Schule dein Gefühl, o Bruder
Wenn wir immer einen guten Geist bei uns haben wollen, müssen wir uns dafür entscheiden, nicht zornig zu werden.
Brüder, wir sind als mächtige Körperschaft des Priestertums sowohl hier im Konferenzzentrum als auch an anderen Orten überall auf der Welt zusammengekommen. Wir haben inspirierende Botschaften gehört, und ich danke den Brüdern, die zu uns gesprochen haben. Ich fühle mich geehrt, bin jedoch auch etwas beschämt, dass ich nun zu Ihnen sprechen darf, und bete, dass der Herr mich inspirieren möge.
Als ich vor kurzem die Nachrichten im Fernsehen anschaute, merkte ich, dass viele der Berichte einander ähneln, denn die Tragödien, von denen berichtet wird, sind im Grunde alle auf ein Gefühl zurückzuführen: Zorn. Der Vater eines Säuglings war festgenommen worden, weil er ihn misshandelt hatte. Vermutlich hatte das Geschrei des Babys ihn so wütend gemacht, dass er ihm eines seiner Gliedmaßen und mehrere Rippen gebrochen hatte. Alarmierend war der Bericht, dass Banden immer gewalttätiger werden und auch die Zahl der darauf zurückzuführenden Morde stark angestiegen ist. Ein anderer Bericht handelte davon, dass eine Frau von ihrem Noch-Ehemann in rasender Eifersucht erschossen wurde, nachdem dieser sie mit einem anderen erwischt hatte. Dann gab es natürlich noch die üblichen Berichte von Kriegen und Konflikten in aller Welt.
Ich musste an die Worte des Psalmisten denken: „Steh ab von Zorn und lass den Grimm.“1
Vor vielen Jahren rief ein junges Paar in meinem Büro an und fragte, ob es vorbeikommen könne, weil es meinen Rat brauchte. Die Eheleute deuteten an, dass etwas Schreckliches geschehen war und ihre Ehe ernsthaft in Gefahr war. Wir vereinbarten einen Termin.
Die Spannung zwischen den Eheleuten war deutlich, als sie mein Büro betraten. Die Geschichte entfaltete sich zunächst langsam, weil der Mann nur stockend sprach und die Frau leise weinte und sehr wenig zu dem Gespräch beitrug.
Der junge Mann war von Mission zurückgekehrt und an einer angesehenen Universität im Osten der Vereinigten Staaten angenommen worden. Dort, in einer Universitätsgemeinde, hatte er seine zukünftige Frau kennengelernt. Sie studierte dort ebenfalls. Sie waren ein Jahr ein Paar, als sie nach Utah kamen, im Salt-Lake-Tempel heirateten und kurz darauf in den Osten zurückkehrten, um ihr Studium abzuschließen.
Zu der Zeit, als sie mit ihrem Abschluss in der Tasche in ihren Heimatstaat zurückkehrten, erwarteten sie ihr erstes Kind und der Mann hatte Arbeit auf seinem Fachgebiet. Die Frau brachte einen Jungen zur Welt. Das Leben meinte es gut.
Als ihr Sohn etwa 18 Monate alt war, wollten sie einen Kurzurlaub machen und Angehörige besuchen, die ein paar hundert Kilometer entfernt wohnten. Zu dieser Zeit gab es kaum Kindersitze oder Sicherheitsgurte für Erwachsene, geschweige denn, dass man sie benutzte. Also saßen alle drei auf den Vordersitzen, das Kind saß in der Mitte.
Während der Fahrt geriet das Ehepaar in einen Streit. Nach all den Jahren weiß ich nicht mehr, worum es ging. Aber ich weiß noch, dass der Streit immer heftiger wurde und so ausartete, dass sie einander schließlich anschrien. Es ist verständlich, dass ihr kleiner Sohn zu weinen begann, was, wie der Mann sagte, seine Wut noch vergrößerte. Er verlor jede Beherrschung über sich, hob ein Spielzeug auf, das das Kind auf den Sitz fallen lassen hatte, und warf es nach seiner Frau.
