Kapitel 33
Die Hand unseres Vaters
Wenn die sechsunddreißigjährige Martha Toronto in die Stadt ging, um für ihre Familie und mehr als ein halbes Dutzend Missionare im tschechoslowakischen Missionsheim einzukaufen, beschlich sie mitunter das Gefühl, sie werde beschattet. Im Frühjahr 1948 lebte sie nun schon seit etwa einem Jahr mit ihrem Mann, dem Missionspräsidenten Wallace Toronto, in Prag. In den ersten sechs Monaten in der Stadt hatte sich Martha nach Kräften bemüht, die tschechoslowakischen Heiligen beim Wiederaufbau der Kirche zu unterstützen, denn das Land hatte sich bei weitem noch nicht von den sieben Jahren nationalsozialistischer Besatzung erholt. Im Februar 1948 hatten dann die von der Sowjetunion unterstützten kommunistischen Regierungsmitglieder einen Staatsstreich verübt und sämtliche Nichtkommunisten aus dem Amt gedrängt.
Der Putsch war Teil des sich anbahnenden Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und ihren ehemaligen Verbündeten. Die kommunistische Regierung in der Tschechoslowakei stand religiösen Gruppierungen generell skeptisch gegenüber, und wegen ihrer Verbindungen zu den Vereinigten Staaten war die Kirche unter besondere Beobachtung geraten. Sowohl Regierungsspitzel als auch bürgerliche Informanten überwachten nun Mitglieder und Missionare, und viele Tschechoslowaken schienen den Torontos sowie weiteren amerikanischen Staatsbürgern gegenüber Misstrauen zu hegen. Gelegentlich sah Martha, wie im Nachbarhaus der Vorhang zur Seite geschoben wurde, wenn sie gerade vorbeiging. Und einmal war jemand ihrer dreizehnjährigen Tochter Marion von der Schule bis nach Hause gefolgt. Als sie sich umdrehte, versteckte sich der Mann hinter einem Baum.1
Martha hatte bereits Erfahrung damit gesammelt, wie es ist, wenn man unter einem Regime lebt, das seine Bürger misstrauisch beäugen und kontrollieren lässt. Sie und Wallace hatten die Tschechoslowakische Mission schon früher einmal geleitet, nämlich ab dem Jahr 1936. Das war ein paar Jahre nach ihrer Heirat gewesen. Anfangs hatten die Torontos das Evangelium damals noch relativ unbehelligt verkünden können. Doch Anfang 1939 hatte die NSDAP die Kontrolle im Land übernommen und begann, die Heiligen zu schikanieren und einige Missionare zu inhaftieren. Als kurze Zeit später der Krieg ausbrach, sahen sich Martha, Wallace und die nordamerikanischen Missionare gezwungen, das Land verlassen. Die mehr als einhundert tschechoslowakischen Heiligen waren nunmehr auf sich allein gestellt.2
Wallace hatte die Belange der Mission in die Hände des einundzwanzigjährigen Josef Roubíček gelegt, der sich erst drei Jahre zuvor der Kirche angeschlossen hatte. Als amtierender Missionspräsident hielt Josef Versammlungen und Konferenzen ab, schickte häufig Briefe an die Heiligen in der Mission und tat, was er nur konnte, um ihre Widerstandsfähigkeit und ihren Glauben zu stärken. Von Zeit zu Zeit erstattete er Wallace Bericht über die Mission.3
Bald nach Kriegsende berief die Erste Präsidentschaft Wallace und Martha erneut in die Tschechoslowakei. Angesichts der Herausforderungen, vor die das Leben im vom Krieg gezeichneten Europa einen jeden stellte, reiste Wallace im Juni 1946 erst einmal alleine nach Prag und versprach, seine Familie nachkommen zu lassen, sobald sich die Lage ein wenig stabilisiert hätte. Manchmal fragte sich Martha, ob es für ihre Kinder nicht besser wäre, wenn sie mit ihnen in Utah bliebe, doch sie wollte nicht, dass die Kinder ihren Vater dann jahrelang nicht sahen. Nach einjähriger Trennung war Familie Toronto dann endlich wieder vereint.4
Als Führungsverantwortliche in der Mission war Martha für die Belange der Frauenhilfsvereinigung zuständig, kümmerte sich um die Missionare und freute sich, dass die Neubekehrten allwöchentlich im Missionsheim zu den Aktivitäten der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung zusammenkamen. Aber da das kommunistische Regime ihre Familie und die Kirche nunmehr so genau observierte, hatte sie allen Grund zu der Annahme, dass das Leben in der Tschechoslowakei schwieriger werden würde.
