Generalkonferenz
Die unvollkommene Ernte
Frühjahrs-Generalkonferenz 2023


11:2

Die unvollkommene Ernte

Der Erretter steht bereit, unsere bescheidenen Gaben anzunehmen und sie durch seine Gnade vollkommen zu machen. Mit Christus gibt es keine unvollkommene Ernte.

Im Südwesten Montanas, wo ich aufwuchs, lernte ich schon als kleiner Junge, den spektakulären Wechsel der Jahreszeiten zu schätzen. Meine Lieblingsjahreszeit war der Herbst – die Zeit der Ernte. Unsere Familie hoffte und betete, unsere monatelange harte Arbeit möge mit einer reichen Ernte belohnt werden. Meine Eltern sorgten sich wegen des Wetters, der Gesundheit der Tiere und der Feldfrüchte und vielem anderen, worauf sie wenig Einfluss hatten.

Als ich älter wurde, wurde mir immer klarer, weshalb all das so dringend notwendig war. Unser Lebensunterhalt hing von der Ernte ab. Mein Vater brachte mir bei, wie die verschiedenen Geräte für die Getreideernte zu bedienen waren. Ich sah zu, wie er die Maschinen aufs Feld fuhr, einen kleinen Streifen Korn schnitt und dann prüfte, ob hinter dem Mähdrescher auch so viel Korn wie möglich im Auffangbehälter landete und nicht mit der Spreu hinausgeworfen wurde. Diese Prozedur wiederholte er mehrmals und justierte die Maschine jedes Mal ein wenig. Ich rannte nebenher, besah mit ihm die Spreu und tat so, als wüsste ich, was ich da machte.

Nachdem er mit den Einstellungen an der Maschine zufrieden war, fand ich einige Getreidekörner inmitten der Spreu auf dem Boden und hielt sie ihm mit kritischem Blick entgegen. Ich werde nie vergessen, was mein Vater zu mir sagte: „Das ist gut genug und das Beste, was diese Maschine leisten kann.“ So richtig überzeugte mich seine Erklärung nicht, und ich grübelte über die Unvollkommenheit dieser Ernte nach.

Nicht lange danach, als es abends kälter wurde, beobachtete ich, wie sich tausende Zugvögel – Schwäne, Gänse und Enten – auf den Feldern niederließen, um sich für die lange Reise gen Süden zu stärken. Sie fraßen das Korn, das bei unserer unvollkommenen Ernte liegengeblieben war. Gott hatte die Ernte vollkommen gemacht. Kein Körnchen ging verloren.

In unserer Welt und sogar innerhalb der Kultur der Kirche ist man oft versucht, sich auf Vollkommenheit zu fixieren. Die sozialen Medien, unrealistische Erwartungen und oft auch Selbstkritik erwecken das Gefühl der Unzulänglichkeit – dass wir nicht gut genug sind und es auch nie sein werden. So mancher missversteht sogar die Aufforderung des Erretters, vollkommen zu sein.1

Bedenken wir: Perfektionismus ist nicht dasselbe, wie in Christus vollkommen zu werden.2 Perfektionismus bedarf eines unerreichbaren, selbstauferlegten Maßstabs, anhand dessen wir uns mit anderen vergleichen. Dies verursacht Schuldgefühle und Ängste und kann dazu führen, dass wir uns zurückziehen und lieber für uns allein bleiben wollen.

In Christus vollkommen zu werden, ist etwas ganz anderes. Bei diesem Vorgang werden wir unter der liebevollen Führung des Heiligen Geistes immer mehr wie der Erretter. Der Maßstab wird von einem gütigen und allwissenden Vater im Himmel festgelegt und ist ganz klar in den Bündnissen abgesteckt, die wir annehmen sollen. Dieser Vorgang nimmt uns die Bürde der Schuld und Unzulänglichkeit und lässt immer hervortreten, wer wir in den Augen Gottes sind. Es ist ein Vorgang, der uns aufrichtet und uns motiviert, besser zu werden. Gleichzeitig werden wir daran gemessen, wie treu wir Gott ergeben sind – was sich in unseren Anstrengungen zeigt, Christus voll Glauben nachzufolgen. Wenn wir der Aufforderung des Erretters folgen, zu ihm zu kommen, erkennen wir schnell, dass unser Bestes gut genug ist und dass die Gnade des liebevollen Erretters das ausgleicht, was noch fehlt, und zwar auf eine Weise, die wir uns nicht vorstellen können.

