1879 berief er Moses Thatcher, den zuletzt berufenen Apostel der Kirche, mit der Verkündigung in Mexico City zu beginnen. Am 13. November 1879 gründete Elder Thatcher zusammen mit zwei weiteren Missionaren den ersten Zweig der Kirche in Mexico City. Dr. Plotino C. Rhodacanaty wurde Zweigpräsident. Er hatte sich zur Kirche bekehrt, nachdem er ein spanisches Traktat über das Buch Mormon gelesen und Präsident Taylor schriftlich um weitere Informationen über die Kirche gebeten hatte.
Ausgehend von einer kleinen Gruppe von zwölf Mitgliedern und drei Missionaren begann das Evangelium sich langsam in Mexiko auszubreiten. Am 6. April 1881 bestiegen Elder Thatcher, Feramorz Young und ein Bruder Pais den Berg Popacatepetl bis auf eine Höhe von gut 5000 Metern. Dort hielten sie eine kurze Andacht ab. Elder Thatcher kniete nieder und weihte das Land Mexiko und seine Bewohner, damit sie die Stimme des Herrn, ihres wahren Hirten, hörten.
Elder Thatcher kehrte nach Salt Lake City zurück und empfahl, daß weitere Missionare nach Mexiko berufen würden. Kurz darauf dienten mehrere junge Männer, darunter Anthony W. Ivins, der später Mitglied der Ersten Präsidentschaft wurde, in Mexico City. Als Teil ihrer Arbeit in der Mexiko-Mission veröffentlichte die Kirche 1886 eine spanische Übersetzung des Buches Mormon. Die Geschichte von Milton Trejo, der bei der Übersetzung des Buches Mormon und anderer Kirchenliteratur ins Spanische half, zeigt, wie der Herr sein Werk leitet.
Milton Trejo war in Spanien geboren; er wuchs auf, ohne sich an eine Religion zu binden. Als er auf den Philippinen im Militär diente, hörte er eine Bemerkung über die Mormonen in den Rocky Mountains und verspürte den starken Wunsch, die Mormonen zu besuchen. Später wurde er sehr krank, und ihm wurde in einem Traum gesagt, er müsse Utah besuchen. Nach seiner Genesung reiste er nach Salt Lake City. Er kam mit Brigham Young zusammen und befaßte sich mit dem Evangelium. Er gelangte zu der Überzeugung, daß er die Wahrheit gefunden hatte, und wurde Mitglied der Kirche. Er diente als Missionar in Mexiko und war nun geistig und intellektuell darauf vorbereitet, eine Hauptrolle dabei zu spielen, den spanischsprechenden Menschen das Buch Mormon in ihrer Sprache zugänglich zu machen.
Präsident Taylor berief auch Missionare, die das Evangelium den Indianern im amerikanischen Westen bringen sollten. Amos Wright arbeitete besonders erfolgreich unter den Schoschonen, die im Wind-River-Reservat in Wyoming lebten. Nur wenige Monate nach dem Beginn seiner Mission taufte Amos Wright über 300 Indianer, darunter Häuptling Washakie. Missionare der Heiligen der Letzten Tage brachten das Evangelium auch zu den Navahos, den Pueblos und den Zunis, die in Arizona und Neu-Mexiko lebten. Wilford Woodruff predigte ein Jahr unter den Indianern, darunter den Hopis, Apachen und Zunis. Ammon M. Tenney half, über einhundert Zuni-Indianer zu taufen.
