Neuntes Kapitel
Die Kirche breitet sich aus
Von 1901 bis 1970 präsidierten vier Propheten über die wachsende Kirche – Joseph F. Smith, Heber J. Grant, George Albert Smith und David O. McKay. Diese Präsidenten erlebten mit, wie die Menschen, die früher noch mit Pferd und Wagen gereist waren, mit einer Rakete ins Weltall reisten. Die Heiligen machten zwei Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise durch. In dieser Zeit wurden neun Tempel gebaut. 1901 hatte die Kirche rund 300000 Mitglieder in 50 Pfählen; 1970 hatte sie über 2800000 Mitglieder in 500 Pfählen in aller Welt.
Präsident Joseph F. Smith
Joseph F. Smith wurde 1838, auf dem Höhepunkt der Verfolgung in Missouri, in einer kleinen Holzhütte beim Tempelplatz in Far West geboren. Damals saß sein Vater, Hyrum Smith, in Richmond, Missouri, im Gefängnis, und seine Mutter, Mary Fielding Smith, mußte sich allein um die Kinder kümmern.
Der junge Joseph zog mit seiner Familie von Missouri nach Nauvoo. Dort geschah etwas, an das sich Joseph sein Leben lang erinnerte – die Ermordung seines Vaters und seines Onkels im Gefängnis zu Carthage. Joseph vergaß nie, wie er seinen Vater zum letzten Mal gesehen hatte. Sein Vater war nach Carthage unterwegs; er hob den kleinen Joseph zu sich aufs Pferd, küßte ihn und ließ ihn wieder hinunter. Joseph vergaß auch nicht die schreckliche Angst, als in der Nacht ein Nachbar am Fenster rüttelte und der Mutter mitteilte, daß Hyrum ermordert worden war. Der Anblick seines Vater und seines Onkels, die im Mansion House in Nauvoo aufgebahrt waren, ließ ihn nie wieder los.
Fast über Nacht wurde aus dem Jungen Joseph ein Mann. Als sich Mary Fielding Smith und ihre Familie dem Auszug aus Nauvoo anschlossen, lenkte der siebenjährige Joseph einen ihrer Wagen. Als seine Mutter starb und ihn als Waisen zurückließ, war er 13 Jahre alt. Noch bevor er 16 Jahre alt wurde, ging er nach Hawaii auf Mission. Drei Monate nach seiner Ankunft sprach er die Landessprache fließend. Diese geistige Gabe war ihm von Parley P. Pratt und Orson Hyde übertragen worden, die ihn als Missionar eingesetzt hatten. Mit 21 Jahren ging er erneut auf Mission, diesmal für drei Jahre auf die britischen Inseln.
Joseph war erst 28 Jahre alt, als Präsident Brigham Young das Gefühl hatte, er solle ihn zum Apostel ordinieren. In den darauffolgenden Jahren diente er vier Präsidenten der Kirche als Ratgeber. Nach dem Tod von Lorenzo Snow im Oktober 1901 wurde Joseph F. Smith der sechste Präsident der Kirche. Er war bekannt für seine Fähigkeit, die Evangeliumswahrheiten auszulegen und zu verteidigen. Seine Ansprachen und sein schriftliches Vermächtnis sind in dem Buch Evangeliumslehre zusammengefaßt, das ein wichtiges Werk zur Lehre der Kirche wurde.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ging die Kirche in verschiedenen wichtigen Bereichen voran. Immer wieder wurde Nachdruck auf das Zahlen des Zehnten gelegt, und die Heiligen erfüllten das Gebot treu, und so konnte die Kirche alle Schulden bezahlen. Es folgte eine Zeit des Wohlstands, und die Kirche konnte Tempel, Gemeindehäuser und Informationszentren bauen und historische Stätten kaufen, die in der Geschichte der Kirche von Bedeutung waren. Die Kirche errichtete ihr Verwaltungsgebäude in Salt Lake City, das immer noch als Hauptsitz der Kirche dient.
