Das ist das ewige Leben – Gott zu erkennen
Wir können uns geistige Erkenntnisse aneignen, wenn wir in Leid, Schmerz und Kummer auf Christus blicken.
Der Chor hat gesungen: „Jesus, wenn ich nur denk an dich“1. Im Buch Mormon prophezeit Nephi über den Messias:
„Und wegen ihres Übeltuns wird die Welt über ihn urteilen, er sei ein Nichts; darum geißeln sie ihn, und er erduldet es; und sie schlagen ihn, und er erduldet es. Ja, sie speien ihn an, und er erduldet es wegen seines liebevollen Wohlwollens und seiner Langmut gegenüber den Menschenkindern.“2
Das große, außerordentliche Leiden des Erretters galt uns – damit wir davor bewahrt werden, so zu leiden, wie er gelitten hat.3 Dennoch ist Leid ein Bestandteil des Lebens, und nur wenige können ihm entgehen. Weil jeder von uns gelitten hat, leidet oder noch leiden wird, gibt es in den heiligen Schriften einen guten Rat: Wir können uns geistige Erkenntnisse aneignen, wenn wir in Leid, Schmerz und Kummer auf Christus blicken. Vor alters schrieb Paulus, dass unser Leiden uns die Gelegenheit geben kann, den Erretter besser zu kennen zu lernen. Er schrieb an die Römer:
„So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.
Sind wir aber Kinder, dann auch Erben; wir sind Erben Gottes und sind Miterben Christi, wenn wir mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.“4
Dass wir uns auf die Suche nach Mühsal und Leid machen sollen, steht da allerdings nicht. Es geht vielmehr um die Einstellung, mit der wir an unsere Bedrängnisse und Prüfungen herangehen sollen und durch die wir den Erretter besser kennen lernen können. Die Erfahrung lehrt uns, dass Leid zu den Ereignissen im Leben gehört, die ohne unser Zutun eintreten. Wenn ich ein persönliches Beispiel verwenden darf:
Vor ein paar Jahren, als unser ältester Sohn etwa ein Jahr alt war, war ich der Auslöser für scheinbar unnötiges Leid. Meine Frau und ich studierten noch, und eines Abends hatte ich mit meinem Jungen auf dem Fußboden gespielt. Ich verließ das Zimmer, um zu lernen, und als ich die Tür hinter mir schloss, wollte er anscheinend nach mir greifen, hob die Hand über den Kopf und geriet mit seinem Finger zwischen die Türangeln. Sein Finger wurde dabei ziemlich schwer verletzt.
Wir fuhren eilig zur Notaufnahme im Krankenhaus, er bekam eine örtliche Betäubung und der Arzt kam; er versicherte uns, der Finger könne wiederhergestellt werden. Es war beinahe paradox – das Einzige, was mein Sohn in diesem Moment wollte, war, von seinem Vater gehalten zu werden. Solange er mich sehen konnte, wehrte er alle Bemühungen ab, seinen Arm für die doch recht komplizierte Operation festbinden zu lassen. Erst als ich den Raum verließ, beruhigte er sich und konnte ärztlich versorgt werden.
Währenddessen war ich voll Sorge, hielt mich ständig in der Nähe der offenen Tür auf und schaute um die Ecke, um zu sehen, wie alles ging. Vielleicht nahm er gewissermaßen mit dem sechsten Sinn etwas wahr, denn jedes Mal, wenn ich still und leise um die Ecke guckte, die sich schräg hinter ihm befand, hob er den Kopf und strengte sich an, um zu sehen, ob ich da sei.
Einmal warf ich einen Blick auf ihn, wie er so dalag, den Arm zur Seite gestreckt, den Kopf erhoben, um nach seinem Vater auszuschauen, und da kam mir der Gedanke an einen anderen Sohn in den Sinn, dessen ausgestreckte Arme ans Kreuz genagelt waren und der nach seinem Vater ausschaute, und mir fielen die Worte ein: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“5 Aus diesem sehr traumatischen Augenblick in meinem Leben wurde auf einmal ein sehr heiliger.
Es gibt in den heiligen Schriften eine Reihe von Männern und Frauen, die anscheinend immer auf Christus geblickt haben – Menschen, die ungeachtet dessen, welchen Schmerz oder welches Unrecht das Leben ihnen bescherte, ihrem Glauben treu blieben und bereitwillig ausharrten. Da ist zum Beispiel Abraham, dem das Land seiner Väter genommen wurde und dem geboten wurde, Isaak zu opfern. Oder Josef, der von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft wurde, der eingekerkert wurde, weil er Tugend und Keuschheit in Ehren hielt, und der wegen eines gedankenlosen Knechts noch länger im Gefängnis bleiben musste. Oder Rut, die schon früh verwitwet und mittellos, aber ihrer Schwiegermutter mit unwandelbarer Treue zugetan war. Oder die drei Männer, die alle den Namen Nephi trugen, ebenso Alma und sein Sohn und natürlich der Prophet Joseph Smith.
