Kapitel 5
Keine Macht der Welt
Das ganze Jahr 1960 hindurch setzte Henry Burkhardt alles daran, dass die Kirche in der Deutschen Demokratischen Republik nicht aus den Fugen geriet. Die DDR hatte allen ausländischen Missionaren den Einsatz innerhalb ihrer Grenzen untersagt, sodass die ostdeutschen Heiligen die volle Verantwortung für die Missionsarbeit in ihrem Land übernommen hatten. Da Missionare jedoch nicht von Tür zu Tür gehen durften, war ihr Einfluss begrenzt. Im Oktober verbot die Regierung den Vollzeitmissionaren, in Städten zu arbeiten, in denen die Kirche nicht bereits über eine größere Gemeinde verfügte. Sie setzte auch fast allen Aktivitäten der Frauenhilfsvereinigung, der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung und der Primarvereinigung ein Ende mit der Begründung, dass es allein Sache der Regierung sei, ihren Bürgern eine Freizeitbeschäftigung zu bieten.
Ein Beamter räumte den Heiligen gegenüber sogar ein, dass die Regierung sie aus ebendiesem Grund nicht möge. „Sie haben in der Kirche alles, was Sie brauchen.“
Schon bald war die Kirche in der DDR nur noch ein Schatten dessen, was sie einst gewesen war. Anstatt unter solchen Bedingungen weiterleben zu müssen, verließen viele ostdeutsche Heilige im Streben nach mehr Religionsfreiheit und wirtschaftlichen Möglichkeiten das Land und flüchteten nach Westdeutschland. Und damit waren die Heiligen beileibe nicht die Einzigen. Scharen von Menschen kehrten der DDR den Rücken – oftmals über die Grenze zwischen Ost- und Westberlin.
Diese Massenbewegung war für die ostdeutsche Regierung und ihre sowjetischen Verbündeten äußerst prekär. So wie Henry waren viele der Ansicht, es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Regierung den Übergang nach Westberlin zur Gänze schließen werde. Da sich der Hauptsitz der Mission im Westteil der Stadt befand, befürchtete Henry, ein solch drastischer Schritt werde die ostdeutschen Heiligen vom Rest der Kirche abschneiden.
Am 18. Dezember kam Alvin R. Dyer, der Präsident der Europäischen Mission und Assistent des Kollegiums der Zwölf Apostel, in die DDR, um mit Henry und weiteren örtlichen Führern der Kirche über das Wohlergehen der ihnen anbefohlenen Heiligen zu sprechen.
Die Führungsriege der Kirche in Ostdeutschland wies auf düstere Aussichten hin. Für die Einfuhr von erst kürzlich erschienenen Büchern oder sonstigen Druckerzeugnissen bestanden strenge Auflagen. Daher war es den Heiligen praktisch unmöglich, neue Zeitschriften, Lehrmaterial oder Gesangbücher der Kirche zu erhalten – es sei denn, sie schmuggelten sie aus dem Westen ein. Die Anwesenheitszahlen in den Zweigen waren rückläufig. Die Gemeindehäuser waren zwar funktionsfähig, aber einige waren baufällig. Und da es keine Jugendveranstaltungen mehr gab, führten staatlich geförderte Programme viele junge Menschen von der Religion weg. Henry zufolge führten die Zweige dann und wann heimlich eine Jugendaktivität durch, doch alle Anwesenden waren sich darüber einig, dass dies gefährlich sei.
Der Wert der ostdeutschen Währung sank zudem, und die Sozialleistungen der Regierung waren völlig unzureichend. Viele Heilige waren zu arm, als dass sie sich Lebensmittel und Brennmaterial leisten konnten. Für Kohle und Kartoffeln mussten sie daher entweder auf Gelder aus dem Wohlfahrtsbudget der Kirche zurückgreifen oder eben ohne diese Lebensnotwendigkeiten auskommen.
Nach dem Treffen sprach Präsident Dyer unter vier Augen mit Henry und brachte seine Besorgnis über den Zustand der Missionsarbeit in der DDR zum Ausdruck. Es war nicht nur so, dass die ostdeutsche Regierung ganz genau regelte, wo und wie die Missionare arbeiten durften, sondern die Regierung erwartete zudem, dass alle arbeitsfähigen Männer auch erwerbstätig waren. Eine Vollzeitmission wurde daher so gesehen, als ob sie der Volkswirtschaft in Ostdeutschland schade. Dass die meisten Missionare auf finanzielle Unterstützung durch ihren Zweig im Osten oder durch Heilige in Westdeutschland angewiesen waren, stellte ein weiteres Problem dar. Für Präsident Dyer hatte dies zu sehr den Anschein einer bezahlten Geistlichkeit. Aus all diesen Gründen bat er Henry, alle in der DDR tätigen Vollzeitmissionare zu entlassen.