Präsident Smith war sich dessen bewußt, daß in aller Welt Tempel gebraucht wurden. Auf einer Konferenz in Bern streckte er 1906 die Hand aus und verkündete: „Die Zeit wird kommen, wo es in diesem Land viele Tempel geben wird, in die Sie gehen und in denen Sie Ihre Toten erlösen können.“1 Der erste Tempel der Heiligen der Letzten Tage in Europa wurde fast ein halbes Jahrhundert später in einem Vorort der Stadt geweiht, in der Präsident Smith seine prophetische Äußerung gemacht hatte. 1913 weihte Präsident Smith in Cardston, Alberta, das Grundstück für den dortigen Tempel, und 1915 das Grundstück für den Hawaii-Tempel.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts forderten die Führer der Kirche die Heiligen auf, in ihrem Heimatland zu bleiben und nicht nach Utah auszuwandern. 1911 machten Joseph F. Smith und seine Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft die folgende Aussage: „Es ist wünschenswert, daß unsere Mitglieder in ihrem Heimatland bleiben und Gemeinden bilden, die langfristig Bestand haben sollen und die Missionsarbeit unterstützen.“2
Sechs Wochen vor seinem Tod empfing Präsident Smith eine wichtige Offenbarung über die Erlösung der Toten. In einer Vision sah er, wie der Erretter in der Geisterwelt diente, und er erfuhr, daß die gläubigen Heiligen die Möglichkeit haben werden, das Evangelium auch in der Geisterwelt zu lehren. Diese Offenbarung wurde 1976 in die Köstliche Perle aufgenommen und 1979 dem Buch Lehre und Bündnisse als Abschnitt 138 hinzugefügt.
Präsident Heber J. Grant
Kurze Zeit vor seinem Tod im November 1918 nahm Präsident Joseph F. Smith den Präsidenten des Kollegiums der Zwölf, Heber J.Grant, bei der Hand und sagte: „Der Herr segne dich, mein Junge, der Herr segne dich, du hast eine große Verantwortung. Denk immer daran, daß dies das Werk des Herrn ist und nicht das Werk von Menschen. Der Herr ist größer als jeder Mensch. Er weiß, wer seine Kirche führen soll, und er macht keine Fehler.“3 Mit 62 Jahren wurde Heber J.Grant der siebte Präsident der Kirche. Er hatte seit 1882 als Apostel gedient.
Schon als junger Mann und sein Leben lang bewies Heber im Verfolgen seiner Ziele eine ungewöhnliche Entschlossenheit. Als einziges Kind einer Witwe war er von den Aktivitäten der gleichaltrigen Jungen ein wenig ausgeschlossen. Als er sich um die Aufnahme in einer Baseballmannschaft bewarb, wurde er wegen seiner Unbeholfenheit und seines mangelnden Talents gehänselt und nicht in die Mannschaft aufgenommen. Er fand sich mit der Enttäuschung nicht ab, sondern verbrachte viele Stunden damit, den Ballwurf zu üben. Schließlich wurde er in eine andere Mannschaft aufgenommen, die mehrere örtliche Wettbewerbe gewann.
Als Junge wollte er Buchhalter werden, denn er hatte erfahren, daß er so sehr viel mehr verdienen könne als mit seiner damaligen Beschäftigung als Schuhputzer. Damals mußte man als Buchhalter eine schöne Handschrift haben. Hebers Schrift war aber so unleserlich, daß zwei seiner Freunde meinten, sie sähe so aus, als ob Hühner über das Papier gelaufen wären. Er ließ sich wieder nicht entmutigen, sondern verbrachte viele Stunden damit, sich eine schöne Handschrift anzueignen. Er wurde für seine schöne Handschrift bekannt; schließlich lehrte er an der Universität Schönschreiben, und er wurde oft gebeten, wichtige Dokumente aufzusetzen. Er war für viele Menschen, die sahen, mit welcher Entschlossenheit er im Dienst am Herrn und an seinen Mitmenschen sein Bestes gab, ein großes Vorbild.
Präsident Grant war ein kluger und erfolgreicher Geschäftsmann, und seine Talente halfen ihm, die Kirche durch die Weltwirtschaftskrise zu führen und die persönlichen Probleme, die aus der Krise resultierten, zu meistern. Er glaubte fest daran, daß es wichtig ist, daß man selbständig ist und nur auf den Herrn und auf die eigene harte Arbeit angewiesen ist und nicht auf den Staat. Mit dem Geld, das er verdiente, half er vielen bedürftigen Menschen.