Auch in England und Europa wurde das Evangelium weiterhin verkündigt. 1883 wurde Thomas Biesinger, der in Deutschland geboren war und nun in Lehi, Utah, wohnte, in die Europäische Mission berufen. Zusammen mit Paul Hammer wurde er nach Prag geschickt, das damals noch zu Österreich-Ungarn gehörte. Den Missionaren war es gesetzlich verboten, das Evangelium zu verbreiten, also begannen sie mit den Menschen, die sie trafen, Gespräche über alltägliche Dinge. Oft wandten sich diese Gespräche dem Thema Religion zu. Nachdem die beiden auf diese Weise erst einen Monat gearbeitet hatten, wurde Elder Biesinger eingesperrt und zwei Monate gefangengehalten. Nach seiner Freilassung durfte er Antonín Just taufen, auf dessen Anzeige hin er ins Gefängnis gekommen war. Bruder Just wurde der erste Heilige der Letzten Tage, der in der Tschechoslowakei lebte.1
Auch in Polynesien wurde das Evangelium verkündigt. Zwei Missionare aus Hawaii, Elder Kimo Pelio und Elder Samuela Manoa wurden 1862 nach Samoa gesandt. Sie tauften ungefähr 50 Menschen, und Elder Manoa lebte 25 Jahre lang bei den Menschen, die er bekehrt hatte, in Samoa. 1887 wurde Joseph H. Dean aus Salt Lake City berufen, in Samoa eine Mission zu erfüllen. Elder Manoa und seine Frau hießen Elder Dean mit seiner Frau Florence bei sich willkommen. Sie waren die ersten Heiligen der Letzten Tage, die nicht aus Samoa stammten, die die Manoas nach über zwanzig Jahren sahen. Schon bald taufte Elder Dean 14 Menschen, und einen Monat später hielt er seine erste Ansprache in der samoanischen Sprache.2 So begann die Missionsarbeit auf der Insel von neuem.
Um die Ausbreitung der Lepra zu verhindern, begannen 1866 die Behörden von Hawaii damit, die Menschen, die unter der Krankheit litten, auf die Halbinsel Kalaupapa auf Molokai zu bringen. 1873 wurden Jonathan und Kitty Napela, die beide der Kirche angehörten, dorthin verbannt. Nur Kitty war an Lepra erkrankt. Jonathan aber, der im Endowment-Haus in Salt Lake City an Kitty gesiegelt worden war, wollte sie nicht auf der Halbinsel allein lassen. Er erkrankte später selbst an der Lepra. Als ihn nach neun Jahren ein guter Freund besuchte, erkannte ihn dieser kaum. Einige Zeit lang präsidierte Jonathan über die Heiligen auf der Halbinsel. 1900 lebten dort über 200 Mitglieder der Kirche. Die treuen Mitglieder, die an dieser schrecklichen Krankheit litten, wurden von den Führern der Kirche nicht vergessen. Sie besuchten den Zweig von Zeit zu Zeit und nahmen sich ihrer geistigen Bedürfnisse an.3
Die Jubiläumskonferenz
Am 6. April 1880 feierten die Mitglieder den 50. Jahrestag der Gründung der Kirche. Sie nannten das Jahr ein Jubeljahr, so wie früher die Israeliten jedes fünfzigste Jahr ein Jubeljahr genannt hatten. Präsident Taylor erließ viele Schulden, die die bedürftigen Mitglieder noch bei der Kirche hatten. Die Kirche spendete 300 Kühe und 2000 Schafe, die unter den „würdigen Armen“ verteilt werden sollten.4 Die Mitglieder der FHV spendeten fast 35000 Scheffel Weizen für die Notleidenden. Präsident Taylor forderte die Mitglieder der Kirche auf, einander die Schulden zu erlassen, besonders aber den Bedürftigen. Präsident Taylor verkündete: „Dies ist eine Zeit des Jubels!“5 Die Heiligen waren von Vergebungsbereitschaft und tiefer Freude erfüllt.
Der letzte Tag der Jubiläumskonferenz im April 1880 war sehr bewegend. Elf der zwölf Apostel gaben in der Schlußversammlung Zeugnis. Orson Pratt, der schon dem ersten Kollegium der zwölf Apostel angehört hatte, sprach über die Zeit, als sich die gesamte Kirche im Haus von Peter Whitmer sen. in Fayette, New York, versammelt hatte. Er erinnerte an die Prüfungen, die Sammlung, die Verfolgung und das Leid der Heiligen der Letzten Tage, und bekundete seine Dankbarkeit dafür, daß er sich noch immer dazu zählen durfte. Dann gab er Zeugnis „von dem großen Werk, daß der Herr Gott in den vergangenen fünfzig Jahren vollbracht“ hatte.6 Elder Pratt hatte nach der Konferenz nur noch wenige Monate zu leben. Er war glücklich, daß er als Heiliger der Letzten Tage bis ans Ende ausgeharrt hatte.
