2000–2009
Der Glaube unserer Propheten
Oktober 2001


Der Glaube unserer Propheten

Wenn es also heißt, jemand habe keinen Wunsch mehr, zu sündigen, so war es einzig und allein seine freie Entscheidung, alle diese falschen Wünsche aufzugeben, indem er bereit war, alle seine Sünden aufzugeben, um Gott zu erkennen (siehe Alma 22:18).

Brüder und Schwestern, die heiligen Schriften enthalten so viele doktrinäre Diamanten. Und wenn das Licht des Geistes auf ihren vielen Facetten spielt, strahlen sie mit celestialer Bedeutung und erleuchten den Weg, den wir gehen sollen.

Ein Beispiel sind die Lehren bezüglich des „Wünschens”, die sich direkt und durchdringend auf unsere Entscheidungsfreiheit und Individualität beziehen. Ob in der Entstehung oder im Ausdruck, unsere Wünsche spiegeln wider, wie wir mit unserer Entscheidungsfreiheit umgehen. Die Wünsche werden somit zum wirklich entscheidenden Faktor, auch wenn wir, in bedauernswerter Naivität, die Folgen unserer Wünsche eigentlich gar nicht wollen.

Mit den Wünschen sind wirkliches Verlangen und Begehren gemeint. Rechtschaffene Wünsche sind also viel mehr als passive Vorlieben oder vergängliche Gefühle. Natürlich kommt es auch sehr auf unsere Gene, auf die Umstände und auf die Umwelt an; auch sie formen uns in erheblichem Maße. Aber es bleibt doch eine innere Zone, in der wir souverän sind, außer wenn wir abdanken. In dieser Zone liegt der Wesenskern unserer Individualität und unserer Verantwortlichkeit.

Letztlich werden wir deshalb, auch in Ewigkeit, das bekommen, was wir uns inständig über eine lange Zeit hinweg wünschen. „Denn ich [so spricht der Herr] werde alle Menschen gemäß ihren Werken richten, gemäß den Wünschen ihres Herzens.” (LuB 137:9; siehe auch Jeremia 17:10.) Alma hat gesagt: „Ich weiß, daß [Gott] den Menschen gemäß ihrem Wunsch gewährt. … ich weiß, er teilt den Menschen zu … gemäß ihrem Wollen.” (Alma 29:4.)

Damit diese gerechte Absicht verwirklicht werden kann, breitet sich Gottes Baldachin der Barmherzigkeit erlösend aus und schließt alle ein, … die von nun an sterben, ohne [vom Evangelium] zu wissen, und die es von ganzem Herzen angenommen hätten; [sie] werden Erben dieses Reiches sein; denn ich, der Herr, werde alle Menschen gemäß ihren Werken richten, gemäß den Wünschen ihres Herzens (LuB 137:8,9).

Gott berücksichtigt also in seiner Barmherzigkeit nicht nur unsere Wünsche und unsere Leistung, sondern auch die Schwierigkeiten, die unsere Lebensumstände mit sich bringen. Da nimmt es nicht wunder, daß wir uns beim letzten Gericht nicht beklagen werden, vor allem da selbst die Herrlichkeit des telestialen Reichs „alles Verständnis übersteigt” (siehe LuB 76:89). Gott segnet uns von Herzen gern, vor allem, wenn wir uns an dem erfreuen, was wir uns gewünscht haben (siehe LuB 7:8).

Im Gegensatz zu Gottes barmherzigem Plan für unsere Freude und Herrlichkeit trachtet der Satan danach, „daß alle Menschen so elend seien wie er selbst” (2 Nephi 2:27).

Meistens werden wir allerdings die Opfer unserer falschen Wünsche. Weitere Schwierigkeiten treten deshalb auf, weil wir in einer Zeit leben, wo viele sich zu Unrecht weigern, für sich selbst die Verantwortung zu übernehmen. Deshalb ist es so wesentlich, daß einem die Lehren bezüglich der Wünsche völlig klar sind. Überall um uns herum machen sich ungerechtfertigte Ausreden breit wie Treibeis, das die Gesellschaft „in den Schlund des Elends und des endlosen Wehs” (Helaman 5:12) hinabzieht. Auch die eigensüchtige Einstellung „was kann ich dafür?” ist dort zu finden, die die demütige Entschuldigung „es ist meine Schuld” verdrängt. Wir hören bereitwillig hin, weil wir die aufrichtige Bitte um Verzeihung erwarten, nicht aber das passive, stereotype „tut mir leid; hoffentlich kann ich mir selbst verzeihen”.