In den 30er Jahren, während der Weltwirtschaftskrise, machten den Heiligen, so wie vielen anderen Menschen auch, Arbeitslosigkeit und Armut zu schaffen. 1936 rief Präsident Grant auf eine Offenbarung vom Herrn hin das Wohlfahrtsprogramm der Kirche ins Leben, um die Notleidenden zu unterstützen und allen Mitgliedern zu helfen, unabhängig zu werden. Über dieses Programm sagte die Erste Präsidentschaft: „Es war unser vornehmstes Ziel, soweit wie möglich ein System zu schaffen, das den Fluch des Müßiggangs und die Nachteile von staatlichen Almosen beseitigt und bei unseren Leuten wieder Unabhängigkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Selbstachtung entstehen läßt. Das Ziel der Kirche besteht darin, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Arbeit muß für unsere Mitglieder wieder zum beherrschenden Grundsatz werden.“4
Präsident J. Reuben Clark jun., der 28 Jahre als Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft diente, betonte: „Der Wohlfahrtsplan hat in Wirklichkeit das langfristige Ziel, die Mitglieder der Kirche charakterlich zu festigen, und zwar sowohl die, die geben, als auch die, die etwas bekommen, damit das Beste, das tief in ihnen steckt, erhalten bleibt, und die verborgene Fülle des Geistes blühen und Frucht tragen kann.“5
1936 wurde das Allgemeine Wohlfahrtskomitee ins Leben gerufen, das die Wohlfahrtsanstrengungen der Kirche beaufsichtigen sollte. Harold B. Lee, Präsident des Pioneer-Pfahls, wurde der geschäftsführende Direktor des Komitees. Später wurden die Läden von Deseret Industries entwickelt, um den Arbeitslosen und Behinderten zu helfen. Farmen und Produktionsbetriebe wurden gegründet, um den Bedürftigen zu helfen. Durch das Wohlfahrtsprogramm wird auch heute noch jeden Tag Tausenden geholfen, bedürftigen Mitglieder der Kirche ebenso wie anderen Menschen, die irgendwo auf der Welt in Not sind.6
Während die Missionsarbeit mit größeren Schritten voranging, war Präsident Grant an einer sehr ungewöhnlichen Bekehrungsgeschichte beteiligt. Vincenzo di Francesca, ein Geistlicher aus Italien, war in New York City zu seiner Kirche unterwegs, als er in einer Tonne voller Asche ein Buch ohne Einband liegen sah. Er nahm das Buch und blätterte es durch. Zum ersten Mal sah er die Namen Nephi, Mosia, Alma und Moroni. Er fühlte sich gedrängt, es zu lesen und darüber zu beten, obwohl er weder den Namen noch die Herkunft des Buchs kannte. Er sagte, als er dieses tat, habe er ein frohes Gefühl gehabt, so als habe er etwas Wertvolles und Außergewöhnliches gefunden, das seiner Seele Trost zusprach und ihm eine Freude schenkte, die mit der menschlichen Sprache nicht zu beschreiben ist. Er begann die Grundsätze, die in dem Buch enthalten waren, bei den Mitgliedern seiner Kirche zu lehren. Die Führer seiner Kirche wiesen ihn dafür zurecht und befahlen ihm, das Buch zu verbrennen. Vincenzo weigerte sich, das zu tun.
Später kehrte er nach Italien zurück. Dort erfuhr er 1930, daß das Buch von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage veröffentlicht worden war. Er schrieb an die Kirche in Utah einen Brief, der an Präsident Grant weitergeleitet wurde. Präsident Grant sandte Vincenzo ein italienisches Buch Mormon und teilte ihm den Namen des Präsidenten der Europäischen Mission mit. Die Probleme der Kriegszeit verhinderten viele Jahre, daß Vincenco getauft werden konnte. Schließlich wurde er am 18. Januar 1951 Mitglied der Kirche. Er war der erste, der auf Sizilien getauft wurde. Fünf Jahre später erhielt er im Tempel in der Schweiz die Begabung.7
Am 6. Mai 1922 weihte Präsident Grant den ersten Radiosender der Kirche. Zwei Jahre später begann der Sender, die Versammlungen der Generalkonferenz auszustrahlen. Auf diese Weise konnten viel mehr Mitglieder der Kirche die Ansprachen der Generalautoritäten hören. Nicht lange darauf, im Juli 1929, strahlte der Tabernakelchor die erste Folge von „Music and the Spoken Word“ aus, einer wöchentlichen Sendung mit inspirierender Musik und einer Ansprache. Seitdem wird dieses Programm einmal in der Woche gesendet.
