1990–1999
Eh ich Mauern ziehe
April 1991


Eh ich Mauern ziehe

„Gegenseitige Achtung, verbunden mit Nächstenliebe und Versöhnlichkeit, kann die Grundlage dafür bilden, daß Meinungsverschiedenheiten beigelegt und Probleme gelöst werden.”

Es gibt eine Eigenschaft, die bei den meisten Christen und bei guten Menschen überhaupt zutage tritt. Sie kommt nicht nur in ihrem Verhalten zum Ausdruck, sondern ist wohl Teil ihres Wesens. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Nächstenliebe, Versöhnlichkeit und Achtung, die auf der Erkenntnis beruht, daß Gott das Steuer in der Hand hält und wir alle seine Kinder sind. Folglich sind wir einander in gewisser Weise verpflichtet.

„Darum hat der Herr Gott das Gebot gegeben, daß alle Menschen Nächstenliebe haben sollen, und diese Nächstenliebe ist Liebe.” (2 Nephi 26:30.) Die Schrift lehrt uns ferner: „Und einander sollt ihr euch eure Verfehlungen auch vergeben.” (Mosia 26:31.) Diese Eigenschaft kann ein Teil von uns werden, ohne daß wir deshalb unsere Grundsätze oder unsere Wahrheitsliebe aufgeben müssen.

Vor einiger Zeit hat uns Pater Paul Showalter aus Nauvoo etwas Interessantes über den Propheten Joseph Smith erzählt, das aus der frühen Geschichte der katholischen Kirche in diesem Gebiet stammt.

Als sich die Heiligen in Nauvoo und der umliegenden Gegend niederließen, musste einmal ein katholischer Priester namens John Alleman, der im benachbarten Kreis McDonough wohnte, ein krankes Gemeindemitglied besuchen, hatte aber keine Transportmöglichkeit. Joseph Smith sorgte dafür, daß er mit der Fähre über den Fluß gebracht wurde, und stellte ihm einen Wagen zur Verfügung, mit dem er seinen Bestimmungsort erreichen konnte.

Joseph Smith bekundete ihm seinen Respekt, indem er sagte: „Die Priester sorgen hingebungsvoll für ihre Leute und kümmern sich um ihre eigenen Angelegenheiten, während andere die Heiligen der Letzten Tage ständig belästigen.”

Diese Achtung vor anderen, unabhängig davon, woran sie glaubten oder zu welcher Religionsgemeinschaft sie gehörten, war wohl ein Wesenszug von Joseph Smith. Bis zu seinem letzten Atemzug trat er für die Wahrheit und das wiederhergestellte Evangelium ein, und er hatte keine Geduld mit denen, die bewußt schlecht waren oder versuchten, ungerechte Herrschaft über die Heiligen der Letzten Tage oder über irgend jemand sonst auszuüben. Dennoch achtete er andere und sorgte sich um sie, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Herkunft, was in vielerlei Hinsicht beachtlich war, wenn man bedenkt, welcher Verfolgung er und die Heiligen damals ausgesetzt waren.

Einmal sagte er, er besitze die Eigenschaft der Liebe, und wir können nachlesen, daß es ihm normalerweise gelang, seine Feinde für sich einzunehmen, wenn sie ihm nur Gehör schenkten. Im Umgang mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern hatte er sich einem Grundsatz verpflichtet, den wir im 121. Abschnitt des Buches, Lehre und Bündnisse’ nachlesen können: „Kraft des Priestertums kann und soll keine Macht und kein Einfluß anders geltend gemacht werden als nur mit überzeugender Rede, mit Langmut, mit Milde und Sanftmut und mit ungeheuchelter Liebe, mit Wohlwollen und mit reiner Erkenntnis, wodurch sich die Seele sehr erweitert - ohne Heuchelei und ohne Falschheit.” (Vers 41,42.) Und: „Laß dein Inneres auch erfüllt sein von Nächstenliebe zu allen Menschen und zum Haushalt des Glaubens.” (Vers 45.)