Manch einer mag das Gewissen beiseite schieben und sich weigern, seine Stimme auch nur zu hören, geschweige denn darüber nachzudenken. Aber schon dieses Wegschieben ist ein Willensakt, für den wir uns entschieden haben, weil das unseren Wünschen entspricht. Selbst wenn das Licht Christi in der Finsternis nur leise flackert, so flackert es doch immer noch. Wenn man den Blick abwendet, dann nur deshalb, weil man es sich so gewünscht hat.

Ob man das mag oder nicht, die Wirklichkeit verlangt, daß wir uns die Verantwortung für unsere Wünsche eingestehen. Die Wirklichkeit verlangt auch, daß wir uns die Folgen dessen wünschen, was wir uns wünschen. Brüder und Schwestern, wünschen wir uns die Pläne Gottes oder die Pläne des Satans?

Immer wenn geistig Bedeutsames sich anbahnt, sind rechtschaffene Wünsche da. Demütige Wünsche waren kennzeichnend für diejenigen, die am Wasser Mormon auf die Taufe warteten. Ihre Taufverpflichtung war ihnen eingehend dargelegt worden, und sie riefen: „Das ist unser Herzenswunsch.” (Mosia 18:11.) Die nephitische Volksmenge, die von der Gegenwart des auferstandenen Jesus überwältigt war, kniete in demütigem und inständigem Gebet nieder, aber „sie machten nicht viele Worte, denn es wurde ihnen eingegeben, was sie beten sollten, und sie wurden von Verlangen erfüllt” (3 Nephi 19:24).

Kein Wunder, daß von den Wünschen auch die Abstufung des Ergebnisses abhängt und daß zwar viele berufen sind, aber nur wenige erwählt werden (siehe LuB 121:34; Matthäus 22:14).

Es hängt von uns ab. Gott macht es uns leichter, aber er zwingt uns nicht. Rechtschaffene Wünsche müssen also unermüdlich sein, denn, so Präsident Young: „Die Menschen, die sich einen Platz im celestialen Reich wünschen, werden feststellen, daß sie jeden Tag darum kämpfen müssen.” (Journal of Discourses, 11:14.) Ein wahrer Jünger Christi ist kein bloßer Wochenendchrist.

Wer keine Wünsche hat, wer vielleicht nur lauwarm ist, wird entsetzlich platt (siehe Offenbarung 3:15). William R. May hat die Symptome solcher Trägheit folgendermaßen erläutert: Die Seele ist in diesem Zustand über bloße Traurigkeit und Melancholie hinaus, sie hat sich vom Steigen und Fallen der Gefühle entfernt: das Verlangen, das ja den Gefühlen zugrundeliegt, ist tot. … Mensch sein heißt verlangen. Ein guter Mensch wünscht sich Gott und anderes in Gott. Ein sündiger Mensch wünscht sich Dinge anstelle von Gott, aber er ist immer noch erkennbar menschlich, da er ja noch Wünsche kennt. Der träge Mensch ist ein toter Mensch, eine ausgetrocknete Wüste. … auch sein Verlangen ist ausgetrocknet. („A Catalog of Sins”, Christian Century, 24. April 1996, Seite 457.)

Dieser traurige Zustand ist nur eine Form des „Trauerns der Verdammten” (siehe Mormon 2:13).

Selbst ein Funke Verlangen kann allerdings schon eine Änderung in Gang setzen. Der verlorene Sohn, der in Verzweiflung versunken war, wünschte sich noch etwas und beschloß, als er in sich ging: „Ich will aufbrechen und zu meinem Vater gehen.” (Lukas 15:17,18.)