Vor ihrer Abreise hatte Präsident J. Reuben Clark von der Ersten Präsidentschaft Martha in den Vereinigten Staaten für ihre Mission eingesetzt. „Die Probleme, die auf dich zukommen“, hatte er gesagt, „sind zahlreich und ungewöhnlich.“ Er verhieß ihr jedoch auch die Kraft, sie zu bewältigen, und segnete sie mit Geduld, Nächstenliebe und Langmut.5
Als Martha und ihre Familie nun im Werk des Herrn tätig waren, hielt sich Martha an dieser Verheißung fest.
Unterdessen kniete der einunddreißigjährige John O’Donnal fernab von den Unruhen in Europa in einer entlegenen Ecke des botanischen Gartens bei Tela in Honduras neben einem Baum nieder. Seit sechs Jahren betrieb John O’Donnal im benachbarten Guatemala eine Kautschukplantage – und er genoss es jedes Mal, wenn ihn seine Arbeit zu diesem schönen Garten führte. Für jemanden wie ihn, der in den Kolonien der Heiligen der Letzten Tage in den Wüstengebieten im Norden Mexikos aufgewachsen war, war dieser friedliche Ort mit seiner außergewöhnlichen Flora und Fauna eine Art tropisches Paradies.6
Doch innerlich fand John diesmal keine Ruhe. Schon bald nachdem er in Mittelamerika die Arbeit aufgenommen hatte, hatten seine Frau Carmen und er sich ineinander verliebt. Carmen war katholisch, und so wurden sie von einem Priester ihrer Kirche getraut. Doch John hatte damals das starke Gefühl, dass Carmen eines Tages zum Glauben an das wiederhergestellte Evangelium finden werde. Sehnlichst wünschte er sich, dass sie beide im Tempel aneinander gesiegelt würden, und sprach oft mit ihr über die Kirche, die allerdings in Guatemala offiziell noch gar nicht vertreten war. Carmen schien jedoch nichts daran zu liegen, ihre Religion aufzugeben, und John gab sich auch alle Mühe, sie nicht unter Druck zu setzen.
„Ich will bestimmt nicht, dass du dich meiner Kirche anschließt, nur um mir einen Gefallen zu tun“, erklärte er ihr. „Dein Zeugnis musst du dir selbst erarbeiten.“
Carmen gefiel so manches an dem, was ihr John über die Kirche erzählte, doch sie wollte sich ganz sicher sein, dass das wiederhergestellte Evangelium für sie auch das Richtige sei. Als Kind hatte sie nicht in der Bibel lesen dürfen, und über den Stellenwert des Buches Mormon war sie sich anfangs nicht im Klaren. „Wieso in aller Welt soll ich denn dieses Buch lesen?“, hatte sie John gefragt. „Es bedeutet mir doch überhaupt nichts.“7
John gab aber nicht auf. Auf einer Reise in die Vereinigten Staaten besuchten sie auch Mesa in Arizona, wo der geografisch nächstgelegene Tempel stand. Dort sprach John mit seiner Frau über die ewige Ehe. Doch ganz gleich, wie oft er ihr vom wiederhergestellten Evangelium erzählte, sie schien kein Zeugnis zu empfangen.
John wusste, dass das Problem zum Teil auch am Widerstand ihrer Familie und ihrer Freunde lag, von denen manche schlecht über die Kirche sprachen. Carmen war keine strenggläubige Katholikin, doch die Traditionen, mit denen sie aufgewachsen war, lagen ihr am Herzen. John seinerseits war sich mit Bedauern der Tatsache bewusst, dass er mitunter nachlässig darin war, nach seiner Religion zu leben – vor allem in Gegenwart von Bekannten und Kollegen, die nicht der Kirche angehörten. Manchmal war es eben nicht leicht, so weit entfernt von einem organisierten Zweig der Heiligen zu wohnen! Er war jedoch dankbar dafür, dass er als Heranwachsender im Norden Mexikos stets das gute Beispiel seiner Eltern und weiterer Mitglieder vor Augen gehabt hatte.8
Ende 1946 hatte John sogar Präsident George Albert Smith in Salt Lake City aufgesucht und ihn gedrängt, doch endlich Missionare nach Guatemala zu schicken. John sprach davon, dass die Menschen dort für das Evangelium bereit seien, und Präsident Smith hörte interessiert zu. Er und seine Ratgeber waren bereits im Gespräch mit Frederick S. Williams, dem ehemaligen Präsidenten der Argentinischen Mission, und beratschlagten hinsichtlich der Ausweitung der Missionsarbeit in Lateinamerika.
