Mit den Augen Gottes
Um anderen gut dienen zu können, müssen wir sie mit den Augen von Eltern betrachten, mit den Augen des himmlischen Vaters.
Meine lieben Brüder und Schwestern, danke, dass Sie mich gestern als Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel bestätigt haben. Ich kann kaum in Worte fassen, wie viel mir das bedeutet. Ganz besonders dankbar bin ich dafür, dass auch die beiden außergewöhnlichen Frauen in meinem Leben – meine Frau Ruth und unsere liebe, geliebte Tochter Ashley – mich bestätigt haben.
Meine Berufung ist ein Beweis für die Wahrheit der Aussage des Herrn zu Beginn dieser Evangeliumszeit: „Damit die Fülle meines Evangeliums durch die Schwachen und die Einfachen bis an die Enden der Welt und vor Königen und Herrschern verkündigt werde.“ Ich bin einer dieser Schwachen und Einfachen. Vor Jahrzehnten, als ich als Bischof einer Gemeinde im Osten der Vereinigten Staaten berufen wurde, rief mich mein Bruder, der ein paar Jahre älter und viel klüger ist als ich, an und sagte: „Dir ist hoffentlich klar, dass der Herr dich nicht wegen irgendetwas, was du getan hast, berufen hat. In deinem Fall hat er dich wohl trotz dem, was du getan hast, berufen. Der Herr hat dich berufen, weil er durch dich etwas zuwege bringen will, und das geschieht nur, wenn du auf seine Weise vorgehst.“ Mir ist völlig klar, dass diese weisen Worte meines großen Bruders heute noch viel mehr zutreffen.
Bei der Missionsarbeit geschieht etwas Wunderbares, wenn der Missionar erkennt, dass es bei seiner Berufung gar nicht um ihn geht, sondern um den Herrn, sein Werk und die Kinder des himmlischen Vaters. Ich glaube, das Gleiche gilt auch für einen Apostel. Bei dieser Berufung geht es nicht um mich. Es geht um den Herrn, sein Werk und die Kinder des himmlischen Vaters. Welchen Auftrag oder welche Berufung man in der Kirche auch haben mag – damit man seine Sache gut machen kann, muss man wissen, dass jeder, dem wir dienen, „ein geliebter Geistsohn oder eine geliebte Geisttochter himmlischer Eltern [ist] und … dadurch ein göttliches Wesen und eine göttliche Bestimmung“ hat.
Von Beruf war ich Kardiologe und war spezialisiert auf Herzfehler und Transplantationen. Viele meiner Patienten waren schwer krank. Meine Frau sagt gern im Scherz, dass man schlechte Aussichten hat, wenn man mein Patient wird. Spaß beiseite; ich sah viele sterben, und ich entwickelte eine gewisse emotionale Distanz, wenn die Chancen schlecht standen. Auf diese Weise hielten sich Traurigkeit und Enttäuschung in Grenzen.
1986 trat bei einem jungen Mann namens Chad ein Herzfehler auf und es wurde eine Herztransplantation durchgeführt. Fünfzehn Jahre lang ging es ihm dann sehr gut. Chad tat alles, um gesund zu bleiben und ein möglichst normales Leben zu führen. Er erfüllte eine Mission, arbeitete und war seinen Eltern ein guter Sohn. Seine letzten Lebensjahre waren allerdings recht schwierig, er musste häufig ins Krankenhaus.
Eines Abends wurde er mit Herzstillstand in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert. Meine Mitarbeiter und ich versuchten eine ganze Weile, seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen. Doch dann zeichnete sich ab, dass Chad nicht wiederbelebt werden konnte. Wir hörten mit unseren vergeblichen Bemühungen auf, und ich erklärte ihn für tot. Ich war traurig und enttäuscht, bewahrte aber eine professionelle Haltung. Ich sagte mir: „Chad ist gut versorgt worden. Er hat viele Jahre mehr gehabt, als er andernfalls hätte erleben können.“ Diese emotionale Distanz verflüchtigte sich rasch, als seine Eltern in das Behandlungszimmer kamen und ihren verstorbenen Sohn auf der Trage liegen sahen. In diesem Moment sah ich Chad mit den Augen seiner Mutter und seines Vaters. Ich sah die großen Hoffnungen und Erwartungen, die sie für ihn gehegt hatten, und den Wunsch, dass er noch ein wenig länger und besser hätte leben mögen. Als mir das bewusst wurde, kamen mir die Tränen. Es war irgendwie paradox, auf einmal waren die Rollen vertauscht und Chads Eltern trösteten mich – eine liebevolle Geste, die ich nie vergessen werde.
Heute weiß ich: Um anderen in der Kirche gut dienen zu können, müssen wir sie mit den Augen von Eltern betrachten, mit den Augen des himmlischen Vaters. Erst dann kann man den wahren Wert einer Seele erkennen. Erst dann kann man die Liebe spüren, die der Vater im Himmel für alle seine Kinder hegt. Erst dann kann man spüren, wie der Erlöser sich um sie sorgt. Wir können unsere Bündnispflicht, mit den Trauernden zu trauern und diejenigen zu trösten, die des Trostes bedürfen, nicht vollständig erfüllen, solange wir sie nicht mit den Augen Gottes sehen. Diese erweiterte Perspektive öffnet uns das Herz für die Enttäuschungen, die Ängste und den Kummer anderer. Doch der Vater im Himmel hilft uns und tröstet uns, so wie Chads Eltern mich vor vielen Jahren getröstet haben. Wir brauchen Augen, die sehen, Ohren, die hören, und ein Herz, das versteht und mitfühlt, wenn wir anderen zu Hilfe eilen wollen, wozu Präsident Thomas S. Monson uns schon oft aufgefordert hat.
Nur wenn wir mit den Augen des himmlischen Vaters sehen, können wir mit der „reine[n] Christusliebe“ erfüllt werden. Wir müssen Gott jeden Tag inständig um diese Liebe bitten. Mormon hat uns ermahnt: „Darum, meine geliebten Brüder, betet mit der ganzen Kraft des Herzens zum Vater, dass ihr von dieser Liebe erfüllt werdet, die er all denen zuteilwerden lässt, die wahre Nachfolger seines Sohnes Jesus Christus sind.“
Ich wünsche mir von ganzem Herzen, ein wahrer Nachfolger Jesu Christi zu sein. Ich liebe ihn. Ich verehre ihn. Ich gebe Zeugnis, dass er lebt. Ich gebe Zeugnis, dass er der Gesalbte ist, der Messias. Ich bin ein Zeuge seiner unvergleichlichen Barmherzigkeit und Liebe und seines unvergleichlichen Mitgefühls. Ich füge mein Zeugnis dem der Apostel hinzu, die im Jahr 2000 erklärt haben, „dass Jesus der lebendige Christus ist, der unsterbliche Sohn Gottes. … Er ist das Licht, das Leben und die Hoffnung der Welt.“
Ich bezeuge, dass an jenem Tag im Jahr 1820 in einem Wäldchen im Bundesstaat New York der auferstandene Herr, zusammen mit Gott, unserem Vater im Himmel, dem Propheten Joseph Smith erschien, so wie es Joseph Smith berichtet hat. Es gibt heute auf der Erde Priestertumsschlüssel, mit denen errettende und erhöhende heilige Handlungen möglich sind. Ich weiß es. Im Namen Jesu Christi. Amen.