Zwei Jahre vor der Jubiläumskonferenz hatte Präsident John Taylor die Gründung einer Organisation für die religiöse Unterweisung der Kinder genehmigt. Die erste Primarvereinigung (PV) fand in Farmington statt, das gut 20 Kilometer nördlich von Salt Lake City liegt. Bis 1885 war die PV in fast allen Siedlungen der Heiligen der Letzten Tage organisiert. Der PV gehören heute Millionen Kinder an, die im Evangelium unterwiesen werden und miteinander singen und Gemeinschaft pflegen.
Die Verfolgung geht weiter
Während der Prophet Joseph Smith in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an der Übersetzung der Bibel gearbeitet hatte, machte er sich Gedanken darüber, daß Abraham, Jakob, David und andere Persönlichkeiten des Alten Testaments mehr als eine Ehefrau hatten. Der Prophet betete um mehr Einblick in diese Frage und erfuhr, daß zu bestimmten Zeiten und aus besonderen Gründen und im Einklang mit Gesetzen, die von Gott gegeben wurden, die Mehrehe von Gott genehmigt und geboten war. Joseph Smith erfuhr auch, daß mit der Zustimmung Gottes einige Heilige der Letzten Tage bald durch die Vollmacht des Priestertums ausgewählt werden würden, die mehr als eine Frau heiraten sollten. Einige Heilige der Letzten Tage hatten die Mehrehe in Nauvoo praktiziert, aber erst auf der Generalkonferenz im August 1852 in Salt Lake City wurden die Lehre und die Praxis öffentlich bekanntgegeben. Auf dieser Konferenz gab Elder Orson Pratt auf Anweisung von Präsident Brigham Young bekannt, daß die Mehrehe Teil der Wiederherstellung von allem sei, die der Herr vornehmen wollte (siehe Apostelgeschichte 3:19-21).
Viele der religiösen und politischen Führer Amerikas waren sehr aufgebracht, als sie erfuhren, daß die Heiligen der Letzten Tage in Utah sich für eine Form der Ehe aussprachen, die sie als unmoralisch und unchristlich ansahen. Gegen die Kirche und ihre Mitglieder begann ein großer politischer Kreuzzug. Der Kongreß der Vereinigten Staaten erließ Gesetze, die die Freiheit der Heiligen der Letzten Tage beschnitten und die Kirche wirtschaftlich schädigten. Aufgrund dieser Gesetze wurden Männer, die mehr als eine Frau hatten, gefangengenommen und ins Gefängnis gesperrt, ihnen wurden das Wahlrecht und das Recht auf ein Privatleben in der Familie genommen und andere bürgerliche Freiheiten beschnitten. Hunderte treuer Männer und ein paar Frauen der Heiligen der Letzten Tage wurden in Utah, Idaho, Arizona, Nebraska, Michigan und South Dakota inhaftiert.
Die Verfolgung nahm aber auch für diejenigen zu, die berufen worden waren, das Evangelium zu verkündigen, besonders im Süden der Vereinigten Staaten. Zum Beispiel wurde Elder Joseph Standing im Juli 1878, als er bei Rome in Georgia arbeitete, brutal ermordet. Sein Mitarbeiter, der spätere Apostel Rudger Clawson, entging nur knapp dem Tod. Die Heiligen in Salt Lake City reagierten sehr betroffen auf die Nachricht von der Ermordung Elder Standings. Tausende nahmen im Tabernakel am Beisetzungsgottesdienst teil.