Wie dieses Prinzip funktioniert, sehen wir daran, wie der Erretter die Fünftausend speiste.

„Als Jesus aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben? …

Philippus antwortete ihm: Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.

Einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, sagte zu ihm:

Hier ist ein kleiner Junge, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; doch was ist das für so viele?“3

Haben Sie sich je gefragt, was der Erretter wohl für diesen kleinen Jungen empfand, der mit kindlichem Glauben etwas gab, aber auch bestimmt wusste, dass es für das, was da gebraucht wurde, viel zu wenig war?

„Dann nahm Jesus die Brote, sprach das Dankgebet und teilte an die Leute aus, so viel sie wollten; ebenso machte er es mit den Fischen.

Als die Menge satt geworden war, sagte er zu seinen Jüngern: Sammelt die übriggebliebenen Brocken, damit nichts verdirbt!“4

Der Erretter machte die bescheidene Gabe vollkommen.

Kurz nach diesem Ereignis schickte Jesus seine Jünger auf einem Boot voraus. Schon bald befanden sie sich mitten in der Nacht auf einem stürmischen See. Angst übermannte sie, als sie eine geisterhafte Gestalt über das Wasser auf sich zukommen sahen.

„Doch sogleich sprach Jesus zu ihnen und sagte: Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!

Petrus erwiderte ihm und sagte: Herr, wenn du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu dir komme!

Jesus sagte: Komm! Da stieg Petrus aus dem Boot und kam über das Wasser zu Jesus.

Als er aber den heftigen Wind bemerkte, bekam er Angst. Und als er begann unterzugehen, schrie er: Herr, rette mich!

Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“5

Brüder und Schwestern, das Gespräch war an dieser Stelle vielleicht gar nicht zu Ende. Ich glaube, als Petrus und der Erretter Arm in Arm zum Boot zurückgingen und der klatschnasse Petrus sich vielleicht sehr töricht vorkam, sagte der Erretter möglicherweise so etwas wie: „Ach Petrus, hab keine Angst und sorge dich nicht. Könntest du dich so sehen, wie ich dich sehe, würden deine Zweifel schwinden, und dein Glaube würde zunehmen. Ich hab dich lieb, Petrus. Du bist aus dem Boot gestiegen! Deine Gabe ist annehmbar, und obwohl du ins Wanken geraten bist, werde ich immer da sein, um dich aus den Tiefen herauszuziehen, und deine Gabe wird vollkommen gemacht.“

Elder Dieter F. Uchtdorf hat gesagt:

„Ich glaube, der Erretter Jesus Christus möchte euch erkennen, spüren und wissen lassen, dass ihr durch ihn stark seid, dass ihr mit seiner Hilfe alles erreichen könnt, dass euer Potenzial grenzenlos ist. Er möchte, dass ihr euch selbst so seht, wie er euch sieht. Und diese Sichtweise unterscheidet sich ganz erheblich von der Sichtweise der Welt. …

Er gibt den Müden Kraft und macht diejenigen stärker, die sich kraftlos fühlen.“6

Wir dürfen nie vergessen: Was immer unsere beste, aber unvollkommene Gabe sein mag – der Erretter kann sie vollkommen machen. Wie unbedeutend unsere Bemühungen auch erscheinen mögen, dürfen wir doch die Macht des Erretters nie unterschätzen. Ein einfaches, freundliches Wort, ein kurzer, aber gern gemachter Betreuungsbesuch oder eine liebevoll vermittelte PV-Lektion kann mit der Hilfe des Erretters Trost spenden, Herzen erweichen und Menschen auf ewig ändern. Unsere unbeholfenen Bemühungen können Wunder bewirken, und im Zuge dessen können wir an einer vollkommenen Ernte teilhaben.