Präsident Grant starb am 14. Mai 1945. Seine Amtszeit dauerte 27 Jahre; nur Brigham Young war länger Präsident der Kirche.
Präsident George Albert Smith
George Albert Smith folgte Heber J. Grant als Präsident der Kirche nach. Präsident Smith, dessen Leben ein gutes Beispiel dafür ist, wie glücklich man sein kann, wenn man nach dem Evangelium lebt, hat bezeugt: „Jedes Glück und jede Freude, die diese Namen verdienen, kommen daher, daß man die Gebote Gottes hält und seinen Weisungen und seinem Rat folgt.“8
In der Familie von Präsident Smith war es seit Generationen üblich, die Gebote Gottes und den Rat der Führer der Kirche zu befolgen. Präsident Smith war nach seinem Großvater väterlicherseits, George A. Smith, benannt, der ein Vetter des Propheten Joseph war und als Ratgeber von Präsident Brigham Young gedient hat. Der Vater von George Albert, John Henry Smith, diente unter Präsident Joseph F. Smith in der Ersten Präsidentschaft. Mit 33 Jahren wurde George Albert Smith ins Kollegium der Zwölf berufen. Von 1903 bis 1910 dienten John Henry und George Albert zusammen in diesem Kollegium. In dieser Evangeliumszeit war es das einzige Mal, daß ein Vater zusammen mit seinem Sohn in diesem Kollegium diente.
George Albert Smith diente in den 42 Jahren, die er dem Kollegium angehörte, ungeachtet seiner zeitweise schlechten Gesundheit treu. Als er für die Eisenbahn im südlichen Utah Vermessungsarbeiten durchführte, hatte die Sonne seinen Augen sehr geschadet, und es gelang nicht, seine fast vollständige Erblindung operativ zu beheben. Der zunehmende Druck und die Anforderungen an seine Zeit schwächten seinen angegriffenen Körper. 1909 brach er erschöpft zusammen. Der Arzt verordnete absolute Ruhe, was George Albert das Selbstvertrauen nahm und ihm das Gefühl vermittelte, er sei nutzlos. Das erhöhte die Anspannung, unter der er stand, nur noch.
In dieser schwierigen Zeit hatte George einen Traum, in dem er einen schönen Wald sah, der in der Nähe eines Sees gelegen war. Nachdem er eine Strecke im Wald gelaufen war, erkannte er seinen geliebten Großvater, George A. Smith, der auf ihn zukam. George rannte los, aber als sein Großvater näherkam, blieb er stehen und fragte: „Ich möchte wissen, was du mit meinem Namen gemacht hast.“ George sah im Geist sein Leben vor sich ablaufen, und er antwortete demütig: „Ich habe mit deinem Namen niemals etwas getan, dessen du dich schämen müßtest.“ Dieser Traum verlieh ihm neue geistige und körperliche Kraft, und bald konnte er an seine Arbeit zurückkehren. Später hat er dieses Erlebnis immer wieder als Wendepunkt in seinem Leben bezeichnet.9
Während der Amtszeit von Präsident George Albert Smith, die von 1945 bis 1951 dauerte, erreichte die Mitgliederzahl die erste Million. Der Tempel in Idaho Falls wurde geweiht, und die Missionsarbeit wurde nach dem 2. Weltkrieg wieder aufgenommen.