Joseph Smith verkündete die Lehre der Wiederherstellung mit Macht und Nachdruck. Er ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, die Wahrheit dieses Werkes zu bezeugen. Er war der Vorläufer des Heeres von Missionaren, die in die ganze Welt gehen, um dieselbe Wahrheit zu verkünden. Dennoch hat er gesagt: „Ich möchte meine Lehre nie jemandem auf zwingen; ich freue mich, wenn ich sehe, daß Vorurteile der Wahrheit weichen und die reinen Grundsätze des Evangeliums Jesu Christi an die Stelle der Menschengebote treten.” (History of the Church, Band 6, Seite 213.)

In den letzten Tagen seines Lebens, als Nauvoo vom Pöbel und von inneren und äußeren Schwierigkeiten bedrängt wurde, nahmen sich Joseph und Hyrum Smith dennoch die Zeit, einem gewissen Mr. Tewkesbury in Boston zu schreiben, der sich von der Kirche losgesagt hatte, und ihn einzuladen, wieder in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. In dem Brief hieß es: „Da die Errettung der Seelen unser brennender Wunsch ist, … möchten wir Ihnen mit der Aufrichtigkeit, die Männern Gottes eigen ist, raten, sich von Elder Nickerson, einem Knecht Gottes, wieder taufen zu lassen, damit Sie wiederum den Einfluß des Heiligen Geistes empfangen und sich der Gemeinschaft der Heiligen erfreuen können.” (History of the Church, Band 6, Seite 427.)

Dieselbe Haltung kommt auch in einem Brief der Ersten Präsidentschaft zum Ausdruck, der 1985 geschrieben wurde. Darin heißt es: „Uns ist bewußt, daß es manche gibt, die inaktiv sind, andere, die kritisch geworden sind und gern Fehler suchen, und wieder andere, denen aufgrund schwerwiegender Übertretungen die Gemeinschaft entzogen worden ist oder die ausgeschlossen worden sind.

Ihnen allen reichen wir in Liebe die Hand. Wir sind gern bereit, im Geist Christi zu vergeben, der gesagt hat:, Ich, der Herr, vergebe, wem ich vergeben will, aber von euch wird verlangt, daß ihr allen Menschen vergebt (LuB 64:10.)” (Ensign, März 1986, Seite 88.) Dieser Brief ist die Einladung: „Kommt zurück.”

Wir leben heute in einer Zeit der Konflikte, der Meinungsverschiedenheiten, der gegenseitigen Beschuldigungen, der Streitigkeiten. Wir müssen unbedingt, vielleicht dringender als je zuvor, in uns gehen und zulassen, daß gegenseitige Achtung, verbunden mit Nächstenliebe und Versöhnlichkeit, unseren Umgang miteinander beeinflußt, so daß wir verschiedener Meinung sein können, ohne uns zu streiten, ruhiger miteinander sprechen können und in dem Bewusstsein, daß wir, nachdem der Sturm sich gelegt hat, weiterhin miteinander leben müssen, auf einer gemeinsamen Grundlage aufbauen können.

Als ich vor einigen Jahren im Osten der Vereinigten Staaten gewohnt habe, las ich einmal etwas über eine Begebenheit, die sich im Senat der Vereinigten Staaten zugetragen hatte. Soweit ich mich erinnere, war eine Debatte im Gang. Die Debatte wurde auf der einen Seite von Senator Hubert Humphrey aus Minnesota angeführt, auf der Gegenseite von Senatorin Margaret Chase Smith aus Maine. Mit der Zeit war zu erkennen, daß die Partei von Senator Humphrey gewinnen würde.

Am Morgen der Abstimmung ging Senator Humphrey in seinen Garten und schnitt einige rote Rosen ab. Margaret Chase Smith fand an diesem Morgen an ihrem Platz im Senat einen Rosenstrauß vor. Das änderte natürlich nicht ihre Meinung über die betreffende Angelegenheit, doch es war eine Geste der Achtung und Wertschätzung.

Wir brauchen im Umgang miteinander, was auch unser Standpunkt sein mag, mehr Rosen - und nach dem, was Eider Faust heute morgen gesagt hat, müssen es wohl Rosen ohne Dornen sein.

