„Damit ich alle Menschen zu mir zöge“
In dem Maße, wie wir Gott näherkommen, tritt die helfende Macht des Sühnopfers Jesu Christi in unser Leben.
Als ich in Afrika lebte, bat ich Elder Wilford W. Andersen von den Siebzigern um Rat, wie man den Heiligen helfen könne, die in Armut leben. Unter den vielen bemerkenswerten Ratschlägen, die er mir gab, war auch dieser: „Je größer der Abstand zwischen Geber und Empfänger, desto eher kommt beim Empfänger ein gewisses Anspruchsdenken auf.“
Dieses Prinzip liegt dem Wohlfahrtsprogramm der Kirche zugrunde. Wenn Mitglieder nicht für sich selbst sorgen können, wenden sie sich zuerst an ihre Familie. Danach können sie sich gegebenenfalls an die örtlichen Führer der Kirche wenden, um bei dem, was sie in zeitlicher Hinsicht brauchen, Unterstützung zu erhalten. Angehörige sowie die örtlichen Führer der Kirche stehen den Bedürftigen am nächsten, haben oftmals ähnliche Umstände erlebt und wissen am besten, wie man ihnen helfen kann. Aufgrund seiner Nähe zum Geber ist der Empfänger, der nach diesem Muster Hilfe erhält, dankbar und weniger geneigt, Ansprüche zu stellen.
Das Prinzip „je größer der Abstand zwischen Geber und Empfänger, desto eher kommt beim Empfänger ein gewisses Anspruchsdenken auf“ hat auch eine tiefe geistige Bedeutung. Unser Vater im Himmel und sein Sohn Jesus Christus sind die größten Geber, die man sich vorstellen kann. Je mehr wir uns von ihnen entfernen, desto mehr Ansprüche stellen wir. Wir fangen an zu glauben, wir hätten Gnade verdient und man sei uns Segnungen schuldig. Wir neigen eher dazu, uns umzuschauen, Ungleichheiten auszumachen und gekränkt oder gar beleidigt zu sein, wenn wir eine Ungerechtigkeit wittern. Die Ungerechtigkeit mag dann bedeutungslos oder quälend sein – wenn wir uns von Gott entfernt haben, nimmt selbst eine kleine Ungleichheit riesige Ausmaße an. Wir kommen dann zu dem Schluss, Gott habe die Pflicht, alles in Ordnung zu bringen, und zwar sofort!
Was für einen Unterschied unsere Nähe zum himmlischen Vater und zu Jesus Christus ausmacht, wird im Buch Mormon anhand des krassen Gegensatzes zwischen Nephi und seinen älteren Brüdern Laman und Lemuel veranschaulicht:
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Nephi „hatte auch großes Verlangen, von den Geheimnissen Gottes zu wissen; darum rief [er] den Herrn an“ und sein Herz wurde erweicht. Laman und Lemuel dagegen hatten sich weit von Gott entfernt. Sie kannten ihn nicht.
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Nephi nahm schwierige Aufgaben an, ohne sich zu beklagen, aber Laman und Lemuel „murrten in vielem“. Das Murren in den heiligen Schriften entspricht kindischem Gejammer. In den Schriften heißt es, dass „sie murrten, weil sie das Walten jenes Gottes nicht erkannten, der sie erschaffen hatte“.
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Seine Nähe zum Herrn half Nephi, „die liebevolle, große Barmherzigkeit“ Gottes zu erkennen und zu schätzen. Im Gegensatz dazu waren Laman und Lemuel, als sie sahen, dass Nephi Segnungen erhielt, „zornig auf ihn, weil sie die Handlungsweise des Herrn nicht verstanden“. Laman und Lemuel empfanden die ihnen gewährten Segnungen als etwas, was man ihnen schuldig war. Verärgert nahmen sie an, dass ihnen mehr davon zustünden. In Nephis Segnungen sahen sie anscheinend ein „Unrecht“, das ihnen angetan wurde. Dies ist ein Beispiel aus den Schriften für missmutiges Anspruchsdenken.
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Nephi übte Glauben an Gott aus, um das zu vollbringen, was ihm aufgetragen worden war. Laman und Lemuel dagegen waren „im Herzen verhärtet …, deshalb blickten sie nicht auf den Herrn, wie sie sollten“. Sie schienen der Ansicht zu sein, dass der Herr verpflichtet war, Fragen zu beantworten, die sie nicht gestellt hatten. „Der Herr tut uns so etwas nicht kund“, sagten sie. Sie hatten jedoch nicht einmal einen Versuch unternommen, selbst zu fragen. Das ist ein Beispiel aus den heiligen Schriften für spöttische Skepsis.