Nicht lange nach dem Treffen gab die Erste Präsidentschaft bekannt, dass Missionare nach Guatemala gesandt werden sollten. „Wann genau, wissen wir noch nicht“, teilten sie John mit, „aber hoffentlich in naher Zukunft.“9
Einige Monate später – kurz nachdem die Grenzen der Mexikanischen Mission auf Guatemala, Costa Rica, El Salvador, Honduras, Nicaragua und Panama ausgeweitet worden waren – trafen im Haus der O’Donnals in Guatemala-Stadt vier Missionare ein. Zwei Missionare reisten umgehend weiter nach Costa Rica, aber die beiden anderen hielten nun mit John, Carmen und deren beiden kleinen Töchtern Versammlungen ab.
Die Missionare gründeten auch eine Sonntagsschule und eine Primarvereinigung und fanden in Carmens Schwester Teresa sogar eine geeignete PV-Lehrerin. Obwohl Carmen gemeinsam mit ihrem Mann die Versammlungen besuchte, wollte sie sich nicht taufen lassen. Als John nun im botanischen Garten niederkniete, waren die Missionare schon beinahe ein Jahr in Guatemala – und bisher hatte sich noch niemand der Kirche angeschlossen.
John schüttete seine Seele aus und flehte den Vater im Himmel an, ihm seine Sünden und Unzulänglichkeiten zu vergeben. Dann betete er für Carmen, die sich so schwer damit tat, ein Zeugnis zu erlangen. Es schien, als hätte der Widersacher in den letzten fünf Jahren alles getan, um sie von der Kirche fernzuhalten. Wann würde sie endlich vom Herrn eine Antwort erhalten?10
Während John O’Donnal also in Honduras betete, war Emmy Cziep als Missionarin in der Schweiz tätig. Sie hatte viel zu tun, denn neben ihren regulären Aufgaben unterstützte sie Scott Taggart, den Missionspräsidenten, beim Schriftverkehr in deutscher Sprache und übersetzte zudem Unterrichtsmaterial vom Englischen ins Deutsche. Vor ihrer Mission hatte sie kein Englisch gekonnt, doch sie hatte sich die Sprache dadurch angeeignet, dass sie sich in alte Ausgaben der Zeitschrift Improvement Era vertiefte und immerzu ein Wörterbuch bei sich trug.11
Im Sommer 1948 erhielt Emmy die Nachricht, dass ihr Visum nicht nochmals verlängert werden könne und sie daher in drei Monaten nach Wien zurückkehren müsse. Emmy vermisste natürlich ihre Familie, doch sie hatte wenig Lust auf ein Leben unter sowjetischem Einfluss, gehörten doch Teile Wiens und Österreichs noch immer zur sowjetischen Besatzungszone. Vielleicht konnte sie eine befristete Stelle als Hausangestellte in Großbritannien erhalten, doch sicher war auch das nicht. Sie dachte oft an den Vers in den Sprichwörtern: „Mit ganzem Herzen vertrau auf den Herrn, bau nicht auf eigene Klugheit.“12
Eines Tages lernte Emmy zwei Missionarinnen aus der Britischen Mission kennen, die vor ihrer Rückkehr in die Heimat die Schweiz besuchten. Die beiden waren Kanadierinnen und sprachen kein Deutsch, weshalb Emmy für sie dolmetschte. Emmy erzählte ihnen im Laufe der Unterhaltung, wie ungern sie nach Wien zurückkehren wolle. Marion Allen, eine der beiden Missionarinnen, wollte wissen, ob Emmy denn bereit sei, statt nach Großbritannien nach Kanada auszuwandern. Die meisten Mitglieder lebten zwar in der Nähe des Cardston-Tempels in der Provinz Alberta, doch es gab in dem riesigen Land verstreut einige Zweige – von Neuschottland im Osten bis Britisch-Kolumbien im Westen.