Jedoch verfehlte er sie. Stattdessen traf das Spielzeug seinen Sohn und führte dazu, dass dieser einen Hirnschaden erlitt und sein ganzes Leben lang behindert blieb.
Das war eine der tragischsten Situationen, die mir jemals untergekommen waren. Ich gab ihnen Rat und machte ihnen Mut. Wir sprachen von Bindung und Verantwortung und dass man akzeptieren und vergeben muss. Wir sprachen davon, welche Zuneigung und Achtung in die Familie zurückkehren mussten. Wir lasen tröstliche Worte aus den heiligen Schriften. Wir beteten miteinander. Ich habe zwar seit jenem Tag vor so langer Zeit nichts mehr von ihnen gehört, doch hinter den Tränen trugen sie ein Lächeln, als sie mein Büro verließen. In all diesen Jahren habe ich gehofft, dass sie den Entschluss gefasst haben, zusammenzubleiben – getröstet und gesegnet durch das Evangelium Jesu Christi.
Ich muss immer an sie denken, wenn ich diese Worte lese: „Zorn ist für nichts eine Lösung. Er baut nichts auf, kann aber alles zerstören.“2
Wir alle haben schon Zorn empfunden. Er kann aufkommen, wenn etwas nicht so läuft, wie wir es gern hätten. Er kann die Reaktion auf etwas sein, was man über uns oder zu uns sagt. Wir empfinden ihn vielleicht, wenn sich jemand nicht so verhält, wie wir es wünschen. Er kommt vielleicht auf, wenn wir länger auf etwas warten müssen, als wir erwartet haben. Oder wir werden zornig, weil jemand etwas nicht aus dem gleichen Blickwinkel betrachten kann wie wir. Es scheint für Zorn schier unzählige Gründe zu geben.
Manchmal regen wir uns auf, weil wir uns einbilden, gekränkt oder ungerecht behandelt worden zu sein. Präsident Heber J. Grant, der siebte Präsident der Kirche, berichtete einmal, dass er als junger Erwachsener für einen Mann gearbeitet hatte, der ihm einen Scheck über fünfhundert Dollar zukommen ließ und sich in einem Brief entschuldigte, dass er ihm nicht mehr zahlen konnte. Dann arbeitete Präsident Grant für einen anderen Mann – und diese Arbeit, sagte er, sei zehnmal schwieriger gewesen, habe zehnmal mehr Einsatz verlangt und sehr viel länger gedauert. Dieser Mann schickte ihm einen Scheck über hundertfünfzig Dollar. Der junge Heber fühlte sich äußerst ungerecht behandelt. Zuerst war er beleidigt, dann sehr aufgebracht.
Er erzählte einem älteren Freund davon, der ihn fragte: „Wollte dieser Mann dich denn beleidigen?“
Präsident Grant erwiderte: „Nein. Er hat meinen Freunden gesagt, er hätte mich sehr großzügig entlohnt.“
Da entgegnete der ältere Freund: „Wer etwas als Beleidigung auffasst, was nicht so gemeint war, ist ein Dummkopf.“3
Der Apostel Paulus stellt in Epheser, Kapitel 4, Vers 26 der Joseph-Smith-Übersetzung die Frage: „Könnt ihr zornig sein und nicht sündigen? Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.“ Ich frage: Ist es möglich, den Geist des himmlischen Vaters zu spüren, wenn wir zornig sind? Ich kenne kein Beispiel, wo das der Fall sein könnte.
In 3 Nephi im Buch Mormon lesen wir:
„Es soll unter euch keine Auseinandersetzungen geben …
Denn wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer den Geist des Streites hat, ist nicht von mir, sondern ist vom Teufel, der der Vater des Streites ist, denn er stachelt den Menschen das Herz auf, im Zorn miteinander zu streiten.
