Mercy Thompson und die Offenbarung über die Ehe
Robert Thompson stand in der Blüte seines Lebens, als er im Herbst 1841 unerwartet verstarb. Er fiel der Malaria zum Opfer, die so viele Heilige der Letzten Tage in den mit Moskitos verseuchten Sümpfen am Ufer des Mississippi dahinraffte. Vor Thompson, der Privatsekretär von Joseph Smith und Mitherausgeber der Kirchenzeitung Times and Seasons gewesen war, schien eine strahlende Zukunft zu liegen. An einem Tag war er noch gesund. Zehn Tage später, im Alter von nur 30 Jahren, schied er dahin. Seine Frau und seine dreijährige Tochter blieben allein zurück.
Es war nicht schwer, Thompson gern zu haben. Freunde beschrieben ihn als „liebevollen Ehemann, zärtlichen Vater und treuen und gläubigen Freund“.1 Seine Frau Mercy bewunderte seine Tapferkeit bis zum Schluss. „Er ertrug sein Leiden sehr geduldig. Kein Wort der Klage kam über seine Lippen.“ Sie erzählte, dass er während seiner letzten Augenblicke bezeugte, „er sei nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt, sondern aus dem Schmutz erhöht worden, um einen Sitz bei den Edlen zu haben“.2
Der vorzeitige Tod eines Familienmitglieds kommt in der Geschichte der Menschheit nur allzu häufig vor. Früher starb eine Frau oft bei der Entbindung, sodass ihre Kleinen ohne das sanfte Streicheln der Mutterhand aufwachsen mussten. Erst im 20. Jahrhundert war es in den Industrieländern nicht mehr an der Tagesordnung, dass eine Familie einen Säugling oder ein Kleinkind durch Unfall oder Krankheit verlor. Seit Anbeginn der Zeit lauert der Tod als Mahnmal – sowohl für die Zerbrechlichkeit des Lebens als auch für unsere Sehnsucht nach einem Weiterleben.
In Hinblick auf eine vom Tod geprägte Kultur, aber auch, um dieser etwas entgegenzusetzen, wird in einer von Joseph Smith empfangenen Offenbarung verheißen, dass die Beziehungen, die uns am teuersten sind, im nächsten Leben fortbestehen können. Mutter und Vater, Ehefrau und Ehemann, Eltern und Kinder können wieder vereint werden, unsere Verbundenheit und Freundschaft in Ewigkeit bestehen. Diese bemerkenswerten Verheißungen sind heute in der Offenbarung zu finden, die Abschnitt 132 des Buches Lehre und Bündnisse umfasst.
Himmel und Erde
Während der zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit haben hauptsächlich zwei Meinungen über das, was der Himmel sein soll, vorgeherrscht.3 Der verbreitetsten Meinung nach gibt es im Himmel einzeln lebende, ledige Engel, die Gott in vollkommener Einigkeit huldigen und ihn preisen. Diese Ansicht zieht eine klare Trennlinie zwischen dieser Welt und dem Jenseits. Die Vertreter dieser Ansicht meinen, im Leben nach dem Tod komme es vor allem auf den Intellekt an. Dort gehe es darum, über Gott und seine Erhabenheit nachzudenken, nicht aber um zwischenmenschliche Beziehungen. Irdische Bindungen seien zeitlich begrenzt und somit dazu bestimmt, mit dem Tod zu enden.4
Bei der anderen häufigen Vorstellung vom Himmel wird das Zusammensein mit Freunden und der Familie im Jenseits unterstrichen. Auch hier spielt die Gottesverehrung eine wichtige Rolle, jedoch meint man, das Zusammenleben mit geliebten Menschen sei unerlässlich für das ewige Glück. Die physische und die ewige Welt überschneiden sich, und das einfache Leben wird zu einem Teil von Gottes heiligem Werk. Die Vorstellung von einem Himmel, in dem man mit anderen gemeinschaftlich lebt, gewann im 19. Jahrhundert an Popularität. Die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Stuart Phelps verstand, welch großen Anreiz diese Ansicht für eine Generation in sich barg, in der viele ihre Angehörigen im Amerikanischen Bürgerkrieg vorzeitig verloren hatten. Phelps fragt in ihrem Roman The Gates Ajar: „Würde Gott es zulassen, dass zwei Seelen hier so zusammenwachsen, dass ihnen auch nur ein Tag der Trennung schmerzlich erscheint, um sie dann für alle Ewigkeit auseinanderzureißen?“5
