Ezra Booth und Isaac Morley
Für die Mitglieder in der Anfangszeit der Kirche begann der Sommer 1831 mit hohen Erwartungen. In der ersten Juniwoche fand eine wichtige Konferenz im Schulhaus auf Isaac Morleys Farm in der Nähe von Kirtland statt. Der Raum war überfüllt, und viele saßen draußen vor den geöffneten Fenstern und mühten sich, etwas zu hören. Der sanfte Sommerwind brachte den Duft von frisch geernteter Minze mit sich, die auf den nahegelegenen Feldern zuhauf angebaut worden war. Joseph Smith eröffnete die Konferenz mit einem Gebet.
Bei dieser Zusammenkunft wurden die ersten Ordinierungen zum „Hohen Priestertum“ vollzogen.1 Einige Älteste erlebten geistige Kundgebungen, unter anderem wurden böse Geister ausgetrieben. Dann, gegen Ende der viertägigen Konferenz, empfing Joseph Smith eine Offenbarung, die an die sehnlichsten Hoffnungen der Gläubigen anknüpfte.
Seit sie zum ersten Mal das Buch Mormon gelesen hatten, fragten sich die Gläubigen, wo und wann die Prophezeiungen des Buches wahr werden würden. Wann würden sich die Lamaniten, von denen man damals annahm, es seien die nordamerikanischen Indianer, bekehren und gemeinsam mit den Mitgliedern der Kirche das Neue Jerusalem in Amerika aufbauen? Die Mitglieder in der Anfangszeit der Kirche wussten, dass der Ort für diese Stadt „bei den Lamaniten“ sein sollte.2 Sie hatten sogar Oliver Cowdery und drei weitere Missionare in das westliche Grenzgebiet der Vereinigten Staaten gesandt, um den Indianern in der Nähe von Missouri zu predigen.
In dieser neuen Offenbarung erklärte der Herr, dass Missouri tatsächlich das Land war, „das ich meinem Volk … weihen werde“. Er verhieß bezüglich des Neuen Jerusalems, er „werde die Stadt zu ihrer Zeit beschleunigen“. In der Offenbarung wurden außerdem Joseph Smith, Sidney Rigdon und 13 weitere Missionarspaare berufen, jeweils zu zweit nach Missouri zu reisen, wo die nächste Konferenz stattfinden sollte. Weiter wurde ihnen gesagt, insofern sie treu seien, werde der Herr ihnen „das Land [ihres] Erbteils“ kundtun.3
Die Missionare brachen mit hohen Erwartungen nach Missouri auf. Sie glaubten, dass Jesus sehr bald auf die Erde zurückkehren werde und dass sie auf dem Weg waren, einen Ort zu finden und dort eine Tempelstadt zu bauen, in der sie sich sammeln würden, um den Herrn bei seiner Ankunft zu empfangen. Gerüchte breiteten sich aus, dass Oliver Cowdery und seine Missionarsgefährten kurz davor stünden, viele Indianer zu bekehren.4 Die Missionare erwarteten, dass in Missouri „aus Glauben und Hoffnung Gewissheit und Erfüllung hervorgehen würden“.5
Die Reise nach Missouri
Isaac Morley und Ezra Booth gehörten zu den berufenen Missionaren. Sie waren beide bei der Konferenz dabei gewesen und ordiniert worden, und sie waren einander als Mitarbeiter zugeteilt worden.
Isaac Morley hatte zu den ersten Bekehrten in Ohio gehört, die sich der Kirche angeschlossen hatten. Zur Zeit seiner Bekehrung lebten Morley, seine Frau Lucy, seine Familie und einige Freunde auf seiner Farm in einer Gemeinschaft. Sie versuchten nach besten Kräften, so zu leben, wie es in der Apostelgeschichte von den ersten Christen berichtet wird, „sie hatten alles gemeinsam“ (Apostelgeschichte 4:32).