Häufig werden wir vor Umstände gestellt, in denen wir uns strecken müssen. Wir fühlen uns der Aufgabe vielleicht nicht gewachsen. Wir schauen vielleicht auf diejenigen, die mit uns im Dienst des Herrn stehen, und meinen, mit ihnen niemals mithalten zu können. Brüder und Schwestern, wenn Sie so empfinden, dann schauen Sie sich die außergewöhnlichen Männer und Frauen an, die hinter mir sitzen und mit denen ich gemeinsam diene.

Ich kann Ihre Gefühle nachempfinden.

Ich habe jedoch gelernt: Perfektionismus ist nicht dasselbe wie in Christus vollkommen werden, und ebenso gilt: Sich mit anderen vergleichen ist nicht dasselbe wie jemandem nacheifern. Wenn wir uns mit anderen vergleichen, kann das nur auf zweierlei hinauslaufen. Entweder halten wir uns für besser als die anderen und beginnen, sie zu verurteilen und zu kritisieren, oder wir empfinden uns als minderwertig und werden unsicher, selbstkritisch und mutlos. Sich mit anderen zu vergleichen trägt selten etwas ein, es erbaut uns nicht und kann regelrecht deprimierend sein. Solche Vergleiche können sogar geistig zerstörerisch sein und uns davon abhalten, die geistige Hilfe anzunehmen, die wir brauchen. Wenn wir andererseits denen nacheifern, die wir achten und die christliche Eigenschaften an den Tag legen, kann das lehrreich und erbaulich sein und uns zu besseren Jüngern Jesu Christi machen.

Der Erretter diente uns als Vorbild dafür, wie man dem Vater im Himmel nacheifert. „Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen. Wie kannst du sagen: Zeig uns den Vater?“7

Dann erklärte er: „Amen, amen, ich sage euch: Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen.“8

Ganz gleich, wie unbedeutend unsere Bemühungen erscheinen mögen: Wenn wir aufrichtig bei der Sache sind, nutzt der Erretter uns, um sein Werk zu vollbringen. Wenn wir einfach nur unser Bestes geben und darauf vertrauen, dass er ausgleicht, was noch fehlt, können wir ein Teil der Wunder werden, die uns umgeben.

Elder Dale G. Renlund hat gesagt: „Sie müssen nicht vollkommen sein, aber wir brauchen Sie, denn jeder kann etwas tun, wenn er nur will.“9

Auch Präsident Russell M. Nelson hat erklärt: „Der Herr schätzt Anstrengung.“10

Der Erretter steht bereit, unsere bescheidenen Gaben anzunehmen und sie durch seine Gnade vollkommen zu machen. Mit Christus gibt es keine unvollkommene Ernte. Wir müssen den Mut haben, daran zu glauben, dass seine Gnade uns gilt – dass er uns hilft, uns aus den Tiefen rettet, wenn wir wanken, und unsere unvollkommenen Bemühungen vollkommen macht.

Im Gleichnis vom Sämann beschreibt der Erretter die Samen, die auf guten Boden gesät werden. Sie alle bringen Frucht – hundertfach, sechzigfach oder dreißigfach. Alle sind Teil seiner vollkommenen Ernte.11

Der Prophet Moroni hat alle aufgefordert: „Ja, kommt zu Christus, und werdet in ihm vollkommen, … und wenn ihr auf alles Ungöttliche verzichtet und Gott mit all eurer Macht, ganzem Sinn und aller Kraft liebt, dann ist seine Gnade ausreichend für euch, damit ihr durch seine Gnade in Christus vollkommen seiet.“12

Brüder und Schwestern, ich gebe Zeugnis für Christus, der die Macht hat, selbst unsere bescheidenste Gabe vollkommen zu machen. Geben wir unser Bestes, bringen wir das, was wir können, und legen wir ihm unsere unvollkommene Gabe voll Glauben zu Füßen. Im Namen dessen, der der Meister der vollkommenen Ernte ist, ja, Jesus Christus. Amen.