Joseph Smiths Offenbarung über die Ehe, niedergeschrieben im Juli 1843, sollte die gefühlsbetonte, viktorianische Weltanschauung, wie Phelps sie beschrieb, keineswegs widerspiegeln. Aber sie bestätigte, dass zwischenmenschliche Beziehungen bestehen bleiben – allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. Alle familiären Bindungen sind dazu bestimmt, mit dem Tod zu enden, wenn sie nicht im Antlitz der Ewigkeit und von jemandem vollzogen werden, der die Vollmacht des Priestertums innehat, auf Erden wie im Himmel zu siegeln. Im Abschnitt 132 heißt es, eine Ehe, die nach unserem Tod Bestand hat, wird „für die Zeit als auch für alle Ewigkeit … eingegangen und vom Heiligen Geist der Verheißung gesiegelt … – durch den, der gesalbt ist –, … den ich dazu bestimmt habe, auf Erden diese Macht innezuhaben“. Diejenigen, die vor der Auferstehung der Toten solch ein Bündnis nicht eingehen, werden „zu Engeln im Himmel bestimmt“, die „gesondert und ledig“ bleiben.6
Mercy und Robert
Mercy Rachel Fielding wurde 1807 geboren. Ihre Eltern waren fromme Methodisten, die knapp 100 Kilometer nördlich von London in einem kleinen Dorf gepachtetes Land bewirtschafteten. Als Mercy 24 Jahre alt war, wanderte sie mit ihrem älteren Bruder Joseph nach York in Kanada aus (das heutige Toronto). Bald danach gesellte sich auch ihre Schwester Mary hinzu. Die drei Geschwister besuchten Versammlungen einer Gruppe von methodistischen Suchenden, die glaubten, dass alle ihnen bekannten Kirchen vom Weg abgekommen waren. Als ein Missionar der Kirche – Parley P. Pratt – im Frühjahr 1836 nach York kam, fanden die Fieldings Antworten auf ihre Fragen. Mercy, Mary und Joseph wurden in einem Bach in der Umgebung getauft. Im darauffolgenden Frühjahr zogen sie nach Kirtland in Ohio um, dem Hauptsitz der Kirche.7
Mercy hatte in Kanada Robert Blashel Thompson kennengelernt, dessen Weg dem ihren in vielerlei Hinsicht ähnelte. Er wurde 1811 in Yorkshire in England geboren und hatte sich als junger Mann einer Gruppe Andersdenkender angeschlossen, die sich die „Primitive Methodists“ (Ursprüngliche Methodisten) nannten und nach der Wiederkehr geistiger Gaben Ausschau hielten. Er zog 1834 nach Kanada, hörte die Botschaft von Parley P. Pratt und ließ sich im gleichen Monat taufen wie die Fieldings. Robert Thompson und Mercy Fielding waren Seelenverwandte. Bald nach ihrer Ankunft in Kirtland heirateten sie im Juni 1837.8
Nach der Hochzeit lebte Mercys Schwester Mary bei Verwandten von Joseph und Hyrum Smith. Auf diese Weise wurde sie mit den beiden Brüdern besser bekannt und lernte sie schnell schätzen. Als Hyrums Frau Jerusha im Herbst 1837 nach einer schweren Entbindung starb und ihn mit fünf Kindern, alle jünger als zehn Jahre, zurückließ, fühlte Mary sich ihm sehr zugetan. Joseph befragte den Herrn, was Hyrum tun solle. Die Antwort lautete, dass dieser Mary Fielding unverzüglich heiraten solle. Mary vertraute auf Josephs Inspiration und heiratete Hyrum am Weihnachtsabend 1837.9
