2019
In der Unvollkommenheit Frieden finden
September 2019


In der Unvollkommenheit Frieden finden

Jetzt schon nur Vollkommenheit zu erwarten, würde bedeuten, sich selbst die Gelegenheit zum Fortschritt vorzuenthalten.

Young woman with dove

Illustration von Alisha Johnson; Bild der Taube © Photomaster/Shutterstock

Ein Missverständnis, das uns in diesem Leben zu schaffen machen kann, hat mit dem Begriff Vollkommenheit zu tun. Manch einer glaubt zu Unrecht, man müsse in diesem Leben vollkommen werden, um errettet oder erhöht zu werden.

Als ich einmal als Therapeutin ein Gespräch mit einer Frau führte, brach sie plötzlich in Tränen aus und sagte: „Wie kann ich denn jemals gut genug sein?“ Sie sprach immer weiter darüber, wie unwürdig sie war. Als wir ihren Gefühlen auf den Grund gingen, kam keine schwere Sünde ans Licht, weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart. Sie hatte einfach nur das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Sie verglich sich mit Nachbarn, Freunden, Verwandten. Jeder, der ihr in den Sinn kam, war in ihrer Vorstellung „besser“ als sie.

Gedanken formen unsere Wirklichkeit

Ich weiß, dass sich viele unzulänglich und unsicher fühlen, sei es in einer Berufung, als Vater oder Mutter oder ganz allgemein. Solche Gefühle können dazu führen, dass wir unsere Talente verbergen und uns anderen gegenüber zurückhalten oder dass wir mutlos, ängstlich oder depressiv sind. Wie wir über uns selbst denken, hat großen Einfluss auf unser Verhalten und unsere Gefühle. Viele von uns bezeichnen sich selbst mit Worten, die sie nie zu einem anderem sagen würden. Dies wiederum hält uns davon ab, unser wahres Potenzial zu entfalten, und unsere Fähigkeiten und Talente kommen nicht zum Vorschein. Präsident Ezra Taft Benson (1899–1994) hat gesagt: „Der Satan strengt sich immer mehr an, die Heiligen durch Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit, Verzagtheit und Niedergeschlagenheit zu überwinden.“1

Zum Glück ist „die einzige Meinung, auf die es ankommt, … was der Vater im Himmel von uns hält“, sagt Elder J. Devn Cornish von den Siebzigern. „Bitte fragen Sie ihn ganz aufrichtig, was er von Ihnen hält. Er liebt uns und weist uns auch zurecht, doch er entmutigt uns niemals. Das ist eine Masche des Satans.“2

Unvollkommenheit ist eine Chance

Wir sind auf der Erde, um Freude zu haben, und ein Teil dieser Freude besteht aus dem, was wir erschaffen, was wir glauben und was wir akzeptieren. Wenn wir einsehen, dass wir Kinder Gottes sind, die Fehler haben und auf ihrem Weg dazulernen, können wir auch unsere Unvollkommenheiten annehmen. Augenblicklich Vollkommenheit zu erwarten, würde bedeuten, sich selbst die Gelegenheit zum Fortschritt vorzuenthalten. Wir würden die Gabe der Umkehr und die Macht Jesu Christi und seines Sühnopfers leugnen. Elder Bruce R. McConkie (1915–1985) vom Kollegium der Zwölf Apostel stellte fest: „Es gab nur ein vollkommenes Wesen, nämlich den Herrn Jesus Christus. Müsste der Mensch vollkommen sein und das ganze Gesetz streng, gänzlich und vollständig halten, gäbe es nur einen, der in der Ewigkeit errettet würde. Der Prophet [Joseph Smith] hat erklärt, dass noch vieles getan werden muss, auch nach dem Tod, um unsere Errettung zu erarbeiten.“3 Gerade unsere Unvollkommenheiten können ein Mittel sein, durch das Gott uns darauf vorbereitet, zu ihm zurückzukommen.

Schwächen können zu Stärken werden

Es erfordert Demut, sich in Unvollkommenheit an unseren Vater im Himmel zu wenden. Dieser Vorgang wird in Ether beschrieben: „Wenn Menschen zu mir kommen, so zeige ich ihnen ihre Schwäche. Ich gebe den Menschen Schwäche, damit sie demütig seien; und meine Gnade ist ausreichend für alle Menschen, die sich vor mir demütigen; denn wenn sie sich vor mir demütigen und Glauben an mich haben, dann werde ich Schwaches für sie stark werden lassen.“ (Ether 12:27.) Wenn wir demütig sind, streckt der Vater im Himmel seine Arme nach uns aus und hilft uns, aus unseren Schwächen zu lernen. Ein Beispiel dafür steht im Neuen Testament. Als Paulus mit seinem „Stachel [im] Fleisch“ zu kämpfen hatte, erkannte er mit der Zeit, dass ihn diese Schwäche demütig machte und Gott näher brachte (siehe 2 Korinther 12:7). Eine solche Demut und Lernbereitschaft brauchen wir im Umgang mit unseren eigenen Unvollkommenheiten. Wir müssen aus unseren Schwächen lernen, damit sie zu Stärken werden können.

