2000–2009
Festhalten
Oktober 2009


2:3

Festhalten

Der himmlische Vater hat uns in unserer irdischen Prüfungszeit nicht allein gelassen. Er hat uns bereits die gesamte Sicherheitsausrüstung mitgegeben, die wir brauchen, um zu ihm zurückzukehren.

Vor einigen Jahren las ich eine kurze Meldung in meiner Lokalzeitung, die meine Aufmerksamkeit weckte und mir seither im Gedächtnis geblieben ist: „Vier Menschen starben und sieben Arbeiter wurden gerettet, nachdem das Gerüst, auf dem sie gearbeitet hatten, zusammengebrochen war. Über eine Stunde lang hatten sie sich an der Unterseite einer fast vierzig Meter hohen Brücke in St. Catharines, Ontario, festgeklammert.“ („News Capsules“, Deseret News, 9. Juni 1993, Seite A2.)

Diese kurze Geschichte fasziniert mich bis heute. Kurz nachdem ich den Bericht gelesen hatte, rief ich eine Freundin unserer Familie in St. Catharines an. Sie erklärte mir, dass die Garden-City-Skyway-Brücke schon seit ungefähr einem Jahr neu gestrichen wurde und die Arbeiten kurz vor dem Abschluss standen, als sich der Unfall ereignete. Nach dem Unfall wurden die Verantwortlichen gefragt, warum die Arbeiter keine Sicherheitsausrüstung gehabt hatten. Die Antwort war simpel: Die Arbeiter hatten die Ausrüstung gehabt, sie aber nicht getragen. Nachdem das Gerüst eingestürzt war, hielten sich die Überlebenden über eine Stunde lang an einer gut zwei Zentimeter breiten Kante eines Stahlträgers fest und standen dabei auf einem zwanzig Zentimeter breiten Vorsprung, bis die Rettungsmannschaften sie erreichen konnten. Einer der Überlebenden berichtete, er habe viel an seine Familie gedacht, als er so an der Brücke hing. Er sagte: „Ich danke dem Herrn, dass ich heute hier sein kann. … Es war ganz schön beängstigend, das kann ich Ihnen versichern.“ (Rick Bogacz, „Skyway Horror“, Standard, 9. Juni 1993.)

Aus diesem Vorfall kann man viel lernen, und man kann einige Vergleiche ziehen. Auch wenn die meisten von uns nie in eine so dramatische Lage geraten werden, in der es um Leben und Tod geht, meinen doch viele von uns, dass sie selbst gerade eine beängstigende Zeit durchmachen.

Es kommt uns vielleicht so vor, als hielten auch wir uns an einer zwei Zentimeter breiten Kante eines Stahlträgers fest. Unsere irdische Prüfungszeit ist nicht einfach, und sie ist nicht kurz. Wir haben Glück, dass wir auf die Erde kommen und einen sterblichen Körper haben dürfen. Dieses Leben ist unsere Chance, uns zu beweisen und unsere Entscheidungsfreiheit auszuüben (siehe Abraham 3:25). Wir können uns dafür entscheiden, dem ewigen Plan des himmlischen Vaters zu unserer Errettung (siehe Jarom 1:2, Alma 42:5, Mose 6:62) und Erlösung (siehe Jakob 6:8, Alma 12:25, 42:11) zu folgen oder unseren eigenen Weg finden wollen. Wir können gehorsam sein und Gottes Gebote halten oder sie verwerfen und uns den Folgen stellen, die sicherlich eintreten werden.

Auch unsere Stellenbeschreibung und unser Pflichtenkatalog enthält Gefahren. Wir müssen mit Herausforderungen fertig werden. Wir mögen Einsamkeit erleben, gespannte Beziehungen, Vertrauensbruch, Versuchungen, Abhängigkeiten, körperliche Behinderungen oder den Verlust unseres so dringend benötigten Arbeitsplatzes. Vielleicht macht uns Enttäuschung zu schaffen, weil unsere gerechten Hoffnungen und Träume sich nicht nach unserem Zeitplan erfüllt haben. Möglicherweise zweifeln wir an unseren Fähigkeiten und haben Angst zu versagen, sogar bei unseren Aufgaben in der Kirche und in der Familie. Die Probleme und Gefahren der heutigen Zeit – darunter auch, dass die Gesellschaft Sünde toleriert – sind von Propheten in alter und neuer Zeit vorhergesagt worden. Sie sind genauso prekär und real wie die Gefahr, von einer hohen Brücke vierzig Meter in den sicheren Tod zu stürzen.