Siehe, es ist nicht meine Lehre, den Menschen das Herz mit Zorn gegeneinander aufzustacheln; sondern es ist meine Lehre, dass Derartiges hinweggetan werden soll.“4
Wenn man zornig wird, gibt man dem Einfluss des Satans nach. Niemand kann uns zornig machen. Das ist unsere eigene Entscheidung. Wenn wir immer einen guten Geist bei uns haben wollen, müssen wir uns dafür entscheiden, nicht zornig zu werden. Ich bezeuge, dass dies möglich ist.
Der Zorn, das Werkzeug des Satans, ist auf vielerlei Weise zerstörerisch.
Ich glaube, die meisten von uns kennen die traurige Begebenheit von Thomas B. Marsh und seiner Frau Elizabeth. Bruder Marsh war einer der ersten Apostel der Neuzeit, die berufen wurden, nachdem die Kirche auf Erden wiederhergestellt war. Er wurde schließlich Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel.
Als die Heiligen in Far West in Missouri lebten, beschlossen Thomas Marshs Frau Elizabeth und ihre Freundin, Schwester Harris, ihre Milch zusammenzutun, damit sie mehr Käse herstellen konnten, als es sonst möglich gewesen wäre. Damit es gerecht dabei zuging, kamen sie überein, die Milch nicht zu entrahmen, sondern den Rahm in der Milch zu lassen. Der Rahm bildete sich erst, wenn man mit dem Melken fast fertig war, und war fetthaltiger.
Schwester Harris hielt sich an die Vereinbarung, aber Schwester Marsh, die besonders guten Käse herstellen wollte, hob von jeder Kuh einen halben Liter Rahm auf und schickte Schwester Harris die entrahmte Milch. Das führte zu einem Streit zwischen den beiden Frauen. Als sie die Auseinandersetzung nicht bereinigen konnten, sollten sich die Heimlehrer der Sache annehmen. Diese kamen zu dem Schluss, dass Elizabeth Marsh sich nicht an die Übereinkunft gehalten hatte. Sie und ihr Mann waren über diese Entscheidung erbost, und die Angelegenheit wurde dem Bischof für ein kirchliches Gerichtsverfahren vorgelegt. Das Bischofsgericht stellte fest, dass es falsch gewesen war, den Rahm einzubehalten, und dass Schwester Marsh gegen die Vereinbarung mit Schwester Harris verstoßen hatte.
Thomas Marsh legte Berufung beim Hoherat ein, und die Männer in dem Rat bestätigten die Entscheidung des Bischofs. Daraufhin legte er Berufung bei der Ersten Präsidentschaft der Kirche ein. Joseph Smith und seine Ratgeber prüften den Fall und bestätigten die Entscheidung des Hoherates.
Elder Thomas B. Marsh, der die ganze Zeit hinter seiner Frau gestanden hatte, wurde mit jeder neuen Entscheidung zorniger – so zornig, dass er sogar vor einem Friedensrichter unter Eid aussagte, die Mormonen seien dem Staat Missouri feindlich gesinnt. Diese eidesstattliche Erklärung führte dazu – oder trug zumindest dazu bei –, dass Gouverneur Lilburn Boggs den grausamen Ausrottungsbefehl erließ, durch den über 15 000 Heilige aus ihren Häusern vertrieben wurden, was schreckliches Leid nach sich zog und weshalb viele ihr Leben lassen mussten. All das war die Folge eines Streits über den Austausch von Milch und Rahm.5
Nach neunzehn Jahren voller Groll und Verlusten zog Thomas B. Marsh ins Salzseetal und bat Präsident Brigham Young um Vergebung. Bruder Marsh schrieb auch an Heber C. Kimball, den Ersten Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, welche Lektion er gelernt hatte. Bruder Marsh schrieb: „Der Herr ist gut ohne mich ausgekommen und hat durch mein Weggehen nichts eingebüßt, doch was habe ich dabei verloren! Reichtümer, größere Reichtümer, als die ganze Welt oder viele Planeten wie dieser jemals hervorbringen können.“6
Dazu passen die Worte des Dichters John Greenleaf Whittier: „Von allen traurigen Worten, die gesagt oder geschrieben worden sind, sind die traurigsten: Es hätte sein können.“7
Meine Brüder, wir alle sind anfällig für diese Gefühle, die, wenn sie nicht gezügelt werden, zum Zorn führen können. Wir erleben Verdruss, Ärger oder Feindseligkeit und, wenn wir uns dazu entscheiden, verlieren wir die Beherrschung und sind zornig auf andere. Welch Ironie, dass diese oft zur eigenen Familie gehören – die Menschen, die wir eigentlich am meisten lieben.