Es wurden Anstrengungen unternommen, den Heiligen in Europa zu helfen, die nach dem Krieg große Not litten. Die Mitglieder in den Vereinigten Staaten wurden aufgefordert, Kleidung und andere Hilfsmittel zu spenden. Präsident Smith traf sich mit Harry S. Truman, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, und bekam die Genehmigung, die gesammelten Lebensmittel, die Kleidung und das Bettzeug nach Europa zu schicken. Präsident Smith schilderte das Gespräch wie folgt:
Präsident Truman sagte: „‚Warum wollen Sie die Sachen hinüberschicken? Das europäische Geld ist doch nichts wert.‘
Ich sagte: ‚Wir wollen kein europäisches Geld.‘ Er blickte mich an und gab zur Antwort: ‚Sie meinen doch nicht, daß Sie den Leuten die Sachen schenken wollen?‘
Ich erwiderte: ‚Natürlich wollen wir sie ihnen schenken. Es sind doch unsere Brüder und Schwestern, und sie leiden Not. Gott hat uns mit einem reichen Überschuß gesegnet, und wir schicken die Sachen gern nach Europa, wenn wir damit rechnen können, daß der Staat uns dabei hilft.‘
Er sagte: ‚Sie sind auf dem richtigen Weg‘, und fügte hinzu: ‚Wir helfen Ihnen gern, wo immer wir können.‘“10
Als die Spenden in Utah sortiert und für den Überseeversand verpackt wurden, kam Präsident Smith, um die Vorbereitungen zu begutachten. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er die vielen Dinge sah, die so großzügig gespendet worden waren. Wenige Minuten darauf zog er seinen neuen Mantel aus und sagte: „Bitte schicken Sie den Mantel mit.“ Mehrere Leute, die dabeistanden, erklärten, er brauche den Mantel an diesem kalten Wintertag selbst, aber er bestand darauf, daß der Mantel mitgeschickt wurde.11
Elder Ezra Taft Benson vom Kollegium der Zwölf wurde beauftragt, die Missionen in Europa wiederzueröffnen, die Verteilung der Hilfsgüter zu beaufsichtigen und sich der geistigen Belange der Heiligen anzunehmen. Einer der ersten Besuche führte Elder Benson zu einer Konferenz der Heiligen in Karlsruhe. Elder Benson sagte über dieses Erlebnis:
„Schließlich fanden wir das Versammlungsgebäude, ein teilweise zerbombtes Haus, das mitten in dem Häuserblock lag. Die Heiligen hatten in ihrer Versammlung etwa zwei Stunden auf uns gewartet und gehofft, daß wir kamen. Sie hatten nämlich erfahren, daß wir vielleicht zu dieser Konferenz kamen. Und dann sah ich zum ersten Mal in meinem Leben alle Zuhörer weinen, als wir auf das Podium gingen und sie merkten, daß endlich, nach sechs, sieben langen Jahren, wieder Vertreter Zions, wie sie sagten, zu ihnen gekommen waren. … Als ich in ihre Gesichter blickte, blaß, dünn, viele in Lumpen gekleidet, einige mit bloßen Füßen, sah ich das Licht des Glaubens in ihren Augen, als sie die Göttlichkeit dieses großen Werks der Letzten Tage bezeugten und dem Herrn ihren Dank für seine Segnungen bekundeten.“12
Zu den vielen Aufgaben Elder Bensons gehörte es, die Verteilung von 127 Waggonladungen mit Lebensmitteln, Kleidung, Bettzeug und Medikamenten in ganz Europa zu beaufsichtigen. Jahre später, als Präsident Thomas S. Monson in Zwickau das neue Gemeindehaus weihte, kam ein alter Bruder mit Tränen in den Augen nach vorn und bat ihn, Präsident Ezra Taft Benson seine Grüße zu übermitteln. Er sagte: „Richten Sie ihm aus, daß er mir und vielen Brüdern und Schwestern in meiner Heimat mit den Lebensmitteln und der Kleidung, die er uns von den Kirchenmitgliedern in Amerika gebracht hat, das Leben gerettet hat.“13
Die Heiligen in den Niederlanden hatten die Möglichkeit, den hungernden Heiligen in Deutschland einen wahren christlichen Dienst zu erweisen. Die Mitglieder in den Niederlanden hatten während des Krieges sehr gelitten und von den amerikanischen Mitgliedern Wohlfahrtsunterstützung erhalten. Im Frühjahr 1947 wurden sie aufgefordert, mit eigenen Wohlfahrtsprojekten zu beginnen, und sie machten sich begeistert ans Werk. Sie bauten hauptsächlich Kartoffeln an und erwarteten eine reiche Ernte.