Zunächst fiel Henry dieser Auftrag äußerst schwer. Die Missionare verkündeten das Evangelium nicht mehr von Tür zu Tür, sodass die Kirche der Regierung in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten bereitete. Doch einige Zweige waren, was die Priestertumsführung anging, immer noch auf Missionare angewiesen. Sollten nun die Missionare entlassen werden, so könnten diese Zweige auseinanderfallen. Dennoch fügte Henry sich respektvoll und befolgte Präsident Dyers Rat trotz seiner Vorbehalte.
Einige Monate später trafen sich junge west- und ostdeutsche Heilige in Westberlin zu einer Tagung der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung. Jeder wusste, dass die Grenze jederzeit geschlossen werden könnte, und es lag eine gewisse Anspannung in der Luft. Doch die jungen Heiligen brachten in ihrem Zeugnis stets diesen einen Gedanken zum Ausdruck, der sie alle verband: Sie wussten zwar nicht, was die Zukunft bringen sollte, aber selbst wenn sie einander nie wieder treffen sollten, so wussten sie doch, dass das Evangelium auf beiden Seiten der politischen Kluft wahr ist.
Und auch, dass sie im Glauben standhaft bleiben würden.
Die Ausbreitung autoritärer Regime in Mittel- und Osteuropa und anderen Teilen der Welt beunruhigte Präsident McKay zutiefst. Seit mehr als einem Jahrzehnt musste er nun zusehen, wie Regierungen an die Macht kamen, die den Atheismus hochhielten und den Glauben in Ländern wie Ostdeutschland oder der Tschechoslowakei untergruben, wo die Kirche einstmals stark gewesen war.
Das glühende Engagement der Heiligen schenkte ihm jedoch Hoffnung. In den Vereinigten Staaten und in Westeuropa herrschte großer Wohlstand, und manche befürchteten, dass in der Gesellschaft nun Reichtum und Ansehen mehr zählen würden als Gott. Präsident McKay war jedoch nicht der Meinung, dass dies auf die Mitglieder der Kirche zuträfe. Bei seinen Begegnungen mit Heiligen in aller Welt bewunderte er ihre Selbstlosigkeit. „Ich bezweifle, dass es jemals eine Zeit gegeben hat, da die Mitglieder größere Geistigkeit an den Tag gelegt hätten oder eine größere Bereitschaft, zu geben und zu dienen“, erklärte er im Januar 1961 einem Reporter.
Besonders bewegt war er von der Großzügigkeit der Heiligen bei der Entrichtung des Zehnten und der Opfergaben. In vergangenen Generationen war die Finanzierung des Werks des Herrn für die Kirche oftmals eine Herausforderung gewesen. Doch die Beiträge der Heiligen in Verbindung mit ehrenamtlichem Engagement sowie Einnahmen aus verschiedenen Geschäftsmodellen ermöglichten es der Kirche, weiterhin ihre zahlreichen Unternehmungen wie Bildungs-, Wohlfahrts-, Missions- und Bauprogramme zu finanzieren.
Obwohl das Bauprogramm besonders kostspielig war, war Präsident McKay der Meinung, dass diese Ausgaben für die wachsende Kirche unerlässlich seien. „Der Zweck dieser Gebäude“, erklärte er, „ist nicht damit erfüllt, dass die Mauern stehen, das Dach fest aufgesetzt, der Turm errichtet und das Weihungsgebet gesprochen worden ist. Diese Gebäude sind dazu da, die Seele zu erbauen.“
Neue Gemeindehäuser auf der ganzen Welt dienten als wichtige Versammlungsstätten, wo die Heiligen Gott verehren und ihre Gemeinschaft stärken konnten. In Denton, einer Kleinstadt im südlichen Texas, trafen sich 1959 zwei Dutzend Mitglieder im Haus von John und Margaret Porter. Als die Gruppe nicht mehr in das Haus der Porters passte, versammelte sie sich in einem leerstehenden zweistöckigen Gebäude mit undichtem Dach. 1961 war die Gruppe zu einem Zweig geworden, der genügend aktive Mitglieder hatte, um beim Bauausschuss der Kirche die Genehmigung zum Bau eines Gemeindehauses zu beantragen.