Emmy befürchtete, sie hätte wohl nur geringe Chancen, nach Nordamerika auszuwandern. Österreich hatte ja noch nicht den Neutralitätsvertrag unterschrieben, und daher waren Österreicher in den Augen der ehemaligen Alliierten Feinde. Emmy hatte zudem weder in Kanada noch in den Vereinigten Staaten Verwandte oder Bekannte, die sie unterstützen oder ihr eine Anstellung geben könnten.13
Einige Wochen später erhielt Präsident Taggart jedoch ein Telegramm von Marions Vater Heber Allen, in dem dieser anfragte, ob Emmy an einem Umzug nach Kanada interessiert sei. Marion hatte ihrem Vater von Emmys Notlage erzählt, und Heber hatte sich bei der kanadischen Behörde erkundigt, wie sie eine Einwanderungsgenehmigung erhalten könne. Heber war außerdem bereit, Emmy bei sich in Raymond, einer Kleinstadt in der Nähe von Cardston, einen Job und eine Unterkunft anzubieten.
Emmy war sogleich einverstanden. Als sie sich auf die Abreise vorbereitete, erhielten ihre Eltern Alois und Hermine ein Tagesvisum an die Schweizer Grenze, um sich von ihr zu verabschieden. Emmy wusste, dass es ihren Eltern großen Glauben abverlangte, ihre zwanzigjährige Tochter in die Fremde ziehen zu lassen, ohne zu wissen, ob sie einander jemals wiedersehen würden.
„Wohin du auch gehst, du bist nie allein“, versicherten ihr die Eltern. „Der Vater im Himmel ist immer da und wacht über dich.“ Sie ermahnten Emmy auch, stets eine gute Staatsbürgerin zu sein und der Kirche nahezubleiben.14
Aber auf der Fahrt über den Atlantik wurde Emmy dann doch das Herz schwer, als sie an die Verbundenheit innerhalb ihrer Familie, an die Mitglieder im Zweig Wien und an ihr geliebtes Österreich dachte. Sie begann zu weinen und dachte: Läge es in ihrer Hand, das Schiff wieder zu wenden, so würde sie es tun.
Zwei Missionare, die aus der Tschechoslowakischen Mission zurückkehrten, befanden sich auf demselben Schiff und machten die schwierige Reise für Emmy ein wenig erträglicher. Zwischen Anfällen von Seekrankheit machte jeder der beiden jungen Männer Emmy auch einen Heiratsantrag, doch sie lehnte beide ab. „Ihr habt einfach zwei Jahre lang keinen Kontakt zu Mädchen gehabt“, sagte sie ihnen. „Zuhause werdet ihr bestimmt ein nettes Mädchen kennenlernen und eine Familie gründen.“15
In Neuschottland durften die beiden Missionare sofort an Land, wohingegen Emmy und etliche andere Auswanderer in einen eingezäunten Wartebereich geführt wurden. Einige waren, so erfuhr Emmy, Waisenkinder aus deutschen Konzentrationslagern.
Die Nationalsozialisten hatten in den 1930er Jahren damit begonnen, politisch Andersdenkende sowie sonstige Leute, die sie als minderwertig oder für ihr Regime als unerwünscht einstuften, in solchen Lagern zu internieren. Viele Hunderttausende wurden in der Folge ab Ausbruch des Krieges gefangen genommen und schließlich umgebracht. Der Antisemitismus der Nazis schlug in Völkermord um, als das Regime systematisch Millionen von Juden in Konzentrationslager steckte und ermordete. Zwei Drittel aller europäischen Juden verloren im Holocaust das Leben. Darunter waren auch Olga und Egon Weiss, jene jüdischstämmige Mutter und ihr Sohn, die sich der Kirche angeschlossen hatten und im Zweig Wien gemeinsam mit Emmys Familie den Gottesdienst besucht hatten.16
In Kanada musste Emmy erst einmal einen ganzen Tag lang warten, bis alle Emigranten nach ihrer Muttersprache unterteilt und dann einer nach dem anderen von Staatsbeamten befragt wurden. Emmy betete, dass sie durchgelassen würde, denn sie wusste, dass einige Auswanderer nach Europa zurückgeschickt wurden, weil etwa ihre Papiere nicht in Ordnung waren, weil sie nicht genug Geld dabei hatten oder weil sie krank waren. Als der Beamte ihren Pass entgegennahm und abstempelte, jubelte sie innerlich.