Während dieser Zeit kam Präsident Walter Stover von der Ostdeutschen Mission nach Holland und berichtete mit Tränen in den Augen vom Hunger und von der Not der Mitglieder in Deutschland. Präsident Cornelius Zappey, der Präsident der Niederländischen Mission, fragte seine Mitglieder, ob sie die Kartoffeln den Deutschen schicken wollten, die ja während des Krieges ihre Feinde gewesen waren. Die Mitglieder stimmten bereitwillig zu und wachten nun mit gesteigertem Interesse über ihre Kartoffelpflanzen. Die Ernte fiel weit größer aus als erwartet, und die niederländischen Heiligen konnten ihren Brüdern und Schwestern in Deutschland 75 Tonnen Kartoffeln schicken. Ein Jahr später sandten die niederländischen Heiligen den Heiligen in Deutschland 90 Tonnen Kartoffeln und 9 Tonnen Heringe.14
Die christliche Liebe dieser Heiligen war bezeichnend für Präsident George Albert Smith, der die Liebe Christi in ungewöhnlichem Maße ausstrahlte. Er sagte: „Ich kann euch sagen, meine Brüder und Schwestern, daß die glücklichsten Menschen auf der Welt diejenigen sind, die ihren Nächsten wie sich selbst lieben und durch ihren Lebenswandel offenbaren, wie dankbar sie für die Segnungen Gottes sind.“15
Präsident David O. McKay
David O.McKay war unter Präsident George Albert Smith Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft. Im Frühjahr 1951, als sich der Gesundheitszustand von Präsident Smith zu bessern schien, entschlossen sich Präsident McKay und seine Frau, Emma, Salt Lake City zu verlassen und den bis dahin verschobenen Urlaub in Kalifornien anzutreten. Sie übernachteten in St. George. Als Präsident McKay am frühen Morgen erwachte, hatte er deutlich das Gefühl, er müsse zum Hauptsitz der Kirche zurückkehren. Nur wenige Tage nach seiner Ankunft in Salt Lake City erlitt Präsident Smith einen Schlaganfall, an dessen Folgen er am 4. April 1951 starb. David O. McKay wurde der neunte Präsident der Kirche.
Präsident McKay war gut darauf vorbereitet, die Kirche zu führen. Mit acht Jahren, als sein Vater nach Großbritannien auf Mission berufen worden war, hatte er die Verantwortung des Mannes im Haus übernommen. Zwei seiner älteren Schwestern waren kurz zuvor gestorben, und seine Mutter erwartete ein weiteres Kind. Sein Vater glaubte, daß die Verantwortung für die Farm für Davids Mutter zu groß sei. Unter diesen Umständen sagte Bruder McKay zu seiner Frau: „Natürlich kann ich nicht gehen.“ Schwester McKay sah ihn an und antwortete: „Natürlich mußt du die Berufung annehmen. Mach dir um mich keine Sorgen. David O. und ich schaffen das schon.“16 Der Glaube und die Hingabe seiner Eltern flößten dem jungen David den Wunsch ein, dem Herrn sein Leben lang zu dienen. 1906 wurde er mit 32 Jahren in den Rat der Zwölf berufen. Er diente 45 Jahre in diesem Rat und in der Ersten Präsidentschaft (als Ratgeber von Präsident Heber J. Grant und Präsident George Albert Smith), bis er Präsident der Kirche wurde.
Sein ausgedehnter Reiseplan führte Präsident McKay zu den Mitgliedern der Kirche in aller Welt. Er besuchte die Heiligen in Großbritannien und Europa, in Südafrika, Lateinamerika, im Südpazifik und in anderen Ländern. Als er in Europa war, traf er erste Vorbereitungen für den Bau des London-Tempels und des Tempels in der Schweiz. Bis zum Ende seiner Amtszeit hatte er fast die ganze Welt bereist und die Mitglieder der Kirche besucht und begeistert.