John Gibbs, William Berry, William Jones und Henry Thompson reisten durch Tennessee, um der Kirche in der Öffentlichkeit zu einem besseren Image zu verhelfen. An einem Sonntagmorgen im August 1884 ruhten sie beim Haus von James Condor am Cane Creek in Tennessee aus. Elder Gibbs las in den heiligen Schriften und suchte nach einem Text für seine Ansprache. Da brach auf einmal ein Mob aus dem Wald hervor und eröffnete das Feuer. Elder Gibbs und Elder Berry wurden getötet. Elder Gibbs, der von Beruf Lehrer war, hinterließ seine Frau und drei Kinder, die um ihn trauerten. Um die Kinder durchzubringen, wurde Schwester Gibbs Hebamme. Sie blieb 43 Jahre lang Witwe und starb als treue Heilige der Letzten Tage in der Vorfreude auf das Wiedersehen mit ihrem Mann. Brigham Henry Roberts, der Missionspräsident war, als die Morde geschahen, riskierte sein Leben, als er in Verkleidung die Leichen von Elder Gibbs und Elder Berry ausgrub. Er brachte sie nach Utah, wo viele Gemeinden zu Ehren der beiden Missionare Gedenkgottesdienste abhielten.
In anderen Gegenden wurden die Missionare geschlagen, bis ihnen das Blut den Rücken hinunterlief. Vielen blieben die Narben bis zum Grab. Es war in jener Zeit nicht einfach, ein Mitglied der Kirche zu sein.
Viele Führer der Kirche tauchten unter, um nicht von Bundesbeamten, die nach Männern mit mehr als einer Frau suchten, gefangengenommen zu werden. Die Familien hatten Angst davor, daß die Beamten spät in der Nacht ins Haus eindrangen. Präsident George Q. Cannon, Lorenzo Snow, Rudger Clawson, Brigham Henry Roberts, George Reynolds und viele andere wurden ins Gefängnis gesteckt, wo sie die Zeit damit verbrachten, Bücher zu schreiben, Unterricht zu halten und Briefe an ihre Familien zu schreiben. Präsident John Taylor war gezwungen, sich in Kaysville, Utah, etwa 30 Kilometer nördlich von Salt Lake City, verborgen zu halten. Hier starb er am 25. Juli 1887. Er war ein gläubiger und mutiger Mann, der sein Leben dem Zeugnis von Jesus Christus und dem Aufbau des Gottesreichs auf der Erde geweiht hatte.
Präsident Wilford Woodruff
Wilford Woodruff war einer der erfolgreichsten Missionare der Kirche und bekannt für seinen prophetischen Weitblick und seine Treue zur Kirche. Er führte genaue Tagebücher, die sehr viele Informationen über die Anfangszeit der Kirche enthalten. Als Präsident John Taylor starb, diente er als Präsident des Kollegiums der zwölf Apostel. Fast zwei Jahre später wurde er als Präsident der Kirche bestätigt.
Während der Amtszeit von Präsident Woodruff wurde der politische Kreuzzug gegen die Heiligen der Letzten Tage heftiger, aber die Kirche schritt voran. In drei Städten Utahs waren Tempel in Betrieb – in St. George, Logan und Manti – und der Tempel in Salt Lake City war fast fertiggestellt. Das Haus des Herrn in diesen Städten ermöglichte es Tausenden von Heiligen, die Begabung zu empfangen und für ihre verstorbenen Angehörigen die heiligen Handlungen zu vollziehen. Sein Leben lang hatte Präsident Woodruff großes Interesse an der Tempelarbeit und der Ahnenforschung. Er forderte die Heiligen oft auf, im Tempel für ihre Vorfahren die heiligen Handlungen zu vollziehen.
Aus der folgenden Begebenheit geht hervor, wie wichtig die Arbeit war, die die Heiligen für die Verstorbenen taten. Im Mai 1884 unterschrieb Henry Ballard, der Bischof der Gemeinde 2 in Logan, in seinem Haus Tempelscheine. Henrys neunjährige Tochter, die sich vor dem Haus auf den Gehweg mit Freundinnen unterhielt, sah zwei ältere Männer auf sich zukommen. Die Männer riefen sie und gaben ihr eine Zeitung mit dem Auftrag, sie ihrem Vater zu bringen.
Das Mädchen tat, wie ihm aufgetragen worden war. Bischof Ballard sah, daß die Zeitung, die Newbury Weekly News, in England erschienen war und die Namen und genealogische Angaben von über 60 Menschen enthielt, die er und sein Vater gekannt hatten. Die Zeitung vom 15. Mai 1884 war ihm nur drei Tage nach Erscheinen gegeben worden. Dies war ein Wunder, denn in jener Zeit, die den Lufttransport noch nicht kannte, brauchte die Post von England in den Westen Amerikas mehrere Wochen.