Damals wurde von den Mitgliedern in Missionen erwartet, dass sie 30 Prozent der Kosten für ein neues Gemeindehaus beisteuern. In Pfählen wurden 50 Prozent erwartet. Um die Gläubigen in Denton anzufeuern, für das Gemeindehaus zu spenden, legte der Pfahlpräsident Ervin Atkerson für die ersten tausend Dollar, die für den Fonds gespendet wurden, noch einmal so viel von seinem eigenen Geld dazu. Mit Zustimmung der Kirche erwarb John Porter aus privaten Mitteln ein etwas mehr als einen Hektar großes Grundstück, verkaufte ein Drittel an ein Restaurant und spendete die verbleibenden zwei Drittel für das neue Gebäude.
Den Gemeinden, die in den frühen 1960er Jahren ein Gemeindehaus bauten, standen mehrere von der Kirche genehmigte Architekturpläne zur Auswahl. Einige Pläne sahen vor, dass das Gemeindehaus im Laufe der Zeit in zwei oder drei Phasen weiter ausgebaut werden solle, je nach Größe und Wachstum der Gemeinde oder des Zweiges. Die erste Phase eines Gebäudes bestand aus Klassenzimmern und einem großen Mehrzweckraum, der als Kapelle genutzt werden konnte. In der zweiten Phase kamen eine große Kapelle und ein PV-Raum hinzu, und zur dritten Phase gehörten ein Kultursaal, eine Küche und weitere Räumlichkeiten. Da ihr Zweig schnell wuchs, entschieden sich die Heiligen in Denton für den Bau eines Gemeindehauses, in dem die ersten beiden Phasen kombiniert waren. Zwar war ein bei der Kirche angestellter Bauleiter für das Projekt zuständig, doch die meisten Arbeiten wurden von den Heiligen in Denton ausgeführt.
Ein Mitglied des Zweiges namens Riley Swanson war Tischler und fertigte wunderschöne Holzarbeiten für die Kapelle an. Riley war ein Bekehrter aus der Gegend, der das Rauchen aufgegeben hatte, um der Kirche beizutreten. Ab Beginn der Bauarbeiten fing er an, an seiner Arbeitsstelle die Nachtschicht zu übernehmen, damit er tagsüber in Vollzeit und ehrenamtlich an der Kapelle mitarbeiten konnte.
Da nun auf der ganzen Welt Versammlungsgebäude errichtet wurden, plante die Kirche außerdem den Bau eines großen Bürogebäudes in Salt Lake City, um den Generalautoritäten und den Angestellten der Kirche Räume für ihre Arbeit bereitzustellen. Zudem gab es Pläne für ein neues Besucherzentrum auf dem Tempelplatz, ein Gewölbe zur Aufbewahrung genealogischer Unterlagen tief in den Bergen bei Salt Lake City und einen neuen Tempel in der kalifornischen Stadt Oakland.
Präsident McKay war auch zuversichtlich, was die Jugend der Kirche und ihren Wunsch, das Evangelium weiterzugeben, betraf. Im Jahr 1959 hatte er jedes Mitglied der Kirche aufgefordert, neue Mitglieder und potenzielle Bekehrte zu finden, im Evangelium zu unterweisen und sie in die Gemeinschaft einzugliedern. Seitdem hatte sich die Missionsarbeit beschleunigt – vor allem in Großbritannien, wo der neue Tempel tatsächlich eine „neue Ära“ der Kirche eingeleitet hatte. Die Zahl der Bekehrtentaufen stieg in der Britischen Mission enorm, vor allem unter jungen Menschen. Das veranlasste die Kirche dazu, im März 1960 die Nordbritische Mission und den Pfahl Manchester zu gründen. Ein Jahr später kehrte Präsident McKay erneut nach England zurück. Er gründete den Pfahl London und weihte ein schönes neues Gemeindehaus gleich beim Hydepark im Herzen Londons.
