Voll Eifer
Es gibt Kollegiumsmitglieder und andere, die es sein sollten und die unsere Hilfe brauchen.
Meine lieben Brüder, es ist eine feierliche Aufgabe, heute Abend vor Ihnen zu stehen und in Bezug auf unsere heilige Aufgabe, nämlich das Priestertum Gottes zu tragen, Zeugnis zu geben und darüber sprechen zu dürfen. Dies stimmt mich sehr demütig. Setzen Sie bitte Ihren Glauben ein und beten Sie für mich.
Neben den Trägern des Aaronischen oder Melchisedekischen Priestertums, die heute Abend hier im Konferenzzentrum sind oder in aller Welt an der Konferenz teilnehmen, gibt es eine große Anzahl von Priestertumsträgern, die sich, aus welchem Grund auch immer, von ihren Pflichten abgewandt haben und nun einen anderen Weg gehen.
Der Herr fordert uns deutlich auf, die Hand auszustrecken und solche Menschen zu retten und sie und ihre Familie an den Tisch des Herrn zu bringen. Wir tun gut daran, diese Anweisung des Herrn zu beachten, nämlich: „Darum lasst nun einen jeden seine Pflicht lernen und mit allem Eifer das Amt ausüben lernen, zu dem er bestimmt worden ist.“1 Weiter sagte er:
„Denn siehe, es ist nicht recht, dass ich in allem gebieten muss; denn wer in allem genötigt werden muss, der ist ein träger und nicht ein weiser Knecht, darum empfängt er keinen Lohn.
Wahrlich, ich sage: Die Menschen sollen sich voll Eifer einer guten Sache widmen und vieles aus ihrem eigenen, freien Willen tun und viel Rechtschaffenheit zustande bringen; denn die Macht ist in ihnen, wodurch sie für sich selbst handeln können. Und insofern die Menschen Gutes tun, werden sie keineswegs ihres Lohnes verlustig gehen.“2
Die heiligen Schriften nennen uns das Vorbild ist, dem wir folgen sollen: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“3 Er zog umher und tat Gutes, „denn Gott war mit ihm“.4
Wenn ich mich mit dem Leben des Meisters befasse, fällt mir auf, dass seine eindrucksvollen Lehren und seine großen Wunder für gewöhnlich dann zutage traten, wenn er das Werk seines Vaters tat. Auf dem Weg nach Emmaus erschien er den Jüngern mit einem Körper aus Fleisch und Gebein. Er nahm Essen zu sich und bezeugte seine Göttlichkeit. Das ereignete sich, nachdem er das Grab verlassen hatte.
Zu einem früheren Zeitpunkt schenkte er, als er auf der Straße nach Jericho unterwegs war, einem Blinden das Augenlicht.
Der Erlöser war immer eifrig damit befasst, zu lehren, Zeugnis zu geben und die Menschen zu erretten. Genau das ist auch heute die Aufgabe eines jeden Mitglieds eines Priestertumskollegiums.
In einer Erklärung der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel vom 6. April 1980 geben sie Zeugnis und verkünden:
„Wir geben feierlich Zeugnis: Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist in der Tat die Wiederherstellung der Kirche, die der Sohn Gottes gegründet hat, als er auf der Erde lebte und sein Werk hier aufrichtete; sie trägt seinen Namen, den Namen Jesu Christi; sie ist auf das Fundament der Apostel und Propheten gegründet und Jesus selbst ist der Schluss-Stein; ihr Priestertum – von der Ordnung Aarons und der Ordnung Melchisedeks – wurde von den Männern wiedergebracht, die in alter Zeit darin amtierten: das Aaronische Priestertum von Johannes dem Täufer und das Melchisedekische von Petrus, Jakobus und Johannes.“5
Am 6. Oktober 1889 sprach Präsident George Q. Cannon diese dringende Bitte aus:
„Ich möchte sehen, wie die Macht des Priestertums stärker wird … Ich möchte erleben, wie sich diese Macht und Kraft durch das ganze Priestertum ausbreiten, und zwar von der Spitze bis hin zum geringsten und einfachsten Diakon der Kirche. Jeder Mann soll nach Offenbarung von Gott streben und erleben, wie Himmelslicht seine Seele erhellt und ihm Kenntnis gibt von seinen Pflichten, von dem Teil des Werkes Gottes, der ihm in seinem Priestertum zufällt.“6
Heute Abend erzähle ich Ihnen von zwei Erlebnissen aus meinem Leben – eines hat sich zugetragen, als ich noch ein Junge war, und das andere betrifft einen Freund von mir, einen Ehemann und Familienvater.