Mein Leben ist nicht vollkommen. Auch ich habe mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen. So geht es uns allen. Ich weiß, dass die Versuchungen des Widersachers und die Schwierigkeiten des Erdenlebens stets präsent sind und uns alle bedrängen. Ich pflichte dem geretteten Arbeiter bei, der über seine gefährliche Lage, als er sich an dem Stahlträger festhielt, sagte: „Es ist ganz schön beängstigend, das kann ich Ihnen versichern.“

Ich muss jedoch anmerken, dass es in den heiligen Schriften kaum Geschichten über Menschen gibt, die in Glückseligkeit schwelgten und nie auf Widerstand stießen. Wir lernen und wachsen dadurch, dass wir Schwierigkeiten durch Glauben, Ausdauer und unsere eigene Rechtschaffenheit überwinden. Präsident Thomas S. Monsons grenzenloses Vertrauen in den himmlischen Vater und in uns gibt mir Kraft. Er hat gesagt: „Vergessen Sie nicht, dass Sie in diesem Werk Anspruch auf die Segnungen des [himmlischen] Vaters haben. Er hat Sie nicht zu dieser besonderen Aufgabe berufen, um Sie dann allein zu lassen, ohne jede Führung, auf Ihr Glück angewiesen. Im Gegenteil. Er kennt Ihre Fähigkeiten, er sieht Ihre Hingabe, und er wird Ihre vermeintlichen Unzulänglichkeiten in sichtbare Stärken umwandeln. Er hat verheißen: ‚Ich werde vor eurem Angesicht hergehen. Ich werde zu eurer rechten Hand sein und zu eurer linken, und mein Geist wird in eurem Herzen sein und meine Engel rings um euch, um euch zu stützen.‘“ („Zuckerrüben und der Wert der Seele“, Liahona, Juli 2009, Seite 3f.)

Der himmlische Vater hat uns in unserer irdischen Prüfungszeit nicht allein gelassen. Er hat uns bereits die gesamte Sicherheitsausrüstung mitgegeben, die wir brauchen, um zu ihm zurückzukehren. Er hat uns das persönliche Gebet, die heiligen Schriften, lebende Propheten und den Heiligen Geist gegeben, um uns zu führen. Manchmal mag es uns beschwerlich, peinlich oder schrecklich unmodern vorkommen, diese Ausrüstung zu benutzen. Die richtige Nutzung erfordert von uns Eifer, Gehorsam und Ausdauer. Ich bin jedoch entschlossen, sie zu benutzen. Wir alle müssen uns dazu entschließen.

In den heiligen Schriften erfahren wir etwas über eine weitere wichtige Sicherheitsausrüstung, eine „eiserne Stange“. Jeder Jünger unseres Herrn Jesus Christus ist aufgefordert, sich an dieser Stange festzuhalten, um sicher den Weg zum ewigen Leben zu finden. Ich spreche über Lehis Vision vom Baum des Lebens, die wir im Buch Mormon finden.

Durch persönliche Offenbarung von Gott haben der Prophet Lehi und sein Sohn Nephi jeweils in einer Vision unsere irdische Bewährungszeit und die damit verbundenen Gefahren gesehen. Lehi sagt: „Und es begab sich: Es stieg ein Nebel der Finsternis auf, ja, ein überaus dichter Nebel der Finsternis, sodass diejenigen, die den Pfad betreten hatten, ihren Weg verloren, sodass sie abirrten und verloren gingen.“ (1 Nephi 8:23.) Doch „er sah [auch] andere Scharen vorwärtsstreben; und sie kamen und ergriffen das Ende der eisernen Stange, und sie strebten auf ihrem Weg vorwärts und hielten sich dabei beständig an der eisernen Stange fest, bis sie herzukamen und niederfielen und von der Frucht des Baumes aßen“ (1 Nephi 8:30), also vom Baum des Lebens.

Aus Lehis Vision lernen wir, dass wir dieses sichere Geländer ergreifen müssen, die eiserne Stange, die auch an unserem eigenen engen und schmalen Pfad entlangführt; und wir müssen uns daran festhalten, bis wir unser Endziel, das ewige Leben beim Vater im Himmel, erreicht haben. Nephi verheißt, dass diejenigen, die an der eisernen Stange festhalten, „niemals zugrunde gehen; auch [können] die Versuchungen und die feurigen Pfeile des Widersachers sie nicht mit Blindheit schlagen, um sie weg ins Verderben zu führen“ (1 Nephi 15:24).