Ezra Booth war im Nordosten Ohios ein angesehener Methodistenprediger gewesen.6 Seine Bekehrung hatte für einige Aufregung unter seinen Freunden und Bekannten gesorgt, die es beklagten, dass er sich den „Mormoniten“7 anschloss. Booth hatte die starke Eingebung verspürt, dass er sich dem neuen Glauben anschließen solle. „Ich hatte tiefe, machtvolle Eindrücke empfangen“, erzählte er, „und meine Gefühle waren in einem Maße erregt, wie ich es bis dahin noch nicht erlebt hatte.“8
Aber bis er sich im Juni 1831 auf den Weg machte, hatte er bereits angefangen, zu zweifeln. Die bei der Konferenz erlebten geistigen Kundgebungen entsprachen nicht seinen Erwartungen, und er war verärgert, dass Joseph Smith und Sidney Rigdon in einem Wagen nach Missouri aufgebrochen waren, während er und Isaac Morley berufen waren, den gesamten Weg in der Sommerhitze zu Fuß zurückzulegen und unterwegs zu predigen.
Die Reise war auch für andere nicht gerade angenehm. Joseph Smith brach nur wenige Wochen, nachdem er und Emma ihre Zwillinge kurz nach der Geburt verloren hatten, auf. Er ließ seine trauernde Frau zurück, die sich nun um sich selbst und um die kürzlich adoptierten Murdock-Zwillinge kümmern musste (deren Mutter Ende April gestorben war und deren Vater John ebenfalls auf dem Weg nach Missouri war).
Als Ezra Booth endlich in Missouri ankam, war er ernüchtert. Er und andere hatten „erwartet, ein Land vorzufinden, in dem es alle notwendigen und angenehmen Dinge des Lebens in Hülle und Fülle gibt“. Stattdessen sah er sich um und konstatierte, dass „die Aussichten recht düster schienen“.9 Booth erinnerte sich, dass Joseph Smith vor der Abreise zuversichtlich behauptet hatte, die Kirche in Missouri sei groß und gedeihe, aber bei ihrer Ankunft fanden sie nur sieben neue Mitglieder vor.
Joseph Smith war anfangs womöglich selbst enttäuscht, als er in Missouri ankam. Die Umgebung von Independence bestand hauptsächlich aus offener Prärie mit ein paar Bäumen hie und da. Weit entfernt von inspirierenden Vorstellungen von einer Hauptstadt des Millenniums hinkte dieser Grenzort der damaligen Zeit „hundert Jahre hinterher“.10 Für die meisten Ältesten war die Realität, die sie in Missouri vorfanden, eine Enttäuschung. Aber jeder ging mit dieser Enttäuschung anders um.
Ein Gebet um Führung
War dies wirklich der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort für den Versuch, Zion aufzubauen? Joseph wandte sich am 20. Juli im Gebet an Gott, denn er wollte unbedingt dessen Zeitplan und Absichten verstehen. Er fragte: „Wann wird die Wildnis blühen wie die Rose? Wann wird Zion in seiner Herrlichkeit erbaut werden, und wo soll dein Tempel stehen?“11 Auf diese Frage folgte eine Offenbarung – heute Lehre und Bündnisse 57 –, in der endlich der Ort für die Stadt und den Tempel bestimmt wurde.
Eine weitere Offenbarung am 1. August (Lehre und Bündnisse 58) enthielt Anweisungen für die Missionare, das Land zu weihen, aber auch die Andeutung, dass Zion erst „nach viel Drangsal“ erbaut werden würde. In dieser Offenbarung wurden auch diejenigen zurechtgewiesen, die sich wie Ezra Booth murrend beklagt hatten. „Dann sprechen sie in ihrem Herzen: Dies ist nicht das Werk des Herrn, denn seine Verheißungen gehen nicht in Erfüllung.“ Sie wurden aber gewarnt: „Ihr Lohn lauert unten und nicht von oben.“12
Trotz der Enttäuschung und der ungeheuren Aufgabe, diese Stadt zu bauen, war Joseph fest entschlossen, einen Anfang zu machen. Gemeinsam mit Sidney Rigdon und anderen ging er an die Arbeit. Sie weihten das Land in der Nähe von Independence als einen Sammelplatz, legten den ersten Baumstamm für ein Haus in Zion und den nordöstlichen Eckstein für einen Tempel.