Kurz nach meiner Ordinierung zum Lehrer im Aaronischen Priestertum wurde ich als Präsident des Kollegiums berufen. Wir lagen unserem Berater, Harold, am Herzen, das wussten wir. Einmal sagte er zu mir: „Tom, du züchtest doch Tauben?“
Freudig antwortete ich: „Ja.“
Da schlug er vor: „Was meinst du, soll ich dir ein Paar reinrassige Birmingham Roller schenken?“
Diesmal antwortete ich: „Ja, Sir!“ Immerhin besaß ich nur die gewöhnlichen Tauben, die ich auf dem Dach unserer Grundschule gefangen hatte.
Er lud mich für den nächsten Abend zu sich nach Hause ein. Der folgende Tag war einer der längsten in meinem jungen Leben. Schon eine Stunde, bevor mein Berater von der Arbeit kam, wartete ich auf ihn. Er führte mich zu seinem Taubenschlag, der sich oben in einem kleinen Schuppen hinten im Garten befand. Ich sah vor mir die schönsten Tauben, die ich je gesehen hatte, und er sagte: „Such dir ein Männchen aus, dann gebe ich dir dazu ein Weibchen, das anders ist als alle anderen Tauben auf der Welt.“ Ich traf meine Wahl. Dann gab er mir ein winziges Taubenweibchen in die Hand. Ich fragte ihn, was an ihm so anders sei. Er antwortete: „Schau sie dir genau an, dann siehst du, dass sie nur ein Auge hat.“ Es stimmte, ein Auge fehlte; eine Katze hatte ihr die Verletzung zugefügt. „Nimm sie mit in deinen Taubenschlag“, riet er mir. „Behalt sie etwa zehn Tage drinnen, dann kannst du sie hinauslassen und sehen, ob sie bei dir bleiben.“
Ich befolgte seine Anweisungen. Nachdem ich die Tauben dann hinausgelassen hatte, stolzierte das Männchen oben auf dem Taubenschlag umher und ging dann wieder hinein, um zu fressen. Das einäugige Weibchen aber flog sofort davon. Ich rief Harold an und fragte: „Ist die einäugige Taube zu dir zurückgekommen?“
„Komm rüber“, sagte er, „wir sehen mal nach.“
Als wir von der Küchentür zum Taubenschlag gingen, sagte er: „Tom, du bist doch Präsident des Lehrerkollegiums.“ Das wusste ich. Dann wollte er wissen: „Was willst du unternehmen, um Bob zu aktivieren, der doch zu deinem Kollegium gehört?“
Ich antwortete: „Ich werde ihn diese Woche zur Kollegiumsversammlung bringen.“
Dann griff Harold nach oben in ein Nest und reichte mir die einäugige Taube. „Behalt sie noch ein paar Tage drinnen und versuch es dann wieder.“ Das tat ich, doch auch diesmal verschwand sie sofort. Und wieder das Gleiche: „Komm doch rüber, dann schauen wir nach, ob sie zurückgekommen ist.“ Als wir auf den Taubenschlag zugingen, sagte er: „Ich gratuliere dir, dass du Bob dazu gebracht hast, zur Priestertumsversammlung zu kommen. Was wollt ihr beiden denn jetzt tun, um Bill zu aktivieren?“
„Wir sorgen dafür, dass er diese Woche kommt“, bot ich an.
Das wiederholte sich noch mehrmals. Erst als erwachsener Mann wurde mir bewusst, dass Harold, mein Berater, mir wirklich eine besondere Taube gegeben hatte, nämlich die einzige Taube in seinem Taubenschlag, von der er wusste, dass sie jedes Mal, wenn sie freigelassen wurde, zu ihm zurückkam. Es war seine inspirierte Art, wie er am besten alle zwei Wochen mit dem Präsidenten des Lehrerkollegiums ein Interview haben konnte. Der einäugigen Taube habe ich viel zu verdanken. Noch mehr habe ich meinem Kollegiumsberater zu verdanken. Er hatte die Geduld und das Geschick, mich auf die Aufgaben vorzubereiten, die vor mir lagen.
