Ich bin nicht vollkommen – noch nicht
Die Verfasserin lebt in den Niederlanden.
Das Ankämpfen gegen meinen Perfektionismus hat mir geholfen, das Sühnopfer des Erretters besser zu verstehen
In 3 Nephi 12:48 sagt Jesus: „Darum möchte ich, dass ihr vollkommen seiet, so wie ich oder euer Vater, der im Himmel ist, vollkommen ist.“ Diese Schriftstelle hat mir immer sehr zugesetzt, weil ich mein ganzes Leben lang unter einem Hang zum Perfektionismus gelitten habe. So lobenswert es auch ist, immer sein Bestes geben zu wollen, ist Perfektionismus doch eigentlich schädlich. Wenn ich früher einen Fehler gemacht habe – oder sogar wenn ich erfolgreich war –, hatte ich immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein.
Ich habe zu viel von mir erwartet
Ich habe immer hohe Erwartungen an mich selbst gestellt, vor allem in der Oberschule. Meistens gelang es mir nicht, diesen Erwartungen gerecht zu werden, weil ich viel zu viel auf einmal schaffen wollte, um mir zu beweisen, dass ich gut genug war. Einmal beschloss ich, Gesellschaftstanz zu lernen, Musikunterricht zu nehmen und einem Orchester beizutreten – alles im selben Jahr! Ich war der Ansicht, ich müsse so viel wie nur irgend möglich tun, um meine Talente zu entwickeln und zu vervollkommnen. Doch dann erreichte ich einen Punkt, wo ich mit allem wieder aufhören musste, weil es mir einfach zu viel wurde. Ich war sehr streng mit mir. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben, und das war etwas, wovor ich große Angst hatte.
Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, die einen Hang zum Perfektionismus hat. Viele versuchen jeden Tag, ihr Bestes zu geben, und sind entmutigt, wenn sie nicht alles perfekt hinbekommen. Doch ganz gleich, wie sehr wir uns anstrengen – wir werden es nie schaffen, hier auf Erden ganz vollkommen zu werden. Wie können wir dann nach Vollkommenheit streben, wenn all unsere Bemühungen offenbar zum Scheitern verurteilt sind? Elder Jeffrey R. Holland vom Kollegium der Zwölf Apostel hat uns eine Antwort darauf gegeben: „‚Ihr sollt also vollkommen sein‘ – eines Tages.“1
Nach Vollkommenheit zu streben ist an sich gut, doch es ist schädlich, wenn wir davon geradezu besessen sind. In diesem Leben wird uns in körperlicher, psychischer, emotionaler und sogar geistiger Hinsicht viel abverlangt. Daher ist es wichtig, dass wir uns nicht völlig verausgaben – und das geschieht, wenn wir uns mit nichts weniger als der Vollkommenheit zufriedengeben. Vor allem aber müssen wir im Sinn behalten, was der Vater im Himmel von uns möchte. Er will nicht, dass wir uns völlig verausgaben, indem wir uns zu viel zumuten.
In Lehre und Bündnisse 10:4 sagt der Herr: „Laufe nicht schneller und verrichte nicht mehr Arbeit, als du Kraft hast und Mittel vorgesehen sind, die dir das Übersetzen ermöglichen; doch sei eifrig bis ans Ende.“ Diesen Rat können wir auf unser Leben beziehen. Der Vater im Himmel möchte, dass wir glücklich sind, und das werden wir auch, wenn wir das, was er uns aufträgt, so gut wir können ausführen. Selbst wenn das Ergebnis dann noch nicht ganz vollkommen ist.
Vollkommenheit bedeutet „Vollständigkeit“
Das Wort perfekt wird vom lateinischen perficere abgeleitet, welches aus den Bestandteilen per- („vollständig“) und facere („tun“) besteht. Perfekt zu sein bedeutet also, „vollständig“ zu sein. Und vollständig können wir nur durch Jesus Christus werden (siehe Moroni 10:30). Ich glaube, viele von uns haben oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Und offen gesagt stimmt das ja auch! Ohne Christus sind wir nicht gut genug. Das sagte auch Ammon: „Ich weiß, dass ich nichts bin; was meine Kraft betrifft, so bin ich schwach; darum will ich nicht mit mir selbst prahlen, sondern ich will mit meinem Gott prahlen, denn in seiner Kraft kann ich alles tun.“ (Alma 26:12.)
Mit Jesus Christus können wir immer danach streben, besser zu werden und eines Tages sogar perfekt und vollständig zu werden, denn er wird alles Unvollkommene an uns ausgleichen. „Ja, kommt zu Christus, und werdet in ihm vollkommen, und verzichtet auf alles, was ungöttlich ist, und wenn ihr auf alles verzichtet, was ungöttlich ist, und Gott mit all eurer Macht, ganzem Sinn und aller Kraft liebt, dann ist seine Gnade ausreichend für euch, damit ihr durch seine Gnade in Christus vollkommen seiet.“ (Moroni 10:32.)
Im Laufe der Jahre ist mir klargeworden, dass ich noch nicht richtig verstanden und begriffen hatte, was das Sühnopfer des Erretters wirklich für mich bedeutet. Ich dachte, ich müsse hier auf Erden fehlerfrei leben und es sei mir überlassen, herauszufinden, wie ich das wohl schaffen könnte. Jetzt weiß ich jedoch, dass wir nie auf uns selbst gestellt sind. Wenn wir versuchen, uns auf Jesus Christus zu konzentrieren und ihn in Herz und Sinn zu behalten, können aus unseren Schwächen Stärken werden. So hat sich auch mein Verhältnis zum Perfektionismus geändert. Ich weiß, dass ich nicht vollkommen bin. Doch Christus kann uns helfen, alle Schwächen, Sünden, Schwierigkeiten und Ängste zu überwinden. Er versteht uns und weiß, wie er uns beistehen kann. Ich hoffe, dass wir alle seine unendliche Liebe verspüren können. Und hoffentlich ist uns auch klar: Selbst wenn wir jetzt noch nicht perfekt sind, können wir es eines Tages werden, wenn wir ihm nachfolgen.