Am nächsten Tag brachte Bischof Ballard die Zeitung zum Tempel und berichtete dem Tempelpräsidenten, Marriner W. Merrill, wie die Zeitung zu ihm gekommen war. Präsident Merrill sagte: „Bruder Ballard, auf der anderen Seite warten viele ungeduldig darauf, daß ihre Arbeit getan wird, und sie wußten, daß Sie die Arbeit verrichten würden, wenn die Zeitung in Ihre Hände gelangt.“7 Die Zeitung wird in der Church Historical Library in Salt Lake City aufbewahrt.
Trotz der Verfolgung förderten die Führer der Kirche die Besiedlung unbewohnter Gebiete im amerikanischen Westen. Ab 1885 ließen sich viele Mitgliederfamilien in Sonora und Chihuahua in Mexiko nieder und gründeten Siedlungen, darunter Colonia Juárez und Colonia Díaz. Auch in andere Gebiete im Norden Mexikos wanderten Mitglieder der Kirche aus.
Auch in Kanada sahen die Mitglieder der Kirche sich nach Orten um, wo sie sich niederlassen konnten. Charles O. Card, der als Präsident des Pfahls Cache Valley diente, gründete 1886 im Süden Albertas eine Siedlung von Heiligen der Letzten Tage. Bis zum Winter 1888 lebten über 100 Heilige der Letzten Tage in Westkanada, und nach 1890 kamen noch mehr, um ein Bewässerungssystem und eine Eisenbahn zu bauen. Viele Führer der Kirche wuchsen in Alberta auf.
Das Manifest
In den achtziger Jahren erließ die US-Regierung weitere Gesetze, die denen, die die Mehrehe praktizierten, das Recht nahmen, zu wählen oder als Geschworener zu dienen, und das Eigentum, das die Kirche besitzen durfte, stark einschränkten. Die Familien der Heiligen der Letzten Tage litten, weil sich noch mehr Väter verstecken mußten. Präsident Woodruff flehte zum Herrn um Weisung. Am Abend des 23. September 1890 schrieb der Prophet unter Inspiration das Manifest. Dieses Dokument setzte der Mehrehe für die Mitglieder der Kirche ein Ende. Der Herr zeigte Präsident Woodruff in einer Vision, daß die Regierung der Vereinigten Staaten, falls die Mehrehe nicht abgeschafft wurde, die Tempel beschlagnahmen werde, was der Arbeit für die Lebenden und die Toten ein Ende bereitet hätte.
Am 24. September 1890 bestätigten die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel das Manifest. Die Heiligen nahmen das Manifest auf der Generalkonferenz im Oktober 1890 an. Heute ist dieses Dokument als Amtliche Erklärung Nr. 1 im Buch Lehre und Bündnisse enthalten.
Nachdem die Kirche gehandelt hatte, begnadigten die Bundesbeamten diejenigen Heiligen, die für schuldig befunden worden waren, die Gesetze gegen die Mehrehe übertreten zu haben, und die Verfolgung der Kirche hörte fast gänzlich auf. Aber Präsident Woodruff erläuterte: „Ich hätte es zugelassen, daß uns alle unsere Tempel genommen werden; ich selbst wäre ins Gefängnis gegangen und hätte es zugelassen, daß alle Männer dorthin gegangen wären, wenn nicht der Gott des Himmels mir geboten hätte zu tun, was ich getan habe; und als die Stunde kam, in der mir geboten wurde, es zu tun, war mir alles klar. Ich ging vor den Herrn, und ich schrieb, was der Herr mir zu schreiben gebot.“ (Auszüge aus drei Ansprachen von Präsident Wilford Woodruff bezüglich des Manifests, die in den englischen heiligen Schriften im Anschluß an die Amtliche Erklärung Nr. 1 abgedruckt sind.) Gott, und nicht der Kongreß der Vereinigten Staaten, hatte bewirkt, daß die Mehrehe offiziell beendet wurde.