Als Vater und Großvater tragen wir eine noch größere Verantwortung gegenüber unseren kostbaren Söhnen und Enkeln. Sie brauchen unsere Unterstützung, sie brauchen unsere Ermutigung, sie brauchen unser Beispiel. Jemand hat zu Recht gesagt, dass unsere Jugend weniger Kritiker und mehr Vorbilder braucht.
Nun will ich etwas für die Männer erzählen, die für gewöhnlich nur selten die Versammlungen oder andere Veranstaltungen der Kirche besuchen. Die Zahl der Ältestenanwärter ist gewachsen. Der Grund dafür sind die Jungen aus den Kollegien des Aaronischen Priestertums, die während der Zeit im Aaronischen Priestertum verloren gehen, und auch die erwachsenen Männer, die sich taufen lassen, aber nicht aktiv und im Glauben treu bleiben und somit nicht zum Ältesten ordiniert werden.
Ich denke dabei nicht nur an das Herz und die Seele dieser Männer, sondern mache mir auch Sorgen um ihre Frau und die Kinder. Diese Männer brauchen eine helfende Hand, ein aufmunterndes Wort und das Zeugnis von der Wahrheit, gegeben von jemandem, dessen Herz von Liebe und dem Wunsch erfüllt ist, zu erbauen und aufzurichten.
Mit meinem Freund Shelley war es auch so. Seine Frau und seine Kinder waren gute Mitglieder, aber alle Bemühungen, ihn zur Taufe zu bewegen, sodass er die Segnungen des Priestertums empfangen könne, waren fehlgeschlagen.
Doch dann starb seine Mutter. Shelley war so bekümmert, dass er sich in der Aufbahrungshalle, wo die Beisetzungsfeier stattfand, in einen angrenzenden Raum zurückzog. Wir hatten dafür gesorgt, dass der Trauergottesdienst dorthin übertragen wurde, damit er allein trauern konnte und niemand seine Tränen sah. Als ich ihm in jenem Raum mein Beileid aussprach, ehe ich zum Rednerpult ging, umarmte er mich, und ich wusste, dass etwas sein Herz berührt hatte.
Die Zeit verging. Shelley zog mit seiner Familie in einen anderen Stadtteil. Ich wurde berufen, über die Kanadische Mission zu präsidieren, und zog mit meiner Familie für drei Jahre nach Toronto.
Als ich dann zurückgekehrt und in den Rat der Zwölf Apostel berufen worden war, rief Shelley mich an. Er fragte: „Bischof, können Sie meine Frau, meine Kinder und mich im Salt-Lake-Tempel siegeln?“
Zögernd antwortete ich: „Aber Shelley, dazu müssen Sie sich doch erst taufen lassen.“
Er lachte und erwiderte: „Ach, das habe ich erledigt, während Sie in Kanada waren. Ich wollte Sie überraschen. Es gab da einen Heimlehrer, der uns regelmäßig besuchte und mich in der wahren Lehre unterwies. Er war Schülerlotse. Jeden Morgen stand er an der Kreuzung vor der Schule und half den kleinen Kindern, über die Straße zu kommen, ebenso jeden Nachmittag, wenn sie nach Hause gingen. Er bat mich, ihm dabei zu helfen. Und wenn gerade kein Kind die Straße überquerte, erzählte er mir mehr über die Kirche.“
Ich durfte dieses Wunder mit eigenen Augen schauen und diese Freude im Herzen verspüren. Die Siegelungen fanden statt, eine Familie war vereint. Nicht lange darauf starb Shelley. Ich durfte anlässlich seiner Beisetzung sprechen. Ich werde immer vor mir sehen, wie der Leichnam meines Freundes Shelley im Sarg lag, angetan mit der Tempelkleidung. Gern gestehe ich, dass ich damals vor Dankbarkeit geweint habe, denn jemand, der verloren war, war wiedergefunden worden.