Manche der Ältesten, wie Reynolds Cahoon, betrachteten diese symbolträchtigen Anfänge voll gespannter Erwartung. „Dort erblickten meine Augen Großes und Wunderbares“, schrieb er, „wie es meine Augen niemals auch nur erahnt hätten, jemals in dieser Welt so etwas zu sehen.“13 Aber Ezra Booth war von diesem kläglichen Anfang nicht beeindruckt. Es war „sehenswert“, sagte er, „aber nicht wert, deshalb nach Missouri zu gehen“.14
Die Rückkehr nach Ohio
Zwar waren einige Missionare ausgewählt worden, in Missouri zu bleiben, aber den übrigen Missionaren wurde in der Offenbarung vom 1. August geboten, nach Hause zurückzukehren, mit der Ankündigung: „Die Zeit ist noch nicht gekommen, viele Jahre lang, dass sie ihr Erbteil in diesem Land empfangen.“15
Durch eine andere Offenbarung, heute Lehre und Bündnisse 60, erfolgte die Anweisung, dass die heimkehrenden Missionare auf dem Missouri östlich nach St. Louis reisen sollten.16 Von dort aus sollten Joseph Smith und Sidney Rigdon schnell nach Cincinnati in Ohio reisen, um dort zu predigen, während die anderen jeweils „zwei und zwei“ reisen „und in den Zusammenkünften der Schlechten ohne Hast das Wort predigen“ sollten.17
Am 8. August fuhren sie in Kanus nach St. Louis ab. Der Missouri war bekanntermaßen sehr schwer zu befahren. Den Kapitänen der Dampfboote graute es vor den sogenannten „Sawyers“, den umgestürzten Baumstämmen, die versteckt im Wasser lagen und die Schiffe häufig schwer beschädigten. Die Ältesten berichteten Elizabeth Marsh später, dass die aufgewühlte Strömung des Flusses „so wütend“ aussah, „als sei sie verflucht worden“.18
Unter den Ältesten gab es viel Zank auf dieser Reise. Die Erschöpfung, die Hitze und der tückische Missouri führten dazu, dass die Nerven blank lagen. Am dritten Tag auf dem Wasser gerieten einige der Kanus zu nahe an die im Wasser liegenden Baumstämme, wodurch sie fast kenterten. Das war lebensgefährlich für diejenigen, die nicht schwimmen konnten.
Nachdem sie es sicher ans Ufer geschafft hatten, zankten sie weiter. Obwohl er selbst durchaus zum Streiten aufgelegt war, duldete Ezra Booth es bei anderen nicht. Er bemerkte später sarkastisch: „Das sind die Führer der Kirche, und die einzige Kirche auf der Erde, die des Herrn Billigung genießt.“19
Am nächsten Morgen empfing Joseph Smith eine weitere Offenbarung am Ufer des Flusses (Lehre und Bündnisse 61), in der sie vor Gefahren auf dem Wasser gewarnt wurden. Der Herr sagte jedoch: „Es macht mir nichts aus, … ob sie zu Wasser oder zu Lande reisen.“20
Joseph zog am nächsten Tag mit einem Teil der Gruppe über Land weiter. Dabei trafen sie auf seinen Bruder Hyrum und andere, die aufgehalten worden waren und es noch nicht bis zum für Zion vorgesehenen Ort geschafft hatten. Eine Offenbarung (Lehre und Bündnisse 62) ermahnte sie: „Setzt eure Reise fort. Sammelt euch im Land Zion, und haltet eine Versammlung und freut euch miteinander; und bringt dem Allerhöchsten eine heilige Handlung dar.“21
Ezra Booth beschloss jedoch, so schnell wie möglich zurückzureisen, statt auf dem Weg zu predigen, wie es in der früheren Offenbarung geboten worden war. Er und einige Gefährten legten den Rest des Weges nach Ohio mit dem Boot und der Kutsche zurück.