Weil sie sich vom Erretter entfernt hatten, murrten Laman und Lemuel, wurden streitsüchtig und waren ungläubig. In ihren Augen war das Leben ungerecht. Sie meinten, sie hätten einen Anspruch auf die Gnade Gottes. Im Gegensatz dazu muss Nephi, weil er sich Gott zugeneigt hatte, erkannt haben, dass das Leben für Jesus Christus so ungerecht sein würde wie für niemand sonst. Trotz seiner vollkommenen Unschuld würde der Erretter am meisten leiden.
Je näher wir Jesus Christus in Gedanken und in den Absichten unseres Herzens sind, desto mehr schätzen wir sein unschuldiges Leiden, desto dankbarer sind wir für seine Gnade und seine Vergebungsbereitschaft und desto mehr wollen wir umkehren und so werden wie er. Wie weit wir insgesamt vom himmlischen Vater und Jesus Christus entfernt sind, ist wichtig, noch wichtiger aber ist die Richtung, in die wir steuern. Gott hat mehr Gefallen an einem reuigen Sünder, der sich bemüht, ihm näherzukommen, als an einem selbstgerechten Besserwisser, der wie die Pharisäer und Schriftgelehrten vor alters nicht bemerkt, wie viel Grund er selbst zur Umkehr hat.
Als Kind sang ich ein schwedisches Weihnachtslied, das uns eine einfache, aber dennoch überzeugende Lektion lehrt: Wenn wir uns dem Erretter nähern, bewirkt dies einen Wandel in uns. Der Text des Liedes lautet in etwa so:
Wenn der Weihnachtsmorgen schimmert,
möchte ich zum Stalle gehn,
wo bereits seit nächtlicher Stund
der Herr im Strohe ruht.
Wie gütig doch dein Wunsch,
hinabzukommen auf die Erd!
Nun möcht ich nimmermehr
meine Kindertage mit Sünden vertun!
Wenn wir uns im übertragenen Sinn in den Stall von Betlehem begeben, „wo bereits seit nächtlicher Stund der Herr im Strohe ruht“, sehen wir den Erretter eher als ein Geschenk von einem gütigen, liebenden himmlischen Vater an. Anstatt dann das Gefühl zu haben, wir hätten ein Anrecht auf seine Segnungen und seine Gnade, erwächst in uns das inständige Verlangen, Gott keinen weiteren Kummer zuzufügen.
Ganz gleich, in welche Richtung wir uns derzeit bewegen oder wie weit wir vom himmlischen Vater und Jesus Christus entfernt sind: Wir können uns dafür entscheiden, uns ihnen zuzuwenden und uns ihnen zu nähern. Sie werden uns dabei helfen. So wie der Erretter den Nephiten nach seiner Auferstehung versicherte:
„Und mein Vater hat mich gesandt, damit ich auf das Kreuz emporgehoben würde und damit ich, nachdem ich auf das Kreuz emporgehoben worden sei, alle Menschen zu mir zöge …
und aus diesem Grund bin ich emporgehoben worden; darum werde ich gemäß der Macht des Vaters alle Menschen zu mir ziehen.“
Um dem Erretter näherzukommen, müssen wir unseren Glauben an ihn stärken, Bündnisse eingehen und halten sowie den Heiligen Geist bei uns haben. Außerdem müssen wir aus dem Glauben heraus handeln und auf die geistige Führung achten, die wir empfangen. Alle diese Elemente kommen beim Abendmahl zusammen. Die beste Möglichkeit, die ich kenne, Gott näherzukommen, besteht tatsächlich darin, sich jede Woche gewissenhaft auf das Abendmahl vorzubereiten und würdig davon zu nehmen.
Eine Freundin von uns in Südafrika erzählte, wie sie diese Erkenntnis erlangt hatte. Kurz nachdem sich Diane zur Kirche bekehrt hatte, besuchte sie einen Zweig außerhalb von Johannesburg. Als sie eines Sonntags in der Versammlung saß, konnte sie der Diakon, der das Abendmahl austeilte, aufgrund der baulichen Gegebenheiten der Kapelle nicht sehen. Diane war enttäuscht, sagte aber nichts. Ein weiteres Mitglied bemerkte das Versäumnis und berichtete nach der Versammlung dem Zweigpräsidenten davon. Zu Beginn der Sonntagsschule wurde Diane in ein leeres Klassenzimmer gebeten.
Ein Priestertumsträger kam herein. Er kniete nieder, segnete etwas Brot und reichte ihr ein Stück davon. Sie aß es. Er kniete abermals nieder, segnete etwas Wasser und reichte ihr einen kleinen Becher. Sie trank daraus. Danach kamen Diane schnell hintereinander zwei Gedanken. Erstens: „Oh, er [der Priestertumsträger] hat es nur für mich getan.“ Und kurz darauf: „Oh, er [der Heiland] hat es nur für mich getan.“ Diane spürte die Liebe des himmlischen Vaters.