Besonders bemerkenswert ist für mich Nephis Ausdauer. Er ertrug den steten Hass seiner Brüder und verbrachte vier Tage lang gefesselt auf dem Schiff, das zum verheißenen Land segelte. Er konnte sich nicht bewegen. Am vierten Tag, als sie nahe daran schienen, vom Meer verschlungen zu werden, fürchteten seine Brüder, sie könnten zugrunde gehen, und sie „lösten die Fesseln, die um [seine] Handgelenke waren; und siehe, sie waren über die Maßen angeschwollen; und auch [seine] Knöchel waren sehr geschwollen, und sie schmerzten sehr.
Dennoch schaute [er] zu [seinem] Gott auf und … pries ihn den ganzen Tag lang und … murrte nicht.“6
Erinnern Sie sich jedoch, dass es Nephi war, der schrieb: „[Sie] geißeln … ihn, und er erduldet es; sie schlagen ihn, und er erduldet es. Ja, sie speien ihn an, und er erduldet es.“7 Nephi verstand das.
Der Grund für unser Leiden ist nicht immer gleich ersichtlich, doch der Prophet Joseph Smith hatte beispielsweise ein einzigartiges geistiges Erlebnis in der Zeit, die er im Gefängnis von Liberty verbrachte. Der Herr sprach ihm Trost zu:
„Mein Sohn, Friede sei deiner Seele; dein Ungemach und deine Bedrängnisse werden nur einen kleinen Augenblick dauern,
und dann, wenn du gut darin ausharrst, wird Gott dich in der Höhe erhöhen; du wirst über alle deine Feinde triumphieren.“8
„Wisse, mein Sohn, dass dies alles dir Erfahrung bringen und dir zum Guten dienen wird.
Des Menschen Sohn ist unter das alles hinabgefahren. Bist du größer als er?“9
Wenn von uns verlangt wird, Leid zu ertragen, das uns mitunter absichtlich oder aus Fahrlässigkeit zugefügt wird, geraten wir in eine einzigartige Situation: Wenn wir wollen, kann uns dadurch das Leiden des Sohnes Gottes neu bewusst werden. Wenn Alma uns sagt, dass Christus alles erlitten hat, was jeder von uns jemals erleiden wird, damit er wisse, wie er uns beistehen könne,10 dann kann es auch umgekehrt so sein: Unser Leid vermag uns Einblick in die Tiefe und die Größe seines Sühnopfers zu geben.
Als ich über das Erlebnis mit meinem Sohn nachgedacht habe, das so viele Jahre zurückliegt, hat es mir neue Einsichten verschafft und vielleicht sogar ein tieferes Verständnis für die Größe und die Herrlichkeit des Sühnopfers. Ich habe größere Wertschätzung dafür, was ein Vater bereit war, seinen Sohn durchmachen zu lassen – für mich und für jeden von uns. Ich lernte besser verstehen, wie tief und umfassend das Sühnopfer ist. Ich konnte mir nicht vorstellen, meinen Sohn aus freien Stücken auch nur so geringfügig leiden zu lassen – und unser Vater „hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“11.
Wir haben zwar nie darüber gesprochen, aber auch mein Sohn hat nun die Gelegenheit, folgende Aussage des Erretters schätzen zu lernen: „Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände, deine Mauern habe ich immer vor Augen.“12
Obwohl ich nicht behaupten will, dass irgendetwas hier an das heilige Sühnopfer heranreichen kann, ist die Narbe an der Hand meines Sohnes beständig vor ihm und er kann, wenn er möchte, seine Narbe als Erinnerung an die Wunden in den Handflächen des Erretters nutzen, die dieser wegen unserer Sünden erlitten hat. Er kann auf seine Weise die Liebe erfassen lernen, die der Erretter für uns empfindet und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass er sich aus freien Stücken um unsertwillen Narben zufügen und sich verwunden, verunstalten und zerbrechen ließ.
Obwohl Leid uns Einsicht zu geben vermag, müssen wir doch vorsichtig sein und dürfen keine Vergleiche ziehen, vielmehr müssen wir umso mehr Wertschätzung empfinden. Zwischen uns und dem Erretter wird es immer unendliche Unterschiede geben. Seine Bemerkung gegenüber Pilatus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht … gegeben wäre,“13 erinnert uns erneut daran, dass er sein Opfer bereitwillig und aus freien Stücken gebracht hat. Wir können niemals die Tiefe, die Außerordentlichkeit und das Ausmaß seines Leidens ertragen: „Dieses Leiden ließ selbst mich, Gott, den Größten von allen, der Schmerzen wegen zittern und aus jeder Pore bluten und an Leib und Geist leiden.“14 Doch wie Nephi können wir das, was er vollbracht hat, mehr schätzen lernen und spüren, wie sein Geist uns beisteht. Wir können den Erretter wahrhaft kennen lernen, und „das ist das ewige Leben: [ihn] … zu erkennen“15.
Ich gebe Zeugnis, dass Jesus Christus der Erretter der Welt ist, dass wir durch sein Leiden und sein Sühnopfer Vergebung unserer Sünden empfangen und ewiges Leben erlangen können. Ich lege Zeugnis von seiner Sanftmut, seiner Liebe und Güte ab. Er ist der Einziggezeugte des Vaters und hat in allem den Willen des Vaters getan. Im Namen Jesu Christi. Amen.