Während seines Aufenthalts in Großbritannien wiederholte Präsident McKay seine Aufforderung an alle Mitglieder, sich an der Missionsarbeit zu beteiligen. „Wenn jedes Mitglied diese Verantwortung wahrnimmt“, hielt er den Missionaren der Nordbritischen Mission vor Augen, „vermag keine Macht der Welt das Wachstum dieser Kirche aufzuhalten.“
Einige Monate nachdem Präsident McKay aus Großbritannien zurückgekehrt war, erhielt die Erste Präsidentschaft eine Mitteilung von LaMar Williams über die vielen Briefe, die er aus Nigeria erhalten hatte. „Wenn das Evangelium dieser riesigen Zahl von Menschen gepredigt werden soll, die zweifellos Kinder Gottes sind“, schrieb LaMar, „dann scheint mir dies ein günstiger Zeitpunkt zu sein, sich über den Beginn dieser Arbeit Gedanken zu machen.“
Präsident McKay wusste bereits vom Interesse der Nigerianer am wiederhergestellten Evangelium. Im Jahr zuvor hatte er Glen Fisher, einen aus Südafrika zurückkehrenden Missionspräsidenten, gebeten, Nigeria zu besuchen. Glen hatte einen positiven Bericht verfasst, in dem er schilderte, wie bereit das Land für die Missionsarbeit sei. Präsident McKay waren also, als er LaMars Mitteilung erhielt, bereits vielerlei Gedanken durch den Sinn gegangen.
Am 1. Juli 1961 brachte Präsident McKay die Sache bei einer Sitzung der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel zur Sprache. Da er wusste, dass die Einschränkungen beim Priestertum die Missionsarbeit in Nigeria vor große Herausforderungen stellen würden, verglich er die Situation mit dem Dilemma der Apostel in alter Zeit, als es um die Frage ging, ob das Evangelium unter den Heiden verbreitet werden solle. Die Apostel waren damals erst tätig geworden, nachdem Petrus von Gott eine Offenbarung erhalten hatte.
Präsident McKay hatte den Herrn um Führung in Bezug auf die Einschränkungen beim Priestertum gebeten, hatte jedoch keine klare Antwort erhalten. Vorerst hatte er jedenfalls nicht die Absicht, in Nigeria eine Mission zu eröffnen, bis nicht auch er den Willen des Herrn kannte.
Dennoch war er der Ansicht, dass LaMar Recht habe. Die Kirche brauchte mehr Informationen, und er regte an, Vertreter der Kirche nach Nigeria zu entsenden, um den Glauben der Nigerianer zu erkunden. Die Apostel besprachen die Angelegenheit und unterstützten den Vorschlag des Propheten.
Zu jener Zeit folgte die sechzehnjährige Suzie Towse Tag für Tag der gleichen Routine. Jeden Tag, wenn sie nach der Schule die Zeitungen ausgetragen hatte, kam sie nach Hause und bat ihren Vater um Erlaubnis, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage beitreten zu dürfen. Seit etwa einem Jahr hatte sie Interesse an der Kirche. Eine Freundin hatte sie zu einer Jugendaktivität ihres Zweiges in Beverley in England eingeladen, und Suzie fand recht schnell Gefallen am wiederhergestellten Evangelium. Ihre Eltern – der eine hing dem katholischen, der andere dem methodistischen Glauben an – hielten ihren Wunsch, der Kirche beizutreten, jedoch nur für eine Phase und erlaubten ihr nicht, sich taufen zu lassen.
Dennoch wollte Suzie unbedingt eine Heilige der Letzten Tage werden. Sie gehörte zu den tausenden von Menschen in Großbritannien, die sich damals zur Kirche hingezogen fühlten. Viele hatten – so wie Suzie – durch ein neues Empfehlungsprogramm der Mission von der Kirche erfahren, wobei nämlich die Heiligen Freunde oder Verwandte zu einer Versammlung der Kirche einluden und sie den Missionaren vorstellten. Zu dem Zeitpunkt, als Suzies Freundin sie in die Kirche mitnahm, kamen mehr als 85 Prozent der Taufen in der Britischen Mission durch genau solche Empfehlungen zustande.
Seit Suzie von der Kirche gehört hatte, war sie auf erheblichen Widerstand gestoßen. Als sie ein Buch Mormon erhalten hatte, zeigte sie es ihrem katholischen Pfarrer, um seine Erlaubnis einzuholen, es lesen zu dürfen. Dieser war normalerweise ein freundlicher Mann, doch als sie ihm das Buch zeigte, änderte sich sein ganzes Verhalten. Er sagte, das Buch Mormon sei vom Teufel, und beschuldigte sie, sein Haus durch Ketzerei zu verunreinigen. Dann riss er ihr das Buch aus der Hand und warf es zum Kamin. Das Buch wurde jedoch nicht von den Flammen erfasst, und Suzie konnte es gerade noch aufheben, ehe der Priester sie zur Vordertür hinausdrängte.
