John Whitmers Buch
John Whitmer wurde 1802 in Pennsylvania geboren. Später zog seine Familie nach New York und ließ sich schließlich „mit anderen deutschen Familien bei Fayette“ nieder, einer spärlich besiedelten Kleinstadt knapp 50 Kilometer südöstlich von Palmyra.1 Da seine Familie mit Oliver Cowdery befreundet war, erfuhr John Whitmer von Joseph Smith und dass dieser gerade einen alten Bericht heiliger Schrift übersetzte – das Buch Mormon.2
Das Interesse der Whitmers an Josephs Arbeit war letztlich so groß, dass Johns Bruder David im Juni 1829 den jungen Propheten in Harmony in Pennsylvania aufsuchte und ihm eine „unentgeltliche Unterkunft“ im Haus der Whitmers anbot. David bot ihm auch „die Hilfe eines seiner Brüder“, nämlich John, als Schreiber an. Joseph nahm das Angebot an und wohnte bei den Whitmers, „bis die Übersetzung fertig“ war. Wie versprochen, half John „während der restlichen Arbeit sehr viel beim Schreiben“.3
Schon bald nach Josephs Ankunft in Fayette ließ sich der 26-jährige John Whitmer im Seneca Lake taufen. Er wurde einer der acht Zeugen, die die Platten des Buches Mormon sahen. Später erklärte er: „Ich habe diese Platten in Händen gehalten; auf beiden Seiten befanden sich feine Gravierungen.“4
Als am 6. April 1830 im Haus der Whitmers die Kirche gegründet wurde, wies der Herr den Propheten Joseph Smith an: „Ein Bericht soll unter euch geführt werden.“5 (Siehe LuB 21:1.) Um diesem Gebot Genüge zu tun, wurde Oliver Cowdery zum ersten Geschichtsschreiber der Kirche ernannt.6
Einen bedeutenden Teil dieses Geschichtsberichts stellten die Offenbarungen Joseph Smiths dar. John Whitmer schrieb, in der Anfangszeit der Kirche habe „der Herr seine Jünger sehr gesegnet und Offenbarung um Offenbarung erteilt, die Lehren, Anweisungen und Prophezeiungen“ enthielten.7 Im Juli 1830 begann der Prophet, „die Offenbarungen, die er bis dahin erhalten hatte, zusammenzustellen und eine Abschrift davon anzufertigen“, wobei ihm Whitmer als Schreiber diente.8
Whitmer als Geschichtsschreiber und Berichtführer
Im Herbst 1830 begab sich Oliver Cowdery auf Mission zu den Lamaniten. An seiner Stelle wurde John Whitmer „durch die Stimme der Ältesten [dazu berufen], den Geschichtsbericht der Kirche zu führen“, schrieb Whitmer. „Joseph Smith Jr. sagte zu mir: ‚Du musst auch den Geschichtsbericht der Kirche führen.‘“9
Whitmer fühlte sich zwar seiner Rolle gewachsen, die Offenbarungen, die Joseph Smith empfing, niederzuschreiben, er scheute jedoch davor zurück, die für ihn ungewohnte Rolle des Geschichtsschreibers zu übernehmen. Er erklärte Joseph: „Ich möchte das lieber nicht machen.“ Und doch erklärte er sich bereit, die Berufung anzunehmen, wenn es denn der Wille des Herrn sei. In diesem Falle, so „wünschte [er], solle es durch Joseph, den Seher, kundgetan werden“.10
In der daraufhin erfolgten Offenbarung vom 8. März 1831, die heute in Lehre und Bündnisse 47 steht, bestätigte der Herr Whitmers doppelte Berufung „eine ordnungsgemäße Geschichte [zu schreiben] und [zu führen] und [s]einem Knecht Joseph, behilflich [zu sein], alles niederzuschreiben, was ihm gegeben wird“.11 (Siehe LuB 47:1.) Weil sich Whitmer nicht sicher war, ob sein Geschick im Schreiben ausreichend sei, verhieß ihm der Herr: „Es soll dir durch den Tröster gegeben werden, dies alles niederzuschreiben.“12 (Siehe LuB 47:4.) Drei Monate später begann Whitmer mit seinem Geschichtsbericht „The Book of John Whitmer“ [John Whitmers Buch].13
Einige Monate später unternahmen die Führer der Kirche Schritte zur Veröffentlichung der Offenbarungen, die Joseph Smith bereits erhalten hatte; auch ein Gesangbuch, eine kircheneigene Zeitung und weitere Publikationen sollten herausgegeben werden.14 In einer Offenbarung vom November 1831 (Lehre und Bündnisse 69) wurden Oliver Cowdery und John Whitmer angewiesen, das Manuskript mit den Offenbarungen zum Druck nach Independence in Missouri zu bringen, wo William W. Phelps eine Druckerpresse aufgebaut hatte.15 In der Offenbarung wurde auch die Anweisung gegeben, dass die Missionare, „die sich irgendwo im Ausland befinden, die Berichte über ihre Treuhandschaft nach dem Land Zion hinsenden“ sollten. Außerdem wurden darin Whitmers Aufgaben als Geschichtsschreiber der Kirche ausgeweitet und ihm wurde gesagt, er solle „viele Male von Ort zu Ort reisen und von Kirche zu Kirche, damit er sich dadurch leichter Kenntnis verschaffe; er solle predigen und erläutern, schreiben, abschreiben, auswählen und alles erlangen, was zum Nutzen der Kirche und der heranwachsenden Generationen ist, die im Land Zion aufwachsen“.16 (Siehe LuB 69:5-8.)