Es geht hier um sehr viel mehr als bloß darum, wie wir uns von Versuchungen abwenden, für die wir uns irgendwie gar nicht verantwortlich fühlen. Denken Sie daran, Brüder und Schwestern: wie groß und wie attraktiv die Versuchungen sind, hängt von unseren Wünschen ab. In bezug auf unsere Versuchungen stellen wir den Thermostat selbst ein.

Wenn wir also unsere Wünsche erziehen und schulen wollen, müssen wir offensichtlich die Wahrheiten des Evangeliums kennen. Es geht aber noch um mehr. Präsident Brigham Young hat bestätigt: „Es ist offensichtlich, daß viele, die die Wahrheit kennen, sich nicht danach ausrichten; so wahr und schön die Wahrheit auch sein mag, man muß die Leidenschaften der Menschen nehmen und sie dem Gesetz Gottes entsprechend formen.” (Journal of Discourses, 7:55.)

„Meint ihr”, so fragte Präsident Young, „die Leute gehorchten der Wahrheit, bloß weil sie wahr ist, wenn sie sie nicht lieben? Nein, das tun sie nicht.” (Journal of Discourses, 7:55.) Es ist also von grundlegender Bedeutung, daß man die Wahrheiten und Lehren des Evangeliums kennt, aber wir müssen sie auch lieben lernen, und wenn wir sie lieben, haben sie ihre Wirkung auf uns, und unsere Wünsche und unsere äußeren Werke werden heiliger.

Jedes Einstehen für einen rechtschaffenen Wunsch, jeder Akt des Dienens und der Gottesverehrung, so klein sie für sich genommen auch sein mögen, beschleunigen unser geistiges Wachstum. Wie beim zweiten Newtonschen Gesetz bringen selbst kleine gute Taten eine Beschleunigung mit sich und wirken ansteckend.

Zum Glück für uns kann der Herr in seiner Liebe auf uns einwirken - selbst wenn wir nicht mehr tun können, als daß wir den Wunsch haben zu glauben, vorausgesetzt, wir lassen diesen Wunsch in uns wirken (siehe Alma 32:27). Deshalb, so hat es Präsident Joseph F. Smith erklärt, „ist es für unser Glücklichsein in diesem Leben von weitreichender Bedeutung, daß wir unsere Wünsche in die richtigen Bahnen lenken” (Gospel Doctrine, Salt Lake City, 1919, Seite 372). Solche Erziehung kann zur Heiligung führen, bis, so Präsident Brigham Young, „die heiligen Wünsche die entsprechenden äußeren Werke nach sich ziehen” (Journal of Discourses, 6:170.) Nur wenn wir unsere Wünsche lenken und schulen, können sie unsere Verbündeten werden statt unsere Feinde!

Manche unserer gegenwärtigen Wünsche müssen deshalb abnehmen und schließlich verschwinden. So ist beispielsweise der biblische Rat „Dein Herz ereifere sich nicht wegen der Sünder” (Sprichwörter 23:17) deutlich an die gerichtet, die innerlich unzufrieden sind. Noch einmal: wir müssen uns selbst gegenüber ehrlich sein, was die Folgen unserer Wünsche betrifft, die ja unausweichlich sind. Wenn der natürliche Mensch die sogenannten „schlechten Zeiten” durchmacht, verlangt es ihn danach, sich in Selbstmitleid zu suhlen; aber auch dieser Wunsch muß verschwinden.

Allerdings ist die Auflösung der falschen Wünsche nur ein Teil. Das, was jetzt nur ein schwacher Wunsch ist, zum Beispiel der Wunsch, ein besserer Ehepartner, ein besserer Vater, eine bessere Mutter zu sein, muß zum stärkeren Wunsch werden, so wie Abraham göttliche Unzufriedenheit empfand und sich großes Glück und viel Erkenntnis wünschte (siehe Abraham 1:2).