„Ich bin frei in einem freien Land“, dachte sie bei sich.17
Etwa um diese Zeit ging Carmen O’Donnal in Guatemala-Stadt so manches durch den Kopf. Soeben hatte sie einen Brief von ihrem Mann John erhalten, der sich geschäftlich in Honduras aufhielt. Während seiner Abwesenheit solle sie Gott fragen, ob die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wahr sei, ob Joseph Smith ein Prophet und das Buch Mormon das Wort Gottes sei. „Bete deswegen“, flehte er sie an. „Ich wünsche mir so sehr, dass meine Frau für die Ewigkeit an mich gesiegelt wird – und die Kinder auch.“
Carmen hatte schon etliche Male deswegen gebetet. Das Beten fiel ihr jedoch schwer und war, wenn John gerade nicht zuhause war, sogar äußerst beunruhigend. Ein furchtbarer Geist bedrängte sie dann, und sie erlebte in erschreckender Weise die Macht des Satans. Der Gedanke, ohne ihren Mann noch einen weiteren Versuch zu unternehmen, machte ihr Angst.
Doch eines Abends beschloss sie, es doch noch einmal zu versuchen. Sie brachte ihre beiden Töchter zu Bett und kniete dann im Schlafzimmer nieder. Sofort waren die Mächte der Finsternis wieder da. Es kam ihr vor, als sei der Raum voller höhnischer Fratzen, die sie vernichten wollten. Sie verließ das Zimmer und stieg die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf, das die Missionare bewohnten. Sie erzählte ihnen, was vorgefallen war, und sie gaben ihr einen Segen.
Als Carmen danach die Augen öffnete, fühlte sie sich innerlich ruhiger. „Aus irgendeinem Grund will mich der Satan vernichten“, erkannte sie. Eindeutig wollte der Widersacher verhindern, dass sie ein Zeugnis vom wiederhergestellten Evangelium erlangte. Wieso sollte er denn sonst so sehr darangehen, ihre Gebete zu unterbrechen? Mit einem Mal wusste sie, dass sie sich taufen lassen musste.18
Die nächsten Monate waren für die O’Donnals sehr arbeitsreich. Als John aus Honduras zurückkehrte, beteten Carmen und er stets gemeinsam. Carmen besuchte weiterhin die Abendmahlsversammlung und sonstige Versammlungen der Kirche und lernte mehr über das Evangelium. Bei einer Zeugnisversammlung mit Arwell Pierce, dem Präsidenten der Mexikanischen Mission, stand sie sogar auf und sagte ein paar Worte. Auch andere gaben Zeugnis, und alle weinten, weil der Heilige Geist sie so sehr berührte und inspirierte.19
Am 13. November 1948 hielten die Missionare einen Taufgottesdienst ab: Carmen, ihre Schwester Teresa und zwei andere, nämlich Manuela Cáceres und Luis Gonzalez Batres, wurden getauft. Da der Saal, den sie für den Gottesdienst mieteten, nicht über ein Taufbecken verfügte, stellten einige Bekannte südlich der Stadt den Missionaren und John dazu ihr Schwimmbecken zur Verfügung.20
Eine Woche später trafen Mary White und Arlene Bean, zwei Missionarinnen der Mexikanischen Mission, in Guatemala-Stadt ein und gründeten dort eine Frauenhilfsvereinigung. Carmen wurde als FHV-Leiterin berufen. Die Missionarinnen und sie hielten donnerstagnachmittags eine FHV-Versammlung ab. Die meisten Frauen, die kamen, gehörten allerdings gar nicht der Kirche an. Eine von ihnen war eine Universitätsprofessorin mittleren Alters. Anfangs nahm sie daran Anstoß, dass eine so junge Frau wie Carmen die Vereinigung leitete.
„Ich weiß gar nicht, weshalb um alles in der Welt diese junge Dame zur Leiterin gemacht wurde“, sagte sie zu den Missionarinnen.
Carmen fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Sie gab der Frau im Grunde genommen ja sogar recht. Wieso war nicht die Professorin oder sonst eine ältere Frau als Leiterin berufen worden?