Die Genealogische Gesellschaft
Schon lange bevor die Heiligen der Letzten Tage eine genealogische Gesellschaft gründeten, sammelten die Mitglieder der Kirche Aufzeichnungen über das Leben ihrer verstorbenen Vorfahren. Wilford Woodruff, Orson Pratt und Heber J. Grant gehörten zu denjenigen, die die Namen von Tausenden von Vorfahren sammelten und für sie die heiligen Handlungen des Tempels vollzogen. 1894 wies die Erste Präsidentschaft an, daß eine genealogische Gesellschaft gegründet werden sollte. Ihr erster Führer war Elder Franklin D. Richards. Eine Bibliothek wurde eingerichtet, und Vertreter der Gesellschaft reisten auf der Suche nach Namen von Menschen, für die die heiligen Handlungen des Tempels vollzogen werden konnten, durch die ganze Welt. Diese Gesellschaft war der Vorläufer des heutigen Family History Department der Kirche.
Auf der Generalkonferenz im April 1894 gab Präsident Woodruff bekannt, daß er eine Offenbarung über die genealogische Arbeit empfangen habe. Er verkündete, daß Gott wolle, daß die Heiligen der Letzten Tage „von dieser Zeit an ihre Genealogie so weit wie möglich zurückverfolgen und sich an ihre Väter und Mütter siegeln lassen. Siegelt die Kinder an ihre Eltern und schließt die Kette so weit, wie es euch möglich ist. … Dies ist der Wille des Herrn für sein Volk“, sagte er, „und ich glaube, daß Sie, wenn Sie darüber nachdenken, feststellen werden, daß es wahr ist.“8 Die Heiligen der Letzten Tage sind immer noch aufgefordert, nach Aufzeichnungen über ihre verstorbenen Vorfahren zu suchen und für sie im Tempel die heiligen Handlungen zu vollziehen.
Von 1885 bis 1900 erfüllten viele Mitglieder der Kirche eine genalogische Mission. Sie wurden aufgefordert, nach Salt Lake City zu kommen, und erhielten von einer Generalautorität einen Segen für ihre Mission. Sie bekamen einen Missionarsausweis und ein Empfehlungsschreiben. Sie besuchten Verwandte, schrieben Namen von Grabsteinen ab, studierten Kirchenbücher und Familienbibeln und kehrten mit wertvollen Informationen nach Hause zurück, die es ihnen gestatteten, die Tempelarbeit zu vollziehen. Viele Missionare berichteten von geistigen Erlebnissen, die ihnen bestätigten, daß der Herr mit ihnen war und sie oft zu benötigten Informationsquellen oder zu Verwandten führte.9
Die Weihung des Salt-Lake-Tempels
Präsident Woodruff widmete der Tempelarbeit einen großen Teil seines Lebens. Er war der erste Präsident des Tempels in St. George, und er weihte den Manti-Tempel. Nun, 40 Jahre nach der Ecksteinlegung des Salt-Lake-Tempels, sah Präsident Woodruff mit großen Erwartungen der Weihung dieses markanten Tempels entgegen. Die Weihungssessionen fanden vom 6. April bis zum 18. Mai 1893 statt und wurden von rund 75000 Menschen besucht.10
Nach der ersten Weihungssession am 6. April schrieb Präsident Woodruff in sein Tagebuch: „Der Geist und die Macht Gottes ruhten auf uns. Der Geist der Prophezeiung und Offenbarung lag auf uns, und den Menschen wurde das Herz erweicht, und vieles wurde uns gezeigt.“11 Manche sahen Engel, während andere frühere Präsidenten der Kirche und andere verstorbene Führer der Kirche sahen.12
Als Präsident Woodruff seinen neunzigsten Geburtstag feierte, drängten sich Tausende von Sonntagsschulkindern im Tabernakel auf dem Tempelplatz, um Präsident Woodruff zu ehren. Er war tief bewegt und erzählte seinen jungen Zuhörern voller Rührung, daß er mit zehn Jahren eine protestantische Sonntagsschule besucht und von Aposteln und Propheten gelesen hatte. Er war nach Hause gegangen und hatte gebetet, er möge lange genug leben, um zu erleben, daß wieder Apostel und Propheten auf der Erde waren. Nun stand er in der Gegenwart von Männern, die sowohl Apostel als auch Propheten waren; und sein Gebet war in vielfacher Hinsicht erhört worden.13
Ein Jahr später, am 2. September 1898, starb Präsident Woodruff bei einem Besuch in San Francisco.