Präsident McKay legte erneuten Nachdruck auf die Missionsarbeit und forderte jedes Mitglied auf, sich zu verpflichten, wenigstens ein neues Mitglied pro Jahr zur Kirche zu bringen. Man kannte ihn für seine oft wiederholte Mahnung: „Jedes Mitglied ein Missionar.“
1952 unternahm die Kirche einige Anstrengungen, um die Arbeit der Vollzeitmissionare erfolgreicher zu machen. Der erste offizielle Missionarsplan, Ein systematisches Programm für die Unterweisung im Evangelium, wurde an die Missionare in aller Welt verschickt. Der Plan enthielt sieben Missionarslektionen, die Nachdruck darauf legten, daß die Untersucher durch den Geist unterwiesen werden sollten. Sie legte das Wesen der Gottheit, den Erlösungsplan, den Abfall vom Glauben und die Wiederherstellung sowie die Bedeutung des Buches Mormon deutlich dar. Die Zahl der Menschen in der ganzen Welt, die sich bekehrten, stieg stark an. 1961 hielten die Führer der Kirche das erste Seminar für alle Missionspräsidenten ab. Man erklärte ihnen, sie sollten die Familien dazu anhalten, ihre Freunde und Nachbarn zu sich einzuladen, damit sie von den Missionaren unterwiesen werden konnten. Für die neuberufenen Missionare wurde 1961 eine Sprachschule eingerichtet; später wurde die Missionarsschule in Provo gegründet.
Während der Amtszeit von Präsident McKay legten die Mitglieder, die im Militär dienten, den Samen für das Wachstum der Kirche in Asien. Ein junger Soldat aus American Fork, Utah, der in Südkorea stationiert war, beobachtete folgendes: Amerikanische Soldaten, die auf einem Fußweg auf koreanische Zivilisten trafen, zwangen die Zivilisten, rechts und links den Weg zu verlassen, während die Soldaten weitergingen. Das junge Mitglied der Kirche aber machte den Koreanern Platz. Er bemühte sich, die Namen der Koreaner zu lernen, und grüßte sie im Vorübergehen freundlich. Eines Tages betrat er mit fünf seiner Freunde das Kasino. Die Schlange an der Essensausgabe war sehr lang, deshalb setzte sich der junge Mann an einen Tisch und wartete. Bald schon kam ein koreanischer Arbeiter mit einem gefüllten Tablett zu ihm. Der junge Mann wies auf den Streifen auf seinem Ärmel und sagte: „Sie dürfen mich nicht bedienen. Ich bin nur ein einfacher Soldat.“ Der Koreaner antwortete: „Ich bediene dich. Du erste Klasse Christ.“17
Die Missionare und Soldaten hatten das Evangelium in Korea so erfolgreich verkündigt, daß 1967 das Buch Mormon in die koreanische Sprache übersetzt wurde und es bald im ganzen Land Pfähle und Gemeinden gab.
Auch in Japan waren die Missionare sehr erfolgreich. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die japanischen Mitglieder mehrere Jahre lang nur gelegentlich Kontakt mit Vertretern der Kirche. Die Soldaten, die der Kirche angehörten und nach dem Krieg in Japan stationiert wurden, halfen der Kirche, stärker zu werden. 1945 war Tatsui Sato von einem Soldaten, der keinen Tee trinken wollte, so sehr beeindruckt, daß er Fragen stellte. Im darauffolgenden Jahr ließen er und einige seiner Angehörigen sich taufen. Elliot Richards taufte Tatsui, und Boyd K. Packer, ein Soldat, der später Mitglied des Kollegiums der Zwölf wurde, taufte Schwester Sato. Viele Japaner hörten zu Hause bei den Satos zum ersten Mal vom wiederhergestellten Evangelium. Schon bald begannen Missionare der Heiligen der Letzten Tage, die während des Zweiten Weltkriegs gegen die Japaner gekämpft hatten, in japanischen Städten mit der Missionsarbeit.
Auch in den Philippinen geht die Anwesenheit der Kirche auf die Bemühungen von amerikanischen Soldaten und anderen Mitgliedern während des Zweiten Weltkriegs zurück, aber das starke Wachstum der Kirche setzte dort erst 1961 ein. Eine junge Filipina, die kein Mitglied der Kirche war, hörte vom Buch Mormon und lernte mehrere Heilige der Letzten Tage kennen. Daraufhin hatte sie das Geüfhl, sie müsse Behördenvertreter, mit denen sie bekannt war, ansprechen und sie bitten, die Genehmigung dafür zu erteilen, daß die Missionare der Heiligen der Letzten Tage auf die Philippinen kamen. Die Genehmigung wurde erteilt, und schon wenige Monate später weihte Elder Gordon B. Hinckley vom Kollegium der Zwölf das Land erneut für die Missionsarbeit.
