Geschichte der Kirche
Man muss Menschen in ihrer Lebenssituation erreichen


„Man muss Menschen in ihrer Lebenssituation erreichen“, Geschichte weltweit: Österreich, 2021

„Man muss Menschen in ihrer Lebenssituation erreichen“, Geschichte weltweit: Österreich

Man muss Menschen in ihrer Lebenssituation erreichen

Ende der 60er Jahre nahm die 15-jährige Eva Grünauer an einer Jugendtagung der Kirche Jesu Christi teil, bei der Erwin Roth den Mut aufbrachte, ihr zu sagen, dass er sie mochte. „Ich dachte: ‚Ja. Er ist es‘“, erinnerte sie sich später. „Das war augenblicklich völlig klar.“ Die beiden heirateten, als sie um die 20 waren, und gründeten eine Familie. Während ihre Familie wuchs, wuchs auch die Kirche in Salzburg von einer kleinen Gruppe zu einem Pfahl.

Im Laufe der Zeit sahen sich die Roths vielen Prüfungen des Lebens gegenüber, und Eva empfand oft Dankbarkeit für die geistige Gewissheit, die sie in Bezug auf ihre Beziehung zu Erwin hatte. „Manchmal fühlt man sich vom Leben so belastet“, stellte sie fest. „Für mich war es immer wichtig, dass ich etwas habe, worauf ich zurückgreifen kann, und dass ich mir sicher sein kann, genau am richtigen Ort zu sein.“ Sie schöpfte auch große Kraft aus dem Gottesdienst im Tempel. „Ich fühle mich dem Vater im Himmel dort sehr nahe. Das brauche ich immer wieder.“ Auch für Erwin, der noch sehr jung war, als sein Vater starb, spielte der Tempel eine besondere Rolle, gab er ihm doch die Gewissheit, dass seine Familie auf ewig Bestand hatte.

Im Laufe ihres Dienstes in der Kirche hielten Eva und Erwin nach Gelegenheiten Ausschau, auch andere an dieser geistigen Freude teilhaben zu lassen. Dabei lernten sie aber auch, auf die Lebenserfahrungen anderer Rücksicht zu nehmen. Als Eva den alleinstehenden Schwestern in ihrem Pfahl aufmerksam zuhörte, erkannte sie bald, dass selbst diejenigen, die ein festes Zeugnis davon haben, wie wichtig die Tempelarbeit ist, beim Tempelbesuch nicht unbedingt den gleichen Trost finden wie sie selbst. „Auch im Tempel ist es nicht angenehm, allein zu sein“, erklärte sie. Sie stellte zudem fest, dass der Gottesdienst im Tempel für manche Menschen mehr Fragen aufwerfen als beantworten kann. „Für eine Frau, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, ist die Aussicht, im nächsten Leben vielleicht einen ewigen Partner zu finden, der männlich ist, … wenig tröstlich.“ Wie die Umstände auch aussehen mochten, sie konzentrierte sich darauf, sich um die Schwestern zu kümmern. „Mein Ziel bestand einfach darin, die Frauen in ihren Lebenssituationen zu erreichen“, sagte sie.

Einmal kümmerte sich Erwin um eine ältere Schwester, die seit ihrer Kindheit aktiv gewesen war. „Generationen von Priestertumsführern, Heimlehrern und Besuchslehrerinnen hatten sich stets um diese Schwester bemüht, um sie zum Tempel zu bringen, damit sie ihr Endowment empfangen konnte“, berichtete er. Als Zweigpräsident fragte er diese Schwester, ob sie ihm vielleicht erklären wolle, warum sie so zögerlich war. „Sie sind der Erste, der mich nach dem Grund gefragt hat“, bemerkte sie. Dann vertraute sie ihm an, dass ihr Vater sie misshandelt hatte und sie nicht an ihn gesiegelt werden wollte. Erwin versicherte ihr, dass sie ihr eigenes Endowment im Tempel empfangen könnte, ohne gesiegelt zu werden, wenn sie das wollte. Siebzig Jahre lang hatte dieser Schmerz auf ihr gelastet, weil sie nicht hatte darüber sprechen können. Und jetzt konnten ihre Bedenken endlich ausgeräumt werden.

„Es war mir immer wichtig, den Dingen auf den Grund zu gehen“, erklärte Erwin. Eva merkte an, dass wahres Dienen in vielen Fällen mehr als nur guten Willen erfordert. „Selbst wenn man auf jemanden zugehen möchte, lassen manche das nicht zu, weil sie verbittert sind“, berichtete sie. „Dann ist Ausdauer gefragt. Man muss ihnen über eine längere Zeit hinweg einfach zeigen: ‚Du bist mir wichtig.‘ Es dauert jedoch oft eine Weile, bis der Betreffende sagen kann: ‚Jetzt glaube ich dir.‘“

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