„Jetzt gibt es kein Zurück mehr“, hatte sie sich hinterher gesagt.
Schon bald nahm sie also regelmäßig an den Versammlungen des Zweiges Beverley teil. Nachdem sie den Gottesdienst jahrelang in einer reichgeschmückten katholischen Kirche gefeiert hatte, fand Suzie es zunächst seltsam, mit einer Handvoll Menschen in einem Hotelzimmer mit nackten Fliesen und harten Holzstühlen zusammenzukommen. Aber nach ihrer ersten Abendmahlsversammlung hatte sie die warme Bestätigung gespürt, dass die Worte, die sie dort gehört hatte, wahr waren. Der Heilige Geist vermittelte ihr das innige Zeugnis, dass sie dorthin zurückkehren müsse.
Ganz ähnlich ging es ihr auch bei den Treffen der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung, wo die Anwesenheit weitaus höher war. Einige der Jugendlichen waren wie Suzie von ihren Freunden auf die Kirche aufmerksam gemacht worden. Andere waren junge Männer, die durch das Baseball-Spielen mit den Missionaren zur Kirche gefunden hatten. Jahrzehntelang hatten die Missionare im Sport ein Mittel gesehen, um junge Menschen kennenzulernen, und hatten ihnen und ihren Eltern anschließend die Kirche vorgestellt. In letzter Zeit war Baseball in den Britischen Missionen besonders beliebt, und viele junge Männer waren der Kirche beigetreten, um in einer von Missionaren geleiteten Mannschaft spielen zu können. Da die damaligen Missionsführer häufig Missionare besonders lobten und belohnten, die mehr Taufen hatten als andere, konzentrierten einige Missionare ihre Bemühungen auf junge Menschen, die in der Regel ja auch viel eher bereit waren, sich taufen zu lassen, als ein Erwachsener.
Obwohl man mit diesen jungen Bekehrten im Allgemeinen vor ihrer Taufe einige Lektionen über das Evangelium durchgegangen war, waren sie oftmals mehr daran interessiert, in der Sportmannschaft mitzuspielen, als zur Kirche zu kommen. In den meisten Fällen hatte ihre Taufe auch nicht dazu geführt, dass weitere Familienmitglieder der Kirche beitraten, sodass es im Zweig Beverley (wie auch in den meisten Zweigen auf den Britischen Inseln) Dutzende von Jugendlichen gab, die nur dem Namen nach der Kirche angehörten.
Doch Suzie besuchte die Versammlungen der Kirche Woche für Woche und sprach immer wieder mit ihren Eltern über die Taufe. Eines Tages, als sie gerade die Zeitungen ausgetragen hatte und nach Hause kam, sah sie von ihrem Vater bloß die Füße, weil er unter einem Auto lag, das er gerade reparierte. „Dad“, sagte sie, „kann ich mich taufen lassen?“
„Ja, kannst du“, antwortete er, immer noch unter dem Auto. „Wenn es dir so viel bedeutet, kannst du dich taufen lassen, Schätzchen.“
Suzie verschlug es die Sprache. „Meinst du das wirklich ernst, Dad?“, fragte sie. „Kannst du das bitte wiederholen?“
„Ja!“, wiederholte er. Wenn sie wolle, dürfe sie sich taufen lassen.
„Danke!“, rief sie. „Danke!“ Sofort fuhr sie mit dem Fahrrad zur Wohnung der Missionare und überbrachte ihnen die gute Nachricht. Beide schienen gar nicht überrascht zu sein, dass ihr Vater seine Meinung geändert hatte.
„Wieso seid ihr denn gar nicht überrascht?“, fragte sie. „Ich habe damit gar nicht gerechnet.“
„Wir wussten, dass er es erlauben würde“, erklärten sie. „Wir haben nämlich für dich gefastet.“
In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 errichtete die Deutsche Demokratische Republik Barrikaden rund um die Grenze nach Westberlin. Panzer brachten sich an den Grenzübergängen in Stellung, und Soldaten befestigten Maschinengewehre an den Fenstern der umliegenden Gebäude. Am Brandenburger Tor, dem historischen Denkmal im Zentrum der Stadt, versammelte sich eine große Menschenmenge, wütend und aufgebracht. Am nächsten Tag kamen Arbeiter mit dem Presslufthammer und errichteten auf den Straßen vor dem Denkmal eine lange, provisorische Mauer aus Betonblöcken und Stacheldraht. Dahinter stand eine ganze Reihe bewaffneter Wachen.