Es besteht auch ein Unterschied darin, ob man demütig ist oder ob man ein geringes Selbstwertgefühl hat. Demut bringt uns dem Herrn näher, während Scham und Schuldgefühle uns von ihm forttreiben können. Gott möchte nicht, dass wir uns selbst herabsetzen und meinen, in seinen Augen von geringem Wert zu sein. Das verletzt ihn und auch uns. Es ist wichtig zu erkennen, dass wir die Zeit und die Mühe wert sind, die es braucht, um etwas zu verändern. Im Erdenleben geht es unter anderem darum, dass wir Möglichkeiten finden, unsere Schwächen umzuwandeln. Manche Schwächen bleiben ein lebenslanger Kampf, während andere schneller überwunden werden können.

Vor ein paar Jahren arbeitete ich mit einer Klientin, Rachel (Name geändert), die ein Alkoholproblem hatte. Der Alkohol war zu einer Krücke geworden, zu einem Ventil für den Stress, den ihr schwieriges Leben erzeugte. Sie hatte beschlossen, ihre Abhängigkeit zu überwinden, und mit ein wenig Hilfe und Ermutigung hörte sie mit dem Trinken auf. Aber sie setzte sich wegen ihrer Schwäche nicht selbst herab, auch als sie ihr Alkoholproblem noch nicht ganz überwunden hatte. Sie gestand sich die Schwäche ein. Schließlich fasste Rachel mit großer Willenskraft und mit der Hilfe eines guten Bischofs, des Herrn und weniger anderer Bezugspersonen den Entschluss, mit dem Trinken aufzuhören. Als ich das letzte Mal mit ihr sprach, berichtete sie, sie habe kein Verlangen mehr, zu trinken.

Um aus unseren Schwächen zu lernen, müssen wir uns voll Glauben und Hoffnung dem Herrn zuwenden und erkennen, dass er uns in seiner Hand geborgen hält. Russell M. Nelson, Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel, hat diesen Rat gegeben: „Allen, die von Sorgen und Ängsten erfüllt sind, sage ich: Haben Sie Geduld mit sich. Die Vollkommenheit kommt nicht in diesem Leben, sondern im nächsten. Verlangen Sie sich nichts ab, wozu Sie nicht imstande sind, aber erwarten Sie von sich, dass Sie besser werden. Wenn Sie sich dabei vom Herrn helfen lassen, sorgt er für den Rest.“4

Entscheiden Sie sich jetzt, glücklich zu sein

Adjusting the sails on a boat

Während wir noch dabei sind, besser zu werden, können wir uns dafür entscheiden, Frieden zu haben und glücklich zu sein. Selbst in den finstersten Zeiten können wir unsere innere Einstellung wählen. Viktor Frankl, ein bekannter Psychiater und Holocaust-Überlebender, hat gesagt: „Alles kann man einem Menschen nehmen, außer seine letzte Freiheit: in jeder Situation seine Einstellung zu wählen!“5

Es heißt, dass „Menschen sind, damit sie Freude haben können“ (2 Nephi 2:25). Das bedeutet aber nicht, dass Gott unser Leben wie durch Zauberhand mit Glück erfüllt. Für die meisten von uns ist glücklich zu sein eine Entscheidung. Man muss sich dafür anstrengen und sich in Dankbarkeit, Vertrauen und Glauben üben. Das Negative kann unser ganzes Leben einnehmen, wenn wir es zulassen. Wir können nicht unbedingt unsere Lebensumstände ändern, aber wir können entscheiden, wie wir damit umgehen. Präsident Thomas S. Monson hat gesagt: „Wir bestimmen zwar nicht, wohin der Wind weht, aber wir können die Segel richtig setzen. Um größtmögliches Glück, Frieden und Zufriedenheit zu erreichen, sollten wir uns zu einer positiven Einstellung entschließen.“6

Wenn wir bewusst das Gute im Blick behalten, auf den Herrn und sein Sühnopfer vertrauen, unsere Unvollkommenheiten akzeptieren und daraus lernen, können wir unrealistische Erwartungen an uns selbst abbauen und nach allem Guten und nach Glück streben. Wir nehmen unsere Unvollkommenheiten in Frieden an und finden in der erlösenden Liebe Gottes Trost. Freude zieht in unser Herz ein, weil wir wissen, dass der Erlösungsplan uns zu unserem Vater im Himmel zurückführt, wenn wir uns, unvollkommen wie wir sind, nach besten Kräften bemühen, würdig zu sein, wieder bei ihm zu leben.

Anmerkungen

  1. Ezra Taft Benson, „Do Not Despair“, Ensign, Oktober 1986, Seite 4

  2. J. Devn Cornish, „Bin ich denn gut genug? Schaffe ich das überhaupt?“, Liahona, November 2016, Seite 33

  3. Bruce R. McConkie, „The Seven Deadly Heresies“, Andacht an der Brigham-Young-Universität, 1. Juni 1980, Seite 6f., speeches.byu.edu

  4. Russell M. Nelson, „Den Menschen wird das Herz aussetzen“, Video, www.lds.org

  5. Viktor E. Frankl, Man’s Search for Meaning, 1959, Seite 86

  6. Thomas S. Monson, „Das Leben in Fülle“, Liahona, Januar 2012, Seite 4