Die Erkenntnis, dass das Opfer des Erlösers nur für sie vollbracht worden war, half ihr, sich ihm nahe zu fühlen, und nährte in ihr den überwältigenden Wunsch, dieses Gefühl nicht nur am Sonntag in ihrem Herzen zu bewahren, sondern jeden Tag. Sie erkannte, dass sie zwar in einer Versammlung saß, um vom Abendmahl zu nehmen, dass die Bündnisse, die sie jeden Sonntag erneuerte, jedoch ganz allein ihre waren. Das Abendmahl half Diane und hilft ihr auch weiterhin, die Macht göttlicher Liebe zu verspüren, die Hand des Herrn in ihrem Leben anzuerkennen und dem Heiland näherzukommen.
Der Erretter erklärte, das Abendmahl sei für eine geistige Grundlage unerlässlich. Er sagte:
„Und ich gebe euch das Gebot, dass ihr dies tun sollt [vom Abendmahl nehmen]. Und wenn ihr dies immer tut, seid ihr gesegnet, denn ihr seid auf meinem Felsen gebaut.
Wer aber unter euch mehr oder weniger tut als dies, ist nicht auf meinem Felsen gebaut, sondern ist auf sandigem Grund gebaut; und wenn der Regen fällt und die Fluten kommen und die Winde wehen und an ihn stoßen, so wird er fallen.“
Jesus sagte nicht, falls der Regen fällt, falls die Fluten kommen und falls die Winde wehen, sondern wenn. Keiner ist gegen die Herausforderungen des Lebens gefeit; wir alle brauchen die Sicherheit, die sich einstellt, wenn wir vom Abendmahl nehmen.
Am Tag der Auferstehung des Erlösers waren zwei Jünger auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus. Der auferstandene Herr begleitete sie unerkannt auf ihrer Reise. Unterwegs belehrte er sie aus der Schrift. Als sie ihr Ziel erreichten, luden sie ihn ein, mit ihnen zu essen.
„Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen.
Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.
Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?
Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück und sie fanden die [Apostel] versammelt.“
Und dann bezeugten sie den Aposteln, dass „der Herr wirklich auferstanden [ist].
Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.“
Das Abendmahl hilft uns wahrlich, unseren Erretter zu erkennen. Außerdem erinnert es uns an sein unschuldiges Leiden. Wäre das Leben wirklich gerecht, dann würden Sie und ich niemals auferstehen. Sie und ich wären niemals in der Lage, rein vor Gott zu stehen. So gesehen bin ich dankbar, dass das Leben nicht gerecht ist.
Gleichzeitig kann ich mit aller Entschiedenheit bestätigen, dass es aufgrund des Sühnopfers Jesu Christi letzten Endes im ewigen Gefüge keine Ungerechtigkeiten geben wird. „Alles, was im Leben ungerecht ist, kann … wiedergutgemacht werden.“ Unsere derzeitigen Umstände mögen unverändert bleiben, aber wegen des Mitgefühls, der Güte und der Liebe Gottes werden wir alle mehr empfangen, als wir verdienen, mehr, als wir jemals verdienen können, und mehr, als wir jemals erhoffen könnten. Uns ist verheißen, dass Gott „alle Tränen von [unseren] Augen abwisch[t]: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“
Ganz gleich, wie Ihre Beziehung zu Gott derzeit aussieht, ich lade Sie ein, sich dem himmlischen Vater und Jesus Christus, den größten Wohltätern und Gebern von allem, was gut ist, zu nähern. Ich lade Sie ein, jede Woche die Abendmahlsversammlung zu besuchen und von den heiligen Symbolen des Leibes und des Blutes des Erretters zu nehmen. Ich lade Sie ein, Gottes Nähe zu erfahren, wenn er sich Ihnen auf dieselbe Weise zu erkennen gibt wie bei den Jüngern vor alters, indem er „das Brot brach“.
Ich verheiße Ihnen, dass Sie sich Gott dann näher fühlen werden. Die natürliche Neigung zu kindischem Gejammer, missmutigem Anspruchsdenken oder spöttischer Skepsis wird sich verflüchtigen. An die Stelle dieser Regungen wird ein Gefühl größerer Liebe und Dankbarkeit für das Geschenk treten, das der himmlische Vater uns mit seinem Sohn gemacht hat. In dem Maße, wie wir Gott näherkommen, tritt die helfende Macht des Sühnopfers Jesu Christi in unser Leben. Und wie die Jünger auf dem Weg nach Emmaus werden wir erkennen, dass der Erretter auf dem ganzen Weg in unserer Nähe gewesen ist. Dafür lege ich Zeugnis ab im Namen Jesu Christi. Amen.