Nach monatelangen Gerüchten hatte die ostdeutsche Regierung schließlich die Grenze zwischen Ost- und Westberlin geschlossen.
Henry Burkhardt war erschüttert, wie schnell die Mauer errichtet worden war. Wie er es befürchtet hatte, wurde durch die geschlossenen Grenzen nun die Kommunikation mit dem Westen unterbunden. Er konnte weder telefonieren noch ein Telegramm oder einen Brief an das Missionsbüro schicken. Und sollte er versuchen, die Grenze zu überqueren, wie er es noch am Vortag hatte tun können, würden ihn die Wachen festnehmen und vielleicht sogar erschießen.
„Wie soll die Arbeit jetzt weitergehen?“, fragte er sich. Obwohl die Distrikte und Zweige in der DDR mittlerweile über Führungskräfte aus den eigenen Reihen verfügten und Mitglieder weitgehend an die Stelle der Vollzeitmissionare getreten waren, hatte sich Henry immer noch auf einen gewissen Austausch mit dem Hauptsitz der Berlin-Mission in Westberlin verlassen. Wie sollte es nun weitergehen, wo doch die Mauer eine echte Barriere zwischen ihnen bildete?
Ende August erhielt Henry die Antwort auf diese Frage. Die DDR hatte zwar ihren Bürgern das Reisen ins Ausland untersagt, doch sie erlaubte es westdeutschen Bürgern, mit einer Sondergenehmigung die Grenze zur DDR zu passieren. So kamen am 27. August der Präsident der Berlin-Mission, Percy K. Fetzer, und einer seiner Ratgeber, David Owens, mit Henry und weiteren Heiligen in Ostberlin zusammen. Vor der Einreise leerten die beiden Männer das Auto und ihre Taschen von allen unnötigen Gegenständen. Sie fanden am Kontrollpunkt eine Reihe von Polizisten und Soldaten vor, die tausende von Menschen zurückhielten. Nachdem die Soldaten die Menge auseinandergetrieben hatten, fuhr Präsident Fetzer im Schritttempo durch ein Labyrinth von Barrikaden, bis er den Eingang zur Stadt erreicht hatte.
Henry und die Heiligen waren überglücklich, den Missionspräsidenten zu sehen. Der Besuch war zwar kurz, doch Präsident Fetzer und weitere Führer der Kirche machten in den folgenden Monaten noch weitere Besuche. Sie waren stets vorsichtig, denn sie wussten, dass ihre Anwesenheit in Ostberlin sie und die Heiligen in Gefahr bringen könnte. Glücklicherweise schienen die neuen Einschränkungen die Entschlossenheit der ostdeutschen Heiligen nicht zu erschüttern. Die Teilnahme an den Abendmahlsversammlungen nahm zu, und viele Menschen bezeugten felsenfest die Wahrheit des Evangeliums.
Auf einer Konferenz mit örtlichen Führern räumte Henry ein, dass die Umstände für die Heiligen in der DDR nicht ideal seien. „Das Werk des Herrn darf nicht unter menschengemachten Bedingungen leiden“, rief er den Führern ins Gedächtnis. „Es hängt mehr oder weniger von uns ab und davon, wie wir unsere Berufung ausüben, ob das Werk Gottes in diesem Land weiterhin erfolgreich voranschreiten wird oder nicht.“
Ein paar Wochen vor der Generalkonferenz im Oktober 1961 bat Präsident David O. McKay Elder Harold B. Lee zu sich in sein Büro in Salt Lake City. Der Prophet war an jenem Morgen um sechs Uhr dreißig aufgewacht und hatte den klaren Eindruck gehabt, dass bei der bevorstehenden Priestertumsversammlung ein neues Programm eingeführt werden solle, das den Lehrplan der Kirche vereinheitlicht.
Seit dem späten 19. Jahrhundert hatte jede Organisation der Kirche – also Sonntagsschule, Primarvereinigung, Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Männer und Junger Damen, Frauenhilfsvereinigung sowie die Priestertumskollegien – jede Woche ihre eigenen Lektionen vorgegeben, und zwar losgelöst von allen anderen. Schon seit den frühen 1900er Jahren hatten die Führer der Kirche nach Möglichkeiten gesucht, die wöchentlichen Lektionen und Aktivitäten der Organisationen und Kollegien aufeinander abzustimmen, indem wesentliche Lehren in den Mittelpunkt gestellt und sich wiederholende oder überschneidende Lektionen abgeschafft wurden. Dieser Ansatz wurde jedoch nicht konsequent verfolgt und war jeweils nur von kurzer Dauer gewesen.