Als Folge des starken Wachstums der Kirche in den fünfziger Jahren gab Präsident McKay das Priestertumskorrelationsprogramm bekannt. Ein Komitee unter der Leitung von Elder Harold B. Lee vom Kollegium der Zwölf wurde beauftragt, alle Programme der Kirche gebetserfüllt und umfassend zu studieren, um festzustellen, wie gut diese Programme die wichtigsten Ziele der Kirche erfüllten. Mit der Genehmigung der Ersten Präsidentschaft gab Elder Lee 1961 bekannt, daß Richtlinien entwickelt wurden, die die Planung, Erstellung und Einführung des gesamten Lehrmaterials der Kirche regeln sollten. Die Hilfsorganisationen der Kirche hatten bisher den größten Teil des Lehrmaterials selbst entwickelt. Die neue Regelung sollte erreichen, daß Programme und Unterrichtsmaterial nicht unnötigerweise doppelt entwickelt wurden, damit die Mitglieder der weltweiten Kirche in allen Altersgruppen und Sprachen besser im Evangelium unterwiesen werden konnten.
Die Kirche nahm noch weitere Änderungen vor, um alle Programme und Aktivitäten, zu denen auch die Wohlfahrt, die Missionsarbeit und die genealogische Arbeit gehörten, erfolgreicher zu korrelieren, um die Mission der Kirche besser zu erfüllen. In den sechziger Jahren wurde auf Heimlehren, das seit den Tagen Joseph Smiths zum Programm der Kirche gehörte, erneut Nachdruck gelegt – als Möglichkeit, für die geistigen und zeitlichen Bedürfnisse aller Mitglieder der Kirche zu sorgen. Gemeindehausbibliotheken wurden eingerichtet, um den Unterricht zu verbessern, und das Lehrerschulungsprogramm wurde ins Leben gerufen. 1971 begann die Kirche drei englischsprachige Zeitschriften herauszugeben, die von Generalautoritäten beaufsichtigt wurden: Friend für die Kinder, New Era für die Jugendlichen und Ensign für die Erwachsenen. Zur selben Zeit vereinheitlichte die Kirche ihre fremdsprachigen Zeitschriften, die bis dahin von verschiedenen Missionen selbständig herausgegeben worden waren. Jetzt wird eine Zeitschrift in viele Sprachen übersetzt und an die Mitglieder in der ganzen Welt verschickt.
Präsident McKay betonte immer, wie wichtig die Familie und das Familienleben als Quelle des Glücks und als Bollwerk gegen die Prüfungen und Versuchungen des heutigen Lebens sind. Oft sprach er über die Liebe, die er für seine Familie empfand, und von der nie versagenden Unterstüzung durch seine Frau, Emma Rae. Während der Amtszeit von Präsident McKay wurde dem Familienabend als Hilfsmittel, durch das die Eltern ihre Kinder enger an sich binden und sie die Grundsätze des Evangeliums lehren können, erneut Nachdruck verliehen.
Die FHV unterstützte den Propheten, indem sie Nachdruck darauf legte, wie wichtig es ist, die Familie zu stärken. Seit ihren Anfängen in Nauvoo war die FHV gewachsen und zählte Hunderttausende Frauen in aller Welt, für die der Unterricht und die Gemeinschaft in der FHV ein großer Segen waren. Auch die Familien profitierten davon. Belle S. Spafford war von 1945 bis 1974 Präsidentin der FHV. Sie war eine fähige Führerin, die auch landesweite Anerkennung erhielt, als sie von 1968 bis 1970 Präsidentin des amerikanischen Frauenrats war.
Präsident McKay starb im Januar 1970 mit 96 Jahren. Er hatte fast 20 Jahre über die Kirche präsidiert. Während dieser Zeit hatte sich die Mitgliederzahl verdreifacht, und es waren große Anstrengungen unternommen worden, der ganzen Welt die Evangeliumsbotschaft zu bringen.