Danach verknüpfte sich Mercys und Roberts Leben eng mit dem von Mary und Hyrum. Hyrum führte die Thompsons auf dem 1600 Kilometer weiten Weg von Ohio nach Missouri, wohin die Heiligen 1838 übersiedelten. Als Hyrum und Joseph später im Gefängnis zu Liberty eingekerkert waren, besuchten Mercy und Mary an einem kalten Abend im Februar die Gefangenen und brachten Hyrums neugeborenen Sohn, den kleinen Joseph F., mit, der später Prophet wurde. Da Mercy selbst auch gerade Mutter geworden und Mary zu krank dafür war, stillte sie den kleinen Jungen. Mercy und Robert versorgten Marys und Hyrums Kinder, während Hyrum im Gefängnis war. In Nauvoo bauten die beiden Familien ihre Häuser nebeneinander.10
Die Smiths und die Thompsons wuchsen nach Roberts Tod noch enger zusammen. Eines Nachts im Frühjahr 1843 übernachtete Mercy bei Mary. Sie leistete ihrer Schwester Gesellschaft, während Hyrum geschäftlich von Nauvoo aus unterwegs war. Mercy träumte, sie stünde mit Robert in einem Garten. Sie hörte, wie jemand ihr Ehegelübde wiederholte, konnte aber nicht ausmachen, wessen Stimme es war. Als jemand, der darauf eingestellt war, dass Gott auf verschiedene Art und Weise zu den Menschen spricht, verstand Mercy den Traum als göttliche Botschaft. „Ich erwachte morgens und war tief beeindruckt von diesem Traum, den ich nicht deuten konnte.“11
Später an jenem Abend kehrte Hyrum nach Hause zurück und erzählte, er habe einen „sehr bemerkenswerten Traum“ gehabt, während er unterwegs gewesen war. Er hatte seine verstorbene Frau Jerusha und zwei ihrer Kinder gesehen, die früh verstorben waren.12 Hyrum war die Bedeutung seines Traums ebenso wenig klar wie Mercy die ihres Traums. Der gleiche Zeitpunkt ihrer Träume war jedoch verblüffend. Als Hyrum nach Hause kam, fand er eine Nachricht von seinem Bruder Joseph vor, der ihn bat, zu ihm zu kommen. Hyrum erfuhr zu seinem Erstaunen, berichtete Mercy, dass Joseph eine Offenbarung empfangen hatte, die besagte, dass „Eheversprechen, die nur für die Zeit geschlossen wurden, auch nur für die Zeit gültig seien und nicht danach, wenn nicht ein neues Versprechen für alle Ewigkeit abgelegt würde“.13 Diese Offenbarung sollte später aufgeschrieben und offiziell der 132. Abschnitt im Buch Lehre und Bündnisse werden.14
Robert Thompson war tot, genauso wie Jerusha Smith. Wie konnte ein neues Eheversprechen gegeben werden, wenn nur noch ein Ehepartner am Leben war? Joseph Smiths Antwort war, dass eine lebende Person dies stellvertretend für eine verstorbene Person tun könne. Seit dem Herbst 1840 hatten die Heiligen stellvertretende Taufen für Vorfahren vollzogen, die gestorben waren, bevor sie vom wiederhergestellten Evangelium gehört hatten. Nun sollte das gleiche Prinzip auf die Eheschließung ausgeweitet werden. Ehemann und Ehefrau konnten aneinander „gesiegelt“ werden und wären dann im Himmel genauso verbunden wie auf der Erde.15 Eine Ehe, die einst auf Zeit geschlossen worden war, nämlich „bis dass der Tod euch scheidet“, konnte nun erneut „für die Zeit als auch für alle Ewigkeit“ eingegangen werden – gesiegelt durch die Priestertumsvollmacht. Auf diese Weise konnte eine Ehe für alle Ewigkeit Bestand haben.16
Diese Aussicht fesselte Mercy. Ohne Frage wollte sie sich, wenn sie die Möglichkeit dazu bekäme, dafür entscheiden, die Ewigkeit mit Robert zu verbringen. Sie vermisste ihn und wollte ihm nahe sein. Er war jemand, der sie dazu beflügelte, der Mensch zu werden, der zu sein sie sich am meisten wünschte, nämlich eine Jüngerin des Herrn Jesu Christi. „Wenn man ihn mit anderen verglich, konnte er in Sanftmut, Demut und Lauterkeit kaum übertroffen werden“, sagte sie über Robert.17