„Du brauchst dich deswegen nicht unwohl zu fühlen“, beschwichtigten sie die Missionarinnen. „Du hast ja nicht um diese Aufgabe gebeten. Aber du bist einfach die, die dazu berufen wurde.“
Da es für die Frauenhilfsvereinigung keinen Leitfaden gab, stellte Carmen die Lektionen und Aktivitäten selbst zusammen. Im Februar 1949 schlossen sich zwei weitere Frauen, Antonia Morales und Alicia Cáceres, der Kirche an. Einige Wochen danach berief Carmen die beiden sowie Gracie de Urquizú, eine an der Kirche interessierte Frau, in die Leitung. Die Frauen wurden bei der bislang bestbesuchten Versammlung den einundzwanzig anwesenden Schwestern als neue Leitung vorgestellt.
Alle freuten sich und waren lernwillig.21
Im Frühjahr 1949 wachte Präsident George Albert Smith des Öfteren vom Bellen der Seehunde und dem rhythmischen Meeresrauschen des Pazifik auf. Der Prophet war im Januar nach Kalifornien gekommen, um das Grundstück des Los-Angeles-Tempels genauer in Augenschein zu nehmen. Der Krieg und die Hilfslieferungen nach Europa hatten das Projekt verzögert, doch nun wollten die Führer der Kirche mit dem Bau endlich vorankommen. Nach einigen arbeitsreichen Tagen voller Sitzungen hatte sich Präsident Smith kränklich gefühlt. Sein Zustand verschlechterte sich weiter, und die Ärzte diagnostizierten ein Blutgerinnsel in seiner rechten Schläfe.22
Es stellte sich heraus, dass der Zustand nicht lebensbedrohlich war, doch Präsident Smith kam nur langsam wieder zu Kräften. Als ihn die Ärzte schließlich aus dem Krankenhaus entließen, blieb er noch ein wenig in Kalifornien, um sich an der Küste zu erholen. Da jedoch die Frühjahrs-Generalkonferenz 1949 kurz bevorstand, hoffte er, doch noch rechtzeitig nach Salt Lake City zurückkehren zu können. Doch wann immer er sich im Bett aufsetzte, überfiel ihn ein Schwindelgefühl, und er musste sich wieder hinlegen.23
Abgesehen von dem Blutgerinnsel konnten die Ärzte keinen klaren Grund für die extreme Abgeschlagenheit des Propheten finden. „Mein größtes Problem“, hatte dieser unlängst in seinem Tagebuch festgestellt, „sind meine strapazierten Nerven und die ständige Überarbeitung.“24
Als Erwachsener hatte Präsident Smith immer wieder mit gesundheitlichen Problemen wie schlechten Augen, Verdauungsproblemen und Erschöpfungszuständen zu tun gehabt. Als er im Alter von dreiunddreißig Jahren zum Apostel berufen worden war, wusste er bereits aus Erfahrung, was eintreten würde, wenn er seinen Körper zu sehr an seine Grenzen trieb. Dennoch hielten ihn sein Pflichtgefühl und sein Arbeitseifer bisweilen davon ab, sich Schonung zu gönnen.
Im Jahr 1909, nach sechs Jahren als Apostel, hatte er unter Depressionen und Beklemmungszuständen gelitten. Er hatte keine Energie, war monatelang ans Bett gefesselt und konnte überhaupt nichts tun. Seine schlechten Augen machten es ihm zudem unmöglich, längere Zeit zu lesen. Er kam sich so nutzlos vor und hatte keine Hoffnung mehr. Es gab Zeiten, da wünschte er sich den Tod herbei. Drei Jahre lang konnte er seinen Aufgaben im Kollegium der Zwölf Apostel nicht nachkommen.25
Präsident Smith merkte, dass Gebet, frische Luft, nahrhaftes Essen und regelmäßige Bewegung ihm halfen, wieder zu Kräften zu kommen. Er war zwar immer noch nicht vollständig von seinen Leiden geheilt, doch die schwierigen ersten Jahre als Apostel führten ihm vor Augen, dass der Herr doch gewiss einen Plan für ihn habe. Trost fand er auch in einem Brief seines Vaters, des Apostels John Henry Smith. „Die bitteren Erfahrungen, die du durchmachst“, hieß es darin, „sind nur dazu da, dich zu läutern und zu erheben und für ein größeres Lebenswerk bereitzumachen.“26