Wer einmal die Berührung durch die Hand des Meisters verspürt hat, kann gar nicht richtig erklären, wie es zu dieser Veränderung in seinem Leben gekommen ist. Auf einmal ist da der Wunsch, ein besseres Leben zu führen, treu zu dienen, demütig zu wandeln und dem Erretter ähnlicher zu werden. Da er gelernt hat, Geistiges wahrzunehmen, und einen ersten Einblick in die Verheißungen der Ewigkeit erhalten hat, sagt er wie der Blinde, dem Jesus das Augenlicht geschenkt hat: „Nur das eine weiß ich, dass ich blind war und jetzt sehen kann.“7
Wie lassen sich solche Wunder erklären? Wie kommt es, dass Männer, die lange geschlummert haben, plötzlich sehr aktiv werden? Ein Dichter schreibt über das Sterben: „Gott rührte ihn an, und er schlief.“8 Und über die Neugeburt sage ich: „Gott rührte sie an, und sie erwachten.“
Für diese Veränderung in Einstellung, Gewohnheiten und Verhalten gibt es vor allem zwei Gründe.
Erstens wurde diesen Menschen ihr ewiges Potenzial vor Augen geführt und sie entschlossen sich, es zu verwirklichen. Wer einmal gesehen hat, dass herausragende Leistungen machbar sind, kann sich nicht lange mit Mittelmäßigkeit zufrieden geben.
Zweitens haben andere Menschen, Männer und Frauen, ja, selbst junge Leute, die Ermahnung des Erretters befolgt und ihren Nächsten geliebt wie sich selbst. Sie haben dazu beigetragen, dass seine Träume in Erfüllung gingen und seine Bestrebungen Wirklichkeit wurden.
Der Grundsatz der Liebe war der Auslöser dabei.
Der Lauf der Zeit hat nichts daran geändert, dass der Erlöser das Leben eines Menschen verändern kann. Wie er zum toten Lazarus sprach, spricht er auch zu Ihnen und zu mir: „Komm heraus!“9 Dem füge ich hinzu: Komm heraus aus der Hoffnungslosigkeit des Zweifels. Komm heraus aus der Trauer der Sünde. Komm heraus aus dem Tod des Unglaubens. Komm heraus zu einem neuen Leben.
Wenn wir das tun und unsere Schritte auf den Weg lenken, den Jesus gegangen ist, dürfen wir das Zeugnis nicht vergessen, das Jesus gab: „Siehe, ich bin Jesus Christus, von dem die Propheten bezeugt haben, er werde in die Welt kommen. … Ich bin das Licht und das Leben der Welt.“10 „Ich bin der Erste und der Letzte; ich bin der, der lebt, ich bin der, der getötet worden ist; ich bin euer Fürsprecher beim Vater.“11
Es gibt Kollegiumsmitglieder und andere, die es sein sollten und die unsere Hilfe brauchen. John Milton schreibt in dem Gedicht „Lycidas“: „Die hungrigen Schafe blicken hoch, aber niemand füttert sie.“12 Der Herr spricht zum Propheten Ezechiel: „Weh den Hirten Israels, die … die Herde … nicht auf die Weide [führen].“13
Und hier, meine Brüder im Priestertum, liegt unsere Aufgabe. Denken wir daran und vergessen wir nie, dass ein solches Unterfangen nicht unmöglich ist. Wunder gibt es überall dort, wo eine Berufung im Priestertum groß gemacht wird. Wenn Glaube an die Stelle von Zweifeln tritt, wenn selbstloses Dienen jedes selbstsüchtige Bestreben auslöscht, dann bringt die Macht Gottes seine Absichten zustande. Wir stehen im Auftrag des Herrn. Wir haben Anspruch auf die Hilfe des Herrn. Aber wir müssen den Versuch unternehmen. Aus dem Bühnenstück Shenandoah stammt dieser inspirierende Satz: „Wenn wir es nicht versuchen, dann tun wir nichts, und wenn wir nichts tun, wozu sind wir dann da?“
Lassen Sie uns alle das Wort nicht nur anhören, sondern danach handeln.14 Lassen Sie uns dem Beispiel unseres Präsidenten, Gordon B. Hinckley, des Propheten des Herrn, folgen.
Mögen wir wie damals die Jünger der Einladung Christi folgen: „Folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“15 Darum bete ich im Namen Jesu Christi. Amen.