An einem Montagmorgen Ende Mai 1843 kamen Mercy Thompson und ihre Schwester Mary mit Hyrum und Joseph Smith in einem Zimmer im Obergeschoss von Josephs Haus zusammen. Joseph traute Mercy und Robert für Zeit und Ewigkeit; Hyrum amtierte als Stellvertreter für Robert.18 Nach dieser Zeremonie traute Joseph Hyrum und Mary für Zeit und Ewigkeit. Mercys Jubel kannte keine Grenzen. „Manche denken vielleicht, ich müsse Königin Victoria eigentlich um einen Teil ihres Ruhms beneiden“, sagte sie. „Doch nicht, solange mein Name ganz oben auf der Liste der Frauen steht, die in dieser Evangeliumszeit durch göttliche Offenbarung an ihren verstorbenen Ehemann gesiegelt wurden.“19
Mehrehe
Die Siegelung Mercy Thompsons an ihren verstorbenen Ehemann bot ihr inmitten von Einsamkeit und Ungewissheit großen Trost. Die Verheißungen erstreckten sich jedoch auf eine ferne Zukunft, auf eine unbestimmte Zeit, wann die Thompsons wieder vereint sein würden. Bis dahin ging Mercys Leben erst einmal weiter und sie hatte ein Kind zu versorgen. Wer würde für sie sorgen? Zu Mercys Zeit gab es nur wenig berufliche Tätigkeiten, denen Frauen nachgehen konnten. Nach Roberts Tod tat sie das, was viele Witwen im Laufe der Jahrhunderte getan hatten: Sie vermietete Zimmer an Kostgänger. „Unsere Bedürfnisse wurden durch Fleiß und den Segen des Herrn gestillt“, berichtete sie.20
Dennoch „war es ein einsames Leben“, und „der Gesellschaft eines solchen Ehemanns beraubt zu sein, verursachte so tiefe Trauer, dass meine Gesundheit stark beeinträchtigt wurde“. Gemäß dem Glauben der Heiligen der Letzten Tage gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen Himmel und Erde, und den Engeln ist aufgetragen, die Last der Trauernden zu lindern. In jenem Sommer erschien Joseph Smith ein Engel. Es war Robert Thompson, sein früherer Sekretär. Er „erschien [Joseph] mehrmals, um ihm zu sagen, dass er nicht wünsche, dass ich solch ein einsames Leben führte“, erzählte Mercy. Der Engel machte einen schockierenden Vorschlag: Hyrum „sollte mich für die Zeit heiraten“, erinnerte sich Mercy.21 Mit anderen Worten: Robert Thompson bat Hyrum darum, auch Mercy als Frau für dieses Leben, also „für die Zeit“, zu heiraten. Mercy und Robert blieben derweil für alle Ewigkeit aneinander gesiegelt.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als ihm Robert Thompson erschien, ließ Joseph Smith Abschnitt 132 schriftlich niederlegen. In einem kleinen Büro hinten in seinem roten Backsteinladen diktierte Joseph die Offenbarung seinem Sekretär William Clayton.22 Teile der Offenbarung waren Joseph schon lange vorher bekannt gewesen, wahrscheinlich schon seit 1831, als er an der inspirierten Übersetzung des Alten Testaments arbeitete.23 Joseph fragte Gott im Gebet, warum er es bei Abraham, Isaak, Jakob und anderen rechtfertigte, „dass sie viele Frauen und Nebenfrauen gehabt haben“. Die Antwort wurde nicht sofort klar, weil Joseph in einer Kultur erzogen wurde, in der die Mehrehe abgelehnt wurde. Die Offenbarung gab einfach und direkt Antwort: Gott hatte die Mehrehe geboten, und weil die biblischen Patriarchen „nichts anderes taten, als was ihnen geboten worden war, sind sie … in ihre Erhöhung eingegangen“.24
Abschnitt 132 beantwortete somit eine Frage, die seit langem in der westlichen Kultur diskutiert wurde. Einige argumentierten, dass Gott die Mehrehe vor alters befürwortet hatte. Augustinus von Hippo betrachtete die Mehrehe im Alten Testament als ein Sakrament, das den Tag versinnbildlichte, an dem die Kirchen jeder Nation Christus untertan sein würden.25 Martin Luther stimmte dieser Ansicht zu. Er hielt Abraham für einen keuschen Mann, dessen Ehe mit Hagar zur Erfüllung Gottes heiliger Verheißungen führte, die diesem Patriarchen gegeben worden waren.26 Luther nahm an, dass Gott die Mehrehe in der Neuzeit unter gewissen Voraussetzungen billigte. Es „ist nicht länger geboten“, bemerkte er, „jedoch auch nicht verboten“.27