Seit damals hatte sich Präsident Smith mit aller Kraft dafür eingesetzt, Leid, Ungerechtigkeit und Not zu lindern. Auf seine Weisung hin wurde das Buch Mormon erstmals in Blindenschrift gedruckt und der erste Zweig der Kirche für Gehörlose gegründet. Nachdem Präsident Smith gehört hatte, dass Helmuth Hübener, der junge deutsche Heilige, der von den Nazis hingerichtet worden war, zu Unrecht aus der Kirche ausgeschlossen worden war, machten er und seine Ratgeber die Maßnahme rückgängig und wiesen die örtlichen Führungsverantwortlichen an, diese Tatsache auf Helmuths Mitgliedschein zu vermerken. Als Präsident der Kirche widmete er den amerikanischen Ureinwohnern neue Aufmerksamkeit und versuchte, deren Lebensbedingungen und Bildungschancen zu verbessern.27
Sein mitfühlendes Herz belastete den Propheten jedoch oft noch zusätzlich. „Schon im Normalfall sind meine Nerven leicht angegriffen“, sagte er einmal zu einem Freund. „Und wenn ich dann sehe, wie Menschen Kummer leiden und niedergeschlagen sind, macht mir das zu schaffen.“28
Die Ärzte der damaligen Zeit kannten sich mit chronischen Erkrankungen und seelischen Beeinträchtigungen ja noch nicht gut aus und bezeichneten daher Zustände wie chronische Erschöpfung oder Depression oft mit Begriffen wie „nervlich angeschlagen“. Präsident Smith tat angesichts dieser Umstände dennoch sein Bestes, um sich seine Gesundheit zu bewahren. In Phasen, wo er mehr Energie und Ausdauer hatte, unternahm er mehr, und bei Bedarf gönnte er sich dann wiederum auch mehr Ruhe. Einen Zusammenbruch wie den Jahrzehnte zuvor erlebte er zwar nie wieder, doch das Alter und die immense Verantwortung strapazierten ihn.29
Am 20. März sandte der Prophet seinen Ratgebern ein Schreiben per Luftpost zu und bat sie, die Generalkonferenz ohne ihn abzuhalten. Präsident J. Reuben Clark rief ihn am nächsten Tag an und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass Präsident Smith doch noch rechtzeitig zur Konferenz genesen werde. „Warten wir doch noch nächsten Sonntag ab und sehen wir, wie es dir dann geht“, meinte er.
In der Woche darauf wurde der Prophet zwar immer noch häufig von Schwindelanfällen geplagt, doch er spürte, wie er langsam wieder zu Kräften kam. Am 27. März befanden seine Ärzte, er sei gesund genug für die Reise, und so bestieg der Prophet bald darauf den Zug nach Salt Lake City. Unterwegs ruhte er sich gut aus, und am Konferenzwochenende merkte er, dass ihn der Herr ein weiteres Mal mit Kraft gesegnet hatte.
Am zweiten Tag der Konferenz stand Präsident Smith also wieder vor den Heiligen. Sein Herz war von Liebe und Dankbarkeit erfüllt. „Viele Male, wenn ich eigentlich schon für das Jenseits bereit war“, sagte er, „wurde mein Leben hier verlängert, weil es noch eine Arbeit zu erledigen gab.“
Dann sagte er etwas, was er eigentlich gar nicht vorgehabt hatte. „Ich bin im Leben sehr glücklich gewesen“, sagte er. „Ich bete darum, dass wir alle unser Leben so einrichten, dass wir in all den Erfahrungen des Lebens stets die Hand ausstrecken und die Hand unseres Vaters im Himmel spüren können, der uns hält.“30
In Prag wartete unterdessen Missionspräsident Wallace Toronto auf die Benachrichtigung, ob die sieben neuen Missionare aus Amerika, die in die Tschechoslowakische Mission berufen worden waren, eine Einreisegenehmigung erhalten würden. Im vergangenen Jahr war die Zahl der Missionare in der Tschechoslowakei auf neununddreißig gestiegen. Diese stellten nun die zweitgrößte Gruppe von US-Bürgern im Land dar – übertroffen nur noch von den Mitarbeitern der amerikanischen Botschaft. Zehn Missionare sollten jedoch demnächst nach Hause zurückkehren und mussten folglich ersetzt werden, damit die Mission ihren Aufschwung beibehalten konnte.31
Die neuen Missionare waren im Februar 1949 in Europa angekommen. Da ihnen die tschechoslowakische Regierung jedoch nicht sogleich ein Visum ausstellte, mussten sie im Missionsheim der Schweizerisch-Österreichischen Mission in Basel warten. Wallace kontaktierte indes einen hohen Regierungsbeamten und ersuchte darum, die Missionare in die Tschechoslowakei einreisen zu lassen. Nach wochenlangem Warten erfuhr Wallace, dass seinem Antrag nicht stattgegeben werden könne.