Unser barmherziger und langmütiger Herr ist stets zur Hilfe bereit. Sein „Arm ist den ganzen Tag lang ausgestreckt” (2 Nephi 28:32). Auch wenn wir seinen Arm nicht ergreifen, so war er doch unleugbar da! Auch unser Verlangen

nach besseren zwischenmenschlichen Beziehungen, das ja genauso ein erlösendes Bemühen um den anderen ist, erfordert gewöhnlich Langmut. Manchmal ist das Bemühen um den anderen so, als wolle man ein Stachelschwein streicheln. Doch selbst dann sind die Wunden, die die Stacheln hinterlassen, ein Beweis dafür, daß auch unsere Hand der Gemeinschaft ausgestreckt war!

Es kommt auf uns an. Darin liegt die größte und hartnäckigste Herausforderung des Lebens. Wenn es also heißt, jemand habe keinen Wunsch mehr, zu sündigen (siehe Alma 19:33), so war es einzig und allein seine freie Entscheidung, alle diese falschen Wünsche aufzugeben, indem er bereit war, alle seine Sünden aufzugeben, um Gott zu erkennen (siehe Alma 22:18).

Zweifellos können die Eltern eine wesentliche Rolle spielen, wo es darum geht, behilflich zu sein, unsere Wünsche zu schulen, vor allem indem sie ihre Erklärungen mit ihrem Beispiel verbinden! Aber selbst dann darf es uns nicht verwundern, daß Adam und Eva, diese vortrefflichen Eltern, die ihre Kinder gewissenhaft alles lehrten, trotzdem einige von ihnen verloren! Lehi und Saria unternahmen die gleichen Anstrengungen, ja, mit

allem Gefühl liebevoller Eltern (siehe l Nephi 8:37), und doch erlebten sie mit Laman und Lemuel, die „die Handlungsweise des Herrn nicht verstanden” (Mosia 10:14) das gleiche. Joseph Smith hat deutlich gesagt, wer für solche Widerspenstigkeit die Verantwortung trägt: „Menschen, die keinen Grundsatz der Rechtschaffenheit in sich tragen …, verstehen das Wort der Wahrheit nicht, wenn sie es hören. Der Teufel nimmt ihnen das Wort der Wahrheit aus dem Herzen weg, weil in ihnen kein Verlangen nach Rechtschaffenheit vorhanden ist. (Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 99.)

Gewissenhafte, gute Eltern werden trotzdem alles tun, was sie können, um ein Beispiel zu geben und zu erklären. Außerdem vermitteln rechtschaffene Eltern mehr, als ihnen derzeit bewußt ist, da der späteren Anwendung oft eine Verzögerung vorausgeht und die Dankbarkeit für den elterlichen Einfluß oft erst sehr viel später kommt.

Dann können wir mit wahrem Verlangen von Herzen flehen:

Mehr Heiligkeit gib mir, … mehr Dulden im Leid, mehr Glauben an Jesus … Mehr Dankbarkeit gib mir, … mehr Schmerz für sein Leiden, mehr für seinen Tod, mehr Demut in Prüfung, mehr Glauben in Not. … (Gesangbuch, Nr. 50.)

Brüder und Schwestern, Gott bemüht sich in Liebe um uns, aber der alles in Gang setzende Wunsch, der den Funken des Vorsatzes zündet, muß von uns kommen!

Das braucht aber alles seine Zeit, wie der Prophet Joseph Smith gesagt hat: „Je näher der Mensch zur Vollkommenheit gelangt, um so klarer wird sein Blick und um so größer seine Freude, bis er das Böse in seinem Leben überwunden und jeglichen Wunsch nach Sünde verloren hat und wie die Alten an einem Punkt des Glaubens anlangt, wo er von der Macht und Herrlichkeit seines Schöpfers eingehüllt und emporgehoben wird, um bei ihm zu wohnen. Wir meinen aber auch, daß dies ein Punkt ist, den noch niemand in einem Augenblick erreicht hat. (Lehren des Propheten Joseph Smith, Seite 53.)

Das Werk der Ewigkeit, Brüder und Schwestern, wird also nicht in einem Augenblick vollbracht, sondern vielmehr im Lauf der Zeit. Die Zeit arbeitet für uns, wenn unsere Wünsche das auch tun!

Möge Gott uns helfen, daß wir unsere Wünsche in diesem Sinne schulen. Im Namen Jesu Christi, amen!