Andererseits wurde die Meinung vertreten, dass die Patriarchen des Alten Testaments, eben weil sie mehrere Frauen hatten, auf Abwege geraten waren. John Calvin, Luthers Zeitgenosse aus dem 16. Jahrhundert, glaubte, dass die Mehrehe die „Ordnung der Schöpfung“ verkehrte, die mit der monogamen Eheschließung von Adam und Eva im Garten von Eden eingerichtet worden war.28 Calvin hatte einen tiefen Einfluss auf die religiöse Einstellung, die in den noch jungen Vereinigten Staaten vorherrschte. Nicht alle US-Amerikaner vertraten die Ansicht, dass die biblischen Patriarchen in die Irre gegangen waren, doch folgte die überwältigende Mehrheit von Joseph Smiths Zeitgenossen Calvin in dem Glauben, dass die Mehrehe in der Neuzeit unter allen Umständen falsch sei.29
Abschnitt 132 beantwortete alle Fragen dieser Diskussion: Durch seine eigene Stimme hieß Gott es gut, wie die Patriarchen gehandelt hatten. In der Offenbarung heißt es, dass die Mehrehe ein Bestandteil der Verheißung Gottes war, die er Abraham gemacht hatte, nämlich dass seine Nachkommen „so unzählbar wie die Sterne“ sein sollten.30 Dennoch ging die Offenbarung noch einen viel mutigeren Schritt weiter, als die Patriarchen nur zu rechtfertigen. Als Nachkommen Abrahams wurde den Heiligen der Letzten Tage geboten, eine Zeit lang die Mehrehe zu praktizieren. „Geht darum hin und tut die Werke Abrahams.“31
Zuerst war Joseph Smith zögerlich damit gewesen, die Mehrehe einzugehen, da er sich voll und ganz bewusst war, dass die Kirche deshalb Verfolgung erleiden würde. Monogamie war damals die einzige Form der Ehe, die in den USA legal war – der Widerstand würde sicher heftig ausfallen. Joseph selbst musste davon überzeugt werden, dass die Mehrehe dem eigentlichen Wesen der Ehe entsprach. Dreimal erschien ihm ein Engel, der ihn drängte, der Aufforderung Folge zu leisten.32 Anfang 1841 ging er schließlich die Mehrehe ein und machte andere Mitglieder in Nauvoo mit dem Grundsatz bekannt. Durch die Niederschrift der Offenbarung fiel es ihm leichter, die Botschaft dieses neuen Gebots, das behutsam und schrittweise eingeführt wurde, zu verbreiten.33
Mercy und Hyrum
Die ewige Ehe schien Mercy Thompson wesentlich wünschenswerter zu sein als die Mehrehe. Aufgrund ihrer Erziehung und persönlichen Einstellung lehnte sie es ab, einen bereits verheirateten Mann zu ehelichen. Die Aussicht, im selben Haus wie ihre Schwester und engste Freundin, Mary, zu leben, verringerte ihr Unbehagen in keinster Weise. Joseph schickte Mary zu Mercy, um ihr dieses Thema näherzubringen. Er glaubte, Mary gegenüber wäre sie empfänglicher. Aber auch das zeigte keine Wirkung. „Als dieses Thema das erste Mal an mich herangetragen wurde“, berichtete Mercy, „stellte es mich sehr stark auf die Probe. All meine bisherigen Traditionen und jedes natürliche Gefühl in meinem Herzen stellten sich dem entgegen.“34