„Derzeit“, so hieß es in dem offiziellen Antwortschreiben, „dürfen sich keine weiteren amerikanischen Staatsbürger unbefristet in der Tschechoslowakei niederlassen.“
Die Missionare wurden also der Schweizerisch-Österreichischen Mission zugewiesen. Wallace fehlten nun gerade zu dem Zeitpunkt etliche Missionare, da sich die Kommunisten immer mehr in die inneren Angelegenheiten der Kirche einzumischen begannen. Das Regime verlangte etwa, dass sämtlicher öffentlicher Unterricht und alle Ansprachen sechs Wochen im Voraus eingereicht und genehmigt werden mussten. Zudem besuchten kommunistische Beamte häufig die Versammlungen, um sich zu vergewissern, dass keinerlei unerlaubte Ansprachen gehalten wurden. Die Regierung widerrief auch die Genehmigung für den Druck der Missionszeitschrift Novy Hlas und drohte den Heiligen, Rationen zu kürzen oder ihnen den Arbeitsplatz wegzunehmen, falls sie weiterhin die Kirche besuchten. Und einige fühlten sich auch unter Druck gesetzt, andere Gemeindemitglieder auszuspionieren.
Verzweifelte Heilige kamen zu Wallace und baten ihn um Rat. Er sagte ihnen, sie sollten sich niemals verpflichtet fühlen, sich einer Gefährdung auszusetzen. Wenn Agenten der Regierung sie unter Druck setzten, über eine Versammlung der Kirche zu berichten, sollten sie gerade so viele Informationen liefern, dass die vernehmenden Beamten zufrieden seien.32
Doch ungeachtet all dieser Schwierigkeiten gab es immer noch Tschechoslowaken, die für die Evangeliumsbotschaft empfänglich waren. Anstatt die Zahl öffentlicher Versammlungen einzuschränken, erweiterte Wallace die Reichweite der Mission dadurch, dass er in Städten im ganzen Land Dutzende von Vorträgen halten ließ. Diese Versammlungen erfreuten sich größter Beliebtheit und brachten es oft mit sich, dass viele Bücher Mormon verkauft wurden. In Pilsen etwa besuchten eines Abends nahezu neunhundert Menschen solch einen Vortrag.
Diese Erfolge führten jedoch auch dazu, dass der Staat die Kirche noch strenger zu überwachen begann. In Prag und einigen anderen Gegenden lehnte die Behörde den Antrag auf das Abhalten von Vorträgen ab. Und relativ bald nach dem Vortrag in Pilsen weigerte sich die Regierung auch, die Aufenthaltsgenehmigung für vier amerikanische Missionare zu verlängern. In der Begründung hieß es, sie seien „eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung, des Friedens und der Sicherheit des Staates“.
Wallace wandte sich erneut an hohe Beamte und wies darauf hin, dass die Missionare ja nichts getan hätten, was die öffentliche Ordnung gefährde. Er legte sogar aus der Zeitschrift Deseret News mehrere positive Artikel über die Tschechoslowakei vor, die beweisen sollten, dass die Heiligen keine Staatsfeinde seien. Nicht unerwähnt ließ er auch die nach dem Krieg erfolgte Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung im Land und machte zudem geltend, dass die Missionare ja auch zur tschechischen Wirtschaftsleistung beitrugen.33
Doch es war alles vergeblich. Die Regierung wies die vier Missionare an, das Land bis spätestens zum 15. Mai 1949 zu verlassen. Wallace schrieb in seinem Missionsbericht, er befürchte, dass in der Tschechoslowakei jegliche religiöse Bewegung sehr bald unter strenge staatliche Kontrolle geraten werde.
Doch ans Aufgeben dachte er nicht. „Es ist unsere Hoffnung und unser Gebet, dass der Herr sein Werk in diesem Land weiterhin segnen wird“, schrieb er, „und zwar ganz ungeachtet dessen, was die politischen Gezeiten in Zukunft auch bringen mögen.“34