Ich lege Ihnen ans Herz, die vollständige Beschreibung dieser inspirierten Vision noch einmal zu lesen. Befassen Sie sich gründlich damit, denken Sie darüber nach und beziehen Sie alles auf Ihr tägliches Leben. In der heutigen Ausdrucksweise könnte man sagen, dass wir nur zupacken müssen. Wir müssen an der eisernen Stange festhalten und dürfen niemals loslassen.

Präsident Harold B. Lee, der zu der Zeit Prophet war, als ich ein Teenager war, sagte einmal: „Wenn es eines gibt, was wir in dieser lärmenden und frustrierenden Zeit wirklich brauchen, in der Männer wie Frauen, Jugendliche wie junge Erwachsene verzweifelt eine Lösung für die Probleme suchen, welche die Menschheit bedrängen, dann ist es eine, eiserne Stange‘ – ein sicherer Halt entlang des schmalen Pfades zum ewigen Leben, mitten in den merkwürdigen und verwinkelten Straßenzügen, die letzten Endes zur Zerstörung und zum Verfall all dessen führen, was, tugendhaft, liebenswert oder von gutem Klang‘ ist.“ („The Iron Rod“, Ensign, Juni 1971, Seite 7.)

Diese Aussage war zutreffend, als ich ein Teenager war, und trifft heute vielleicht noch mehr zu. Die Worte der Propheten warnen uns, lehren uns und führen uns zur Wahrheit – ob sie nun 600 v. Chr., 1971 oder 2009 ausgesprochen wurden. Ich möchte Sie aufrufen, den inspirierten Worten derer, die wir als Propheten, Seher und Offenbarer bestätigen, zuzuhören, sie zu glauben und nach ihnen zu handeln.

An der eisernen Stange festzuhalten ist nicht immer leicht. Gruppenzwang oder Stolz können uns dazu bringen, loszulassen, in dem Glauben, wir könnten später den Weg zurück wiederfinden. Wenn wir das tun, lassen wir unsere Sicherheitsausrüstung zurück. In seiner Vision sah Lehi viele, die die eiserne Stange losließen. Nephi sagt: „Und viele verlor er aus den Augen, denn sie wandelten auf fremden Pfaden.“ (1 Nephi 8:32.) Wenn wir schwierige Zeiten erleben, stellen wir vielleicht fest, dass auch wir „auf fremden Pfaden“ wandeln. Ich versichere Ihnen, dass es für uns immer möglich ist, den Weg zurückzufinden. Durch Umkehr, die dank des Sühnopfers unseres Erlösers Jesus Christus möglich ist, können wir mit neuer Entschlossenheit wieder festen Halt an der eisernen Stange finden und wieder die liebevolle Führung des himmlischen Vaters erleben. Die Einladung des Heilands bleibt bestehen: Kehrt um, haltet fest und lasst nicht los.

Wie Nephi ermahne ich Sie mit der ganzen Kraft meiner Seele, dass Sie „dem Wort Gottes Beachtung … schenken und darauf bedacht [sein mögen], seine Gebote jederzeit in allem zu halten“ (1 Nephi 15:25). Benutzen Sie die Sicherheitsausrüstung, die Gott Ihnen bereitgestellt hat. Halten Sie fest und glauben Sie daran, dass der himmlische Vater Sie für Ihren Eifer segnen wird.

Ich weiß, dass das wiederhergestellte Evangelium wahr ist. Wir werden von einem lebenden Propheten Gottes geführt, nämlich Präsident Thomas S. Monson. Ich betrachte es als großen Vorzug und Segen, seine Tochter zu sein. Ich liebe meine Eltern sehr.

Als ich eines Abends etwas mutlos war, sagte ich zu ihm: „Ach, Vater, die Segnungen, die wir als Mitglieder der Kirche empfangen, und die verheißenen Segnungen des Tempels sind so schön, wenn wir nur danach greifen und sie annehmen.“ Ohne zu zögern antwortete er: „Ann, sie bedeuten alles.“

Mögen wir an den ewigen Wahrheiten des Evangeliums Jesu Christi festhalten, weil sie buchstäblich alles bedeuten. Darum bete ich aufrichtig im Namen Jesu Christi. Amen.