Als Nächstes sprach Hyrum mit ihr. Er hatte Verständnis für Mercys Gefühle, da er selbst einmal die Mehrehe abgelehnt hatte. Joseph hatte versucht, die Gefühle seines Bruders abzuschätzen. So hielt er diese schwierigsten und umstrittensten Lehren zurück, bis Hyrum offen dafür war. Als Hyrum erkannte, dass er zwei Frauen auf der Erde geheiratet hatte, von denen er in der Ewigkeit nicht getrennt sein wollte, bekehrte er sich schließlich zu diesem Grundsatz. Am selben Tag, als er an Mary für Zeit und Ewigkeit gesiegelt wurde, amtierte Mary auch als Stellvertreterin, als er an Jerusha gesiegelt wurde. So wurde Hyrum für die Ewigkeit an beide Frauen gesiegelt.35
Mercy war nicht gebeten worden, Hyrum Smiths Frau für die Ewigkeit zu werden. Robert Thompsons Botschaft lautete, dass Mercy Hyrum für die Zeit heiraten sollte oder, wie Mercy es ausdrückte, bis zu der Zeit, da Hyrum „mich am Morgen des Auferstehungstags an meinen Ehemann Robert Blashel Thompson übergeben würde“.36 Die Eheschließung mit Hyrum war wie die Schwagerehe im Alten Testament, bei der einem Mann geboten wurde, die Frau seines verstorbenen Bruders zu heiraten.37 Die Kombination aus dem Praktizieren der Mehrehe zu Zeiten der biblischen Patriarchen und der Engelserscheinung erschien Hyrum Smith und anderen, die an die Wiederherstellung der Wahrheiten aus der Bibel glaubten, schlüssig. Hyrum berichtete Mercy, dass er, als er das erste Mal von Robert Thompsons Bitte erfahren hatte, „den Heiligen Geist vom Kopf bis in die Zehenspitzen verspürte“.38
Frauen der Kirche, die in Nauvoo zum Grundsatz der Mehrehe bekehrt worden waren, berichteten oft von geistigen Erlebnissen, die ihre Entscheidung bestätigten. Sie sahen ein Licht, verspürten Frieden oder, wie in einem Fall geschehen, sahen einen Engel. Mercy Thompson hinterließ keine Aufzeichnung über solch eine Erfahrung. Sie sagte später, sie glaube an diesen Grundsatz, „weil ich ihn selbst in der Bibel nachlesen und erkennen konnte, dass er in jenen Tagen praktiziert wurde und dass der Herr ihm zustimmte und ihn billigte“.39
Eine Beweisführung anhand der Bibel allein war Mercy allerdings nicht genug. Joseph sprach schließlich selbst mit ihr, und es war sein Zeugnis, das sie überzeugte. Er erklärte, dass Robert Thompson ihm mehr als einmal erschienen war, beim letzten Mal „mit solcher Macht, dass er [Joseph] erbebte“. Joseph war zunächst nicht gewillt, der Bitte nachzukommen. Erst nachdem er zum Herrn gebetet und erkannt hatte, dass er dem „Folge leisten solle, was [Gottes] Diener erbeten hatte“, erzählte er Hyrum von der Vision.40
Da Mercy Thompson an geistige Gaben glaubte, vertraute sie darauf, dass ihr verstorbener Ehemann sich mitgeteilt hatte.41 Außerdem glaubte sie nach mehr als einem halben Dutzend Jahren, in denen sie Joseph Smith aus der Nähe erleben konnte, dass er „zu weise wäre, um sich zu irren, und zu gut, um lieblos zu sein“.42 Sie kam zu dem Schluss, dass die Bitte, Hyrum zu heiraten, „die Stimme des Herrn [war], die durch den Mund des Propheten Joseph Smith [an sie] erging“.43
Joseph Smith nahm die Einwände von Frauen wie Mercy Thompson ernst. Niemandem, weder Frauen noch Männern, fiel es am Anfang leicht, die Mehrehe anzunehmen.44 Joseph nötigte weder Frauen noch Männer dazu, die Mehrehe anzunehmen.45 Sie wurden dazu angehalten, nachzudenken, zu beten und selbst eine Entscheidung zu treffen. Mercy bat um das Manuskript der Offenbarung. Sie behielt es fünf Tage bei sich zu Hause und dachte immer wieder über den Inhalt nach.46 Erst nach vielem Beten und Nachdenken gab sie ihre Zustimmung. Am 11. August 1843 wurden Hyrum und Mercy von Joseph Smith im Haus von Mary und Hyrum, das an der Ecke Water Street und Bain Street in Nauvoo lag, getraut. Auf Josephs Empfehlung hin baute Hyrum ein weiteres Zimmer ans Haus an, in das Mercy einzog.