Präsident McKay, der an diesen Bestrebungen von Anfang an beteiligt war, war der Meinung, es sei nun an der Zeit, es erneut zu versuchen. Mehr als ein Drittel der Mitglieder hatte sich in den letzten zehn Jahren der Kirche angeschlossen, und der derzeitige Lehrplan entsprach nicht immer den Bedürfnissen der neu hinzugekommenen Heiligen. Der Prophet war besonders besorgt wegen Lektionen, die falsche Vorstellungen vermittelten oder sich zu weit von den grundlegenden Lehren des Evangeliums entfernten. Er wollte einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Grundprinzipien des Evangeliums beruhte.
„Das einzige Programm, das unserer Ansicht nach gültig ist“, erklärte er, „ist das, bei dem es um die Errettung der Seelen geht.“
Elder Lee hatte die Angelegenheit mehr als ein Jahr lang mit einer kleinen Arbeitsgruppe verfolgt. Auch er wollte, dass im Unterricht mehr Gewicht auf die errettenden Lehren gelegt wird. Und in letzter Zeit hatte er beunruhigt davon erfahren, dass Schulungsmaterial an die Gemeinden verteilt worden war, ohne dass es die Apostel zuvor gesichtet hatten. Er wollte, dass Lektionen und Handbücher im Rahmen des neuen Programms erst sorgfältig überprüft werden, bevor sie an die Heiligen herausgegeben werden. Durch eine bessere Absprache zwischen den Organisationen der Kirche würde es seiner Meinung nach weniger Durcheinander geben.
Die Arbeitsgruppe hatte den Vorschlag gemacht, den Lehrplan der Kirche im Rahmen geordneter Grundsätze zusammenzustellen. Anstatt dass jede Organisation ihr eigenes Unterrichtsmaterial unabhängig voneinander verfasste, sollten die Lehrpläne von drei Arbeitsgruppen überwacht werden: einer für die Kinder, einer für die Jugendlichen und einer für die Erwachsenen.
Vertreter der verschiedenen Organisationen, sowohl Frauen als auch Männer, sollten bei der Ausarbeitung des Lehrplans darauf achten, dass man sich auf zentrale Grundsätze der Errettung konzentrierte. Das Kollegium der Zwölf Apostel sollte deren Arbeit beaufsichtigen, und ein von vier Aposteln geleiteter Koordinierungsrat für die gesamte Kirche sollte die Aktivitäten der drei Arbeitsgruppen beaufsichtigen.
Durch die Aufteilung des Lehrplans nach Altersgruppen konnten die Arbeitsgruppen unnötige Wiederholungen bei den Lektionen vermeiden. Da die Lektionen in Zusammenarbeit mit den Generalautoritäten entworfen wurden, konnte der Lehrplan von den Erfahrungen profitieren, die die Führer durch Besuche bei Mitgliedern auf der ganzen Welt gesammelt hatten.
Nachdem die Arbeitsgruppe ihren Vorschlag ausgearbeitet hatte, wurde er von der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel geprüft und genehmigt – gerade noch rechtzeitig, sodass Elder Lee den Heiligen das neue Programm auf der Priestertumsversammlung der Herbst-Generalkonferenz vorstellen konnte.
„Mit der Einführung eines solchen Programms“, erklärte Elder Lee, „dürfen wir uns wahrscheinlich und hoffentlich auf die Konsolidierung und Vereinfachung der Lehrpläne, der Veröffentlichungen, der Gebäude, der Versammlungen und vieler weiterer wichtiger Aspekte im Werk des Herrn freuen.“
Elder Lee war sich sicher, dass der Schritt von Präsident McKay, die Lehrpläne der Kirche aufeinander abzustimmen, inspiriert war. „Wenn wir den Blick bloß auf den Präsidenten dieser Kirche richten“, bestätigte er, „merken wir, dass er das in Angriff nimmt, was für die Errettung der Menschenkinder am zielführendsten ist.“
Kurz nach der Generalkonferenz bestieg LaMar Williams ein Flugzeug nach Nigeria. Mit im Gepäck hatte er eine Kamera und ein Tonbandgerät, damit er der Ersten Präsidentschaft später Gesicht und Stimme jener, mit denen er zusammengekommen war, vorführen konnte. Sein Reisebegleiter war ein zwanzigjähriger Missionar namens Marvin Jones, der unterwegs zur Südafrikanischen Mission war.