Ich bin in den westlichen Tälern Utahs aufgewachsen. Meine Heimatstadt, Tooele, ist von Pionieren gegründet worden. Als in den nahegelegenen Bergen Erzlager entdeckt wurden, kamen Leute aus Süd- und

Osteuropa, um in den Bergwerken und in der Schmelzhütte zu arbeiten. Es waren Leute, die aus anderen Kulturkreisen stammten und andere religiöse Anschauungen hatten.

Sie ließen sich östlich der Stadt nieder und nannten ihr Gemeinwesen „New Town”. Fast von Anfang an kam es zu Mißtrauen und Mißverständnissen zwischen den neuen Einwohnern, die die Bräuche ihrer Heimat mitgebracht hatten, und den eingesessenen Einwohnern, die größtenteils von den Pionieren abstammten. Die beiden Gruppen kamen selten zusammen.

Doch dann stellte die High School einen Football-Trainer namens Sterling Harris ein, der gerade seine Ausbildung an der Utah State University abgeschlossen hatte. Coach („Trainer”) Harris, wie er später nur noch genannt wurde, war ein Mensch, der aus sich herausging und ein klein wenig respektlos war.

Er zog durch die alte und die neue Stadt und sorgte dafür, daß alle Jungen in die Schule und dann zum Footballspielen kamen. Er gab jedem einen Spitznamen, und nach einer Weile wurde es zu einer Art Statussymbol, einen Spitznamen von Sterling Harris zu tragen.

Es dauerte gar nicht so lange, bis er die Gowns und die Whitehouses neben den Savages und den Stepics und den Ormes und den Melinkovichs aufgestellt hatte und alle zusammenspielten. Er war streng, aber unparteiisch, und er hatte etwas an sich, was den anderen das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein, so daß sie ihr Bestes geben wollten.

Es wurde eine gute Mannschaft, die mit Coach Harris mehr als eine Meisterschaft gewann. Was jedoch noch viel wichtiger war: indem er die Mannschaft zusammenbrachte, brachte er die ganze Stadt zusammen. Mauern fielen. Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen lernten, auf gegenseitige Achtung und Wertschätzung aufzubauen. Sterling Harris war zu einer Brücke geworden.

Sterling Harris wohnt heute noch in Tooele, er ist einundneunzig Jahre alt. Er hat in seinem Leben noch vieles andere erreicht, unter anderem war er Schulrektor und Führer in der Kirche, doch am wichtigsten war, daß er einem Gemeinwesen geholfen hat, sich zu vereinigen und Achtung zu haben vor Menschen, die anderer Herkunft sind.

Wir brauchen auf der ganzen Welt in jeder Stadt, in jedem Dorf, in jeder Nachbarschaf t und in jeder Familie mehr Leute vom Schlag eines Sterling Harris. Robert Frost hat einmal geschrieben:

Ich würd mich fragen, eh ich Mauern zog:

Was zäun ich damit ein, was zäun ich aus,

Und wen mein Zäunen leicht verletzen mächt. ’s gibt etwas,

das ist keiner Mauer grün, Und wünscht sie weg.

Die Menschen werden immer gegensätzliche Ansichten haben, und es wird wohl immer Konflikte und sogar Mißverständnisse geben, doch gegenseitige Achtung, verbunden mit Nächstenliebe und Versöhnlichkeit, kann die Grundlage dafür bilden, daß Meinungsverschiedenheiten beigelegt und Probleme gelöst werden.

Hat nicht der Erretter über das erste und große Gebot gesagt, daß wir den Herrn, unseren Gott, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all unseren Gedanken lieben sollen, das zweite aber ebenso wichtig sei, nämlich daß wir unseren Nächsten lieben sollen wie uns selbst? (Siehe Matthäus 22:36-39.) Es ist eine großartige Eigenschaft, Achtung vor anderen zu haben. Sie ist im Herzen großer Persönlichkeiten zu finden, und in diesem Sinn soll jeder von uns eine große Persönlichkeit sein. Diese Eigenschaft verlangt von uns nicht, daß wir die Wahrheit oder unsere Grundsätze aufgeben, vielmehr kann sie zu wahrer Bruderschaft und Schwesternschaft führen und zur Lösung vieler Probleme beitragen.

Möge der Herr uns segnen, daß wir in diesem Sinn miteinander umgehen. Im Namen Jesu Christi. Amen.