Vor vielen Jahren las ich in einer Zeitung die folgende Meldung von Associated Press: Ein alter Mann enthüllte bei der Beerdigung seines Bruders, mit dem er vom frühen Mannesalter an in Canisteo im Staat New York eine kleine Hütte mit nur einem Zimmer bewohnt hatte, dass sie nach einem Streit das Zimmer mit einem Kreidestrich in zwei Hälften geteilt und seither weder diese Linie überschritten noch ein Wort miteinander gesprochen hatten – und das 62 Jahre lang. Überlegen Sie einmal, was für Folgen dieser eine Augenblick voller Zorn hatte! Welch eine Tragödie!
Mögen wir uns immer, wenn wir diese Entscheidung treffen müssen, bewusst entschließen, nicht zornig zu werden und die schroffen, kränkenden Bemerkungen, zu denen wir vielleicht versucht sind, nicht auszusprechen.
Mir gefällt der Text des Liedes von Elder Charles W. Penrose, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Kollegium der Zwölf Apostel und der Ersten Präsidentschaft angehört hat:
Schule dein Gefühl, o Bruder,
zügle deine Heftigkeit!
Lass vom Bösen nie dich zwingen,
brauche Weisheit allezeit!
Macht allein stets wirst du finden
in dem ruhigen Gemüt,
Zorn zerstört die besten Werke,
macht das klarste Denken trüb.8
Jeder von uns trägt das Priestertum Gottes. Der Eid und Bund des Priestertums gilt für uns alle. Jedem, der das Melchisedekische Priestertum trägt, wird damit gesagt, dass es ihm obliegt, Gottes Gesetze treu zu befolgen und die Berufungen groß zu machen, die ihm übertragen werden. Jedem Träger des Aaronischen Priestertums wird gesagt, welche Pflichten und Aufgaben auf ihn warten, damit man sich hier und jetzt darauf vorbereiten kann.
Der Herr beschreibt den Eid und Bund des Priestertums wie folgt:
„Denn diejenigen, die treu sind, sodass sie diese zwei Priestertümer erlangen, von denen ich gesprochen habe, und ihre Berufung groß machen, werden vom Geist geheiligt, sodass sich ihr Körper erneuern wird.
Sie werden Söhne Moses und Aarons und Nachkommen Abrahams und die Kirche und das Reich und die Auserwählten Gottes.
Und alle, die dieses Priestertum empfangen, die empfangen auch mich, spricht der Herr; denn wer meine Knechte empfängt, der empfängt mich; und wer mich empfängt, der empfängt meinen Vater; und wer meinen Vater empfängt, der empfängt meines Vaters Reich; darum wird ihm alles gegeben werden, was mein Vater hat.“9
Brüder, große Verheißungen erwarten uns, wenn wir dem Eid und Bund dieses kostbaren Priestertums, das wir tragen, treu sind. Mögen wir würdige Söhne unseres himmlischen Vaters sein. Mögen wir unserer Familie immer ein Vorbild sein und getreu alle Gebote befolgen, damit wir gegen niemanden Feindseligkeit hegen, sondern Friedensstifter sind und immer an die Ermahnung des Heilands denken: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“10 Das ist meine Bitte heute zum Schluss dieser großen Priestertumsversammlung, und es ist mein demütiges, aufrichtiges Gebet, denn ich habe Sie, Brüder, von ganzem Herzen lieb. Ich bete darum, dass die Segnungen des himmlischen Vaters Sie alle begleiten – in Ihrem Leben, in Ihrer Familie, in Ihrem Herzen, in Ihrer Seele. Im Namen Jesu Christi. Amen.