Zeit und Ewigkeit
Während ihres kurzen gemeinsamen Lebens wurde das, was Hyrum wichtig war, auch Mercy wichtig – und umgekehrt. Mercy half dabei, die inspirierten Worte aufzuschreiben, die Hyrum in seinem Amt als Patriarch der Kirche Mitgliedern bei einem Segen aussprach. Das große Vorhaben, das Herz und Sinn aller Heiligen einnahm, war der Bau des Nauvoo-Tempels. Als Mercy den Herrn einmal ernsthaft um Rat ersuchte, um zu erfahren, was sie tun könnte, um die Fertigstellung des Tempels zu beschleunigen, kamen ihr die folgenden Worte in den Sinn: „Versuche, die Schwestern davon zu überzeugen, dass sie wöchentlich einen Cent für den Kauf von Glas und Nägeln spenden.“ Sie sagte, dass Hyrum sehr erfreut über diese Offenbarung gewesen sei. Er tat sein Möglichstes, um sie zu unterstützen, indem er in öffentlichen Versammlungen die Zuhörer zum Spenden drängte, wie Mercy es erbeten hatte.47 Mit Hyrums Hilfe sammelten Mary und Mercy über 1000 Dollar für diese Sache – für die damalige Zeit eine erkleckliche Summe.48
Mercy und Hyrum waren erst zehn Monate verheiratet, als er in Carthage vom Pöbel erschossen wurde. Wiederum hatte Mercy einen Ehemann in der Blüte seines Lebens verloren. Sie betrauerte Hyrums Verlust, den sie als „zärtlichen Ehemann, liebenden Vater, gläubigen Freund und warmherzigen Wohltäter“ beschrieb.49 Aber ihre Verbundenheit mit Mary sollte immer eine Quelle der Kraft für sie bleiben. Mercy und Mary mussten die Familie versorgen, zu der Mercys inzwischen sechsjährige Tochter Mary Jane gehörte, die beiden Kinder, die Mary mit Hyrum bekommen hatte, sowie die fünf Kinder, die Hyrum mit Jerusha bekommen hatte und deren Stiefmutter Mary geworden war.
1846 begaben sich Mercy und Mary zusammen mit ihrem Bruder Joseph erneut auf eine Reise. Sie schlossen sich Tausenden ihrer Leidensgenossen auf dem 2250 Kilometer langen Treck zu einem neuen Zion an, das zur damaligen Zeit außerhalb der Grenzen der Vereinigten Staaten lag. Im darauffolgenden Jahr kamen sie im Salzseetal an. Mary starb 1852 an einer Lungenentzündung. Mercy lebte die nächsten vier Jahrzehnte in Salt Lake City. Sie war treu bis ans Ende, diente in der Kirche, wo immer sie konnte, und war den Kindern, die Mary und Hyrum hinterlassen hatten, eine Mutter.
Mercys Bindung zu Hyrum war für sie stets eine Quelle tiefer Dankbarkeit. Sie lebte jedoch für eine Wiedervereinigung mit Robert, ihrem geliebten Ehemann, den sie in jungen Jahren geheiratet hatte. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1893 behielt sie den Namen Mercy R. Thompson bei, jenen Namen, den sie durch ihre Eheschließung mit Robert angenommen hatte. In Abschnitt 132 des Buches Lehre und Bündnisse wurde ihr verheißen, dass Robert und sie eines Tages „Throne, Reiche, Gewalten und Mächte … ererben“ würden, wenn sie treu blieben. Sie würden sich an der „Fortsetzung der Samen …, für immer und immer“ erfreuen.50 Sie glaubte an diese Verheißungen und lebte so, dass sie eines Tages für sie in Erfüllung gehen könnten.