Im Juli 1832 legte Joseph Smith Bruder Whitmer ans Herz, „an das Gebot [zu] denken, die Geschichte der Kirche und der Sammlung aufzuschreiben“.17 Später in jenem Jahr empfing der Prophet eine weitere Offenbarung, wodurch John Whitmers Geschichtsschreibung noch umfassend gestaltet wurde: „Es ist die Pflicht des Schriftführers des Herrn, der von ihm bestimmt worden ist, die Geschichte und die allgemeinen Aufzeichnungen der Kirche zu führen über alles, was in Zion vorgeht, und … auch ihren Lebenswandel, ihren Glauben und ihre Werke; und auch über die Abtrünnigen.“18 (Siehe LuB 85:1,2.)
So führte Whitmer seinen Bericht über die Anfangstage der Kirche, solange er Mitglied war, also bis zum Jahr 1838. Laut einer Gruppe von Historikern „erhellt [der Geschichtsbericht, den John Whitmer verfasste,] viele wichtige Belange aus der Anfangszeit der Kirche, darunter Fragen in Bezug auf Grundbesitz, Disziplinarverfahren“, das Neue Jerusalem, „den Umgang mit Abtrünnigen und die Gründung einer Führungsriege im Priestertum. … Whitmers Arbeit ist vor allem im Hinblick auf die Offenbarungen, Anträge oder Bittschriften und die Briefe, die einen großen Teil seiner Chronik ausmachen, von Bedeutung“.19
Was wurde aus John Whitmer und seinem Geschichtsbericht?
Im Jahr 1834 ernannte Joseph Smith eine Präsidentschaft der Kirche in Missouri; John Whitmer und William W. Phelps waren die Ratgeber von David Whitmer. John Whitmer und Bruder Phelps wurden später des finanziellen Fehlverhaltens in Verbindung mit ihren Ämtern angeklagt und später (im März 1838) aus der Kirche ausgeschlossen.
Whitmer hielt in seinem Geschichtsbericht fest:
„Einige weltliche Geschäfte sind nicht zu jedermanns Befriedigung ausgefallen und haben zum Ausschluss vieler Mitglieder geführt, darunter sind auch W. W. Phelps und ich selbst.
Daher schließe ich den Geschichtsbericht der Kirche der Heiligen der Letzten Tage in der Hoffnung, dass mir meine Fehler vergeben werden und meine Sünden ausgelöscht werden und dass ich, ungeachtet meiner gegenwärtigen Lage, am letzten Tag im Reich Gottes errettet werde.“20
Joseph Smith kam wenige Tage nach den Ausschlüssen aus der Kirche nach Far West. Der neu berufene Schriftführer bat Whitmer um den Geschichtsbericht, doch dieser weigerte sich, ihm das Dokument auszuhändigen.21 Er verließ Far West vorübergehend während der für die Mormonen so schwierigen Jahre 1838 und 1839, kehrte aber in der Folge wieder dorthin zurück und wohnte bis an sein Lebensende dort.22
Nach John Whitmers Tod im Jahre 1878 ging der Geschichtsbericht in die Hände seines Bruders David über23, und 1903 erhielt die Reorganisierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage den Bericht von einem Nachfahren David Whitmers. Im Jahr 1974 erlangte die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage schließlich von der Reorganisierten Kirche Jesu Christi im Rahmen eines Austausches von historischen Unterlagen eine Kopie des Manuskripts auf Mikrofilm.24 2012 wurde der Geschichtsbericht John Whitmers im Rahmen des Projekts „Die Joseph-Smith-Papiere“ veröffentlicht.25