„Macht eure Feinde zuschanden“
Kurz nach seiner Rückkehr nach Ohio wandte sich Ezra Booth in aller Öffentlichkeit von der Kirche ab. Weil das Erlebte nicht seinen Erwartungen entsprochen hatte, wie Zion auszusehen hatte oder wie sich Joseph Smith verhalten sollte, geriet sein Glaube erst ins Wanken, und dann schwor er ihm gänzlich ab. Ab Oktober jenen Jahres druckte der Ohio Star, eine Zeitung aus Ravenna in Ohio, eine Reihe von Briefen ab, die Booth verfasst hatte. Darin kritisierte er Joseph Smith und die Kirche heftig.
Im Dezember hatten diese Briefe bereits negative Auswirkungen auf die Missionsarbeit, und Joseph Smith empfing im Dezember 1831 und im Januar 1832 zwei Offenbarungen, die heute Lehre und Bündnisse 71 und 73 bilden. In ihnen werden Booth und andere Abtrünnige wie Symonds Ryder aufgefordert: „Lasst sie ihre starken Gründe gegen den Herrn vorbringen.“ Außerdem wurden Joseph Smith und Sidney Rigdon angespornt, aktiv zu predigen: „Macht eure Feinde zuschanden; ruft sie auf, euch sowohl öffentlich als auch allein gegenüberzutreten.“22
Als Sydney Rigdon Booth und Ryder zu einer öffentlichen Debatte aufforderte, lehnten sie ab, vermutlich wegen Rigdons Ruf als leidenschaftlicher Redner. Rigdon predigte in Ravenna und anderen Orten und wies Booths Behauptungen zurück. Obwohl Booths Briefe die Missionsarbeit behinderten, war dieser Effekt nur von kurzer Dauer.
Tragischerweise hatte Booths Zynismus nicht nur einen Keil zwischen ihn und die wiederhergestellte Kirche getrieben, sondern auch zwischen ihn und seine früheren geistigen Erfahrungen. Schlussendlich „gab [er] das Christentum gänzlich auf und wurde Agnostiker“.23
Isaac Morleys Prüfung
Während die Erfahrungen auf dem Weg nach Missouri Ezra Booth von der Kirche wegbrachten, führten sie bei Isaac Morley dazu, ihr letztendlich näherzukommen. Während der Reise war Morley wie Ezra Booth zum Teil recht zynisch gewesen. In einer Offenbarung vom 11. September (Lehre und Bündnisse 64) werden Booth und Morley zurechtgewiesen: „Sie haben das, worin nichts Böses war, als böse verurteilt.“ Aber alle Zweifel, die Morley bezüglich seiner Mission gehabt haben mag, waren nur von kurzer Dauer. Anders als Ezra Booth legte Isaac Morley seine Kritik ab und änderte seine Einstellung. In der Offenbarung spricht der Herr weiter: „[Ich] habe meinem Knecht Isaac Morley vergeben.“24
Aber der Herr hatte noch weitere Opfer für Isaac Morley im Sinn. Ihm wurde geboten, seine Ländereien in Kirtland aufzugeben und mit seiner Familie nach Missouri zurückzukehren. Kurz nach der Rückkehr von Joseph Smith nach Kirtland wies der Herr in einer Offenbarung (Lehre und Bündnisse 63) Morleys Schwager Titus Billings an, Morleys Farm zu veräußern.25 In der am 11. September gegebenen Offenbarung erklärt der Herr, er habe den Verkauf der Farm geboten, „damit mein Knecht Isaac Morley nicht über das hinaus versucht werde, was er ertragen kann“.26
Isaac und Lucy Morley erbrachten das Opfer bereitwillig. Im Oktober 1831 verkaufte Titus Billings einen Großteil von Morleys Farm. Morley brachte seine Familie gemäß dem Gebot Gottes zurück nach Independence und machte sich wieder an die Arbeit, die Grundlage für die Tempelstadt zu legen. Seine Zweifel hatte er überwunden, und er wurde später Bischof und Patriarch. Er verstarb 1865 in Utah.27