Präsident Lorenzo Snow und der Zehnte
Nach dem Tod von Präsident Woodruff wurde Lorenzo Snow, der Präsident des Kollegiums der Zwölf, Präsident der Kirche. Er war ein weiser und liebevoller Führer, der gut auf seine Aufgabe vorbereitet war. Er hatte jeden Propheten der Heiligen der Letzten Tage gekannt und war von ihnen geschult worden. Im November 1900 erzählte er den Heiligen, die sich im Tabernakel versammelt hatten, daß er den Propheten Joseph Smith und seine Familie oft besucht hatte, daß er an seinem Tisch gegessen und sich mit dem Propheten unterhalten hatte. Er wußte, daß Joseph ein Prophet Gottes war, denn der Herr hatte ihm dies „überaus klar und deutlich“ gezeigt.14
Während der Amtszeit von Präsident Snow hatte die Kirche große finanzielle Schwierigkeiten, die noch durch die Gesetzgebung der Bundesregierung gegen die Mehrehe verursacht waren. Präsident Snow überlegte und betete um Weisung dazu, wie die Kirche von den lähmenden Schulden frei werden konnte. Nach der Generalkonferenz im April 1899 fühlte er sich inspiriert, St. George zu besuchen. Während er in einer Versammlung dort sprach, machte er eine längere Pause und erklärte, als er fortfuhr, er habe eine Offenbarung erhalten. Die Mitglieder der Kirche hatten das Gesetz des Zehnten vernachlässigt, und der Herr hatte ihm gesagt, daß auf die Heiligen, wenn sie den vollen Zehnten zahlten, Segnungen herabgeschüttet würden.
Der Prophet verkündete die Bedeutung des Zehnten in Gemeinden in ganz Utah. Die Heiligen folgten seinem Rat und zahlten in dem Jahr doppelt soviel Zehnten wie in dem Jahr davor. Bis 1907 hatte die Kirche genügend Geld beisammen, um alle Gläubiger zu bezahlen und schuldenfrei zu werden.
1898 gab Präsident George Q. Cannon anläßlich eines Empfangs für den Hauptausschuß der GFV Junger Damen (GFV = Gemeinschaftliche Fortbildungs-Vereinigung) bekannt, daß die Erste Präsidentschaft beschlossen hatte, „einige unserer klugen und besonnenen Frauen auf Mission zu berufen“.15 Bis dahin war es höchstens vorgekommen, daß einige wenige Schwestern ihren Mann auf Mission begleitet hatten. Nun berief die Kirche zum ersten Mal Schwestern offiziell als Missionare und Botschafter des Herrn Jesus Christus und setzte sie ein. Die Schwestern sind nicht verpflichtet, eine Mission zu erfüllen. Aber in den vergangenen Jahrzehnten haben Tausende diese Gelegenheit wahrgenommen und dem Herrn als Vollzeitmissionarinnen treu gedient.
Präsident Lorenzo Snow führte die Kirche ins 20. Jahrhundert. Als das neue Jahrhundert anbrach, hatte die Kirche 43 Pfähle, 20 Missionen und 967 Gemeinden und Zweige. Es gab 283765 Mitglieder, die hauptsächlich im Gebiet der Rocky Mountains in den Vereinigten Staaten lebten. Vier Tempel waren in Betrieb, und die Zeitschriften Juvenile Instructor, Improvement Era und Young Women’s Journal vermittelten den Mitgliedern Artikel über die Kirche. Es gab Gerüchte, daß zumindest eine neue Mission eröffnet werden sollte, und die Heiligen der Letzten Tage konnten sich nur schwer vorstellen, was ihnen die nächsten hundert Jahre bringen mochten. Sie waren aber zuversichtlich, daß die Prophezeiungen über das Schicksal der Kirche sich erfüllen würden.