Ihr Ziel war Port Harcourt, eine Stadt an der nigerianischen Küste, wo eine große Menschenmenge – fast alle, die mit LaMar einen Briefwechsel geführt hatten – sie erwartete. In der Menge fehlte jedoch Honesty John Ekong, dessen Briefe LaMars Aufmerksamkeit überhaupt erst auf Afrika gelenkt hatten.
Als LaMar seine Freunde begrüßte, stellte er überrascht fest, dass sie gar nicht alle miteinander bekannt waren. Er dachte, sie hätten zusammengearbeitet. Zu der Gruppe gehörte ein Mann namens Matthew Udo-Ete, der die meisten Briefe an LaMar geschrieben hatte. Er nahm LaMar und Marvin mit in sein Häuschen, wo viele zusammengekommen waren, um ihnen zuzuhören. Die Luft war heißer und schwüler, als LaMar es jemals erlebt hatte, und trotzdem sprach er mit der Gruppe zwei Stunden lang über das Evangelium und beantwortete ihre Fragen zur Kirche.
An seinem ersten Sonntag in Nigeria sprach LaMar in Matthews Kirche erneut vor einer großen Menschenmenge. Seine Zuhörer waren aus einem Umkreis von vielen Kilometern hergekommen. Er sprach über die Gottheit, den Abfall vom Glauben und die Wiederherstellung des Evangeliums durch Joseph Smith. Er erläuterte die Einschränkungen beim Priestertum und sagte, er sei nach Nigeria gekommen, um herauszufinden, ob seine Freunde auch dann noch an der Kirche interessiert seien, wenn sie doch das Priestertum gar nicht tragen konnten.
Nach seiner Rede ging er davon aus, dass Matthew die Versammlung beenden werde, doch plötzlich begannen die Anwesenden in einer Sprache zu sprechen, die LaMar nicht verstand. LaMar schaute Matthew an, damit er ihm übersetze.
„Einige hier wollen gern ihr Zeugnis geben“, erklärte Matthew.
LaMar war überrascht. Er hatte erwartet, dass die Menschen müde und vielleicht hungrig seien. Stattdessen wurde die nächsten drei Stunden lang Zeugnis gegeben.
Da war etwa ein alter Mann mit ergrautem Haar, einem weißen Hemd und rosafarbenen Beinkleidern. Er war barfuß. „Ich bin fünfundsechzig Jahre alt“, sagte er, „und ich bin krank. Ich bin heute Morgen mehr als fünfundzwanzig Kilometer zu Fuß hierhergegangen.“
Er fuhr fort: „Ich habe Präsident McKay nicht gesehen, und ich habe auch Gott nicht gesehen. Aber ich sehe Sie hier, und ich möchte Sie bitten, persönlich zu Präsident McKay zu gehen und ihm auszurichten, dass wir ernsthaft interessiert sind.“
Eine Frau fragte LaMar schlicht: „Wollen Sie etwa zulassen, dass die Liebe, die wir der Kirche gegenüber empfinden, rein für nichts ist?“
Etwas mehr als eine Woche später traf sich LaMar in der Stadt Uyo schließlich mit Honesty John Ekong. Er hörte, dass sein Freund mehr als hundertsechzig Kilometer gereist war, um ihn vom Flughafen abzuholen, ihn aber irgendwie verpasst hatte. Honesty John zeigte LaMar die Wände seines Hauses. Artikel und Fotos der Generalautoritäten aus Zeitschriften der Kirche zierten sie.
Immer wieder aufs Neue war LaMar vom Glauben der Nigerianer beeindruckt. Er erfuhr, dass etwa fünftausend Menschen aus nahezu hundert Glaubensgemeinden der Kirche beitreten wollten. Dennoch sah er keine Möglichkeit, in Nigeria voranzukommen, solange die Einschränkungen beim Priestertum und im Tempel in Kraft waren. Er wollte seinen neuen Freunden eine Zusicherung über die Zukunft der Missionsarbeit in ihrem Land machen, aber ihm war bewusst, dass er dazu nicht befugt war.
„Sie gehen davon aus, dass die Kirche nach Nigeria kommt, wenn ich meinen Teil tue und der Ersten Präsidentschaft Bericht erstatte“, schrieb er in sein Tagebuch. „Sie sind sich nicht bewusst, wie unbedeutend ich bei einer solchen Entscheidung letztlich bin.“
Aber er gab die Hoffnung nicht auf. „Gottlob ist mit der Hilfe des Herrn alles möglich“, schrieb er.