„Füreinander bewahrt“, Kapitel 17 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 17: Füreinander bewahrt
Kapitel 17
Füreinander bewahrt
Als sich die Kirche auf der ganzen Welt weiter ausbreitete, zerbrach sich Präsident Heber J. Grant über die Zukunft des Bildungsprogramms der Kirche den Kopf. Die Kosten für den Betrieb der kircheneigenen Schulen hatten sich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren verzehnfacht. Durch einige Initiativen, etwa den Austausch der teuren Akademien der Pfähle durch das Seminarprogramm, hatte man indes auch Geld eingespart. Aber die kircheneigene Brigham-Young-Universität, die Latter-day Saints’ University sowie weitere Hochschulen der Kirche verzeichneten Zulauf. Wollten diese Einrichtungen die gleiche Qualität in der Ausbildung anbieten wie etwa die Universität von Utah oder sonstige staatlich geförderte Hochschulen, würde das dafür notwendige Geld die Einnahmen aus dem Zehnten übersteigen.1
Die Kosten bereiteten dem Propheten ständig Sorgen. „Nichts beunruhigt mich mehr, seit ich Präsident geworden bin“, sagte er im Februar 1926 vor dem Bildungsausschuss der Kirche. Allein die Brigham-Young-Universität brauchte mehr als eine Million Dollar, um den Campus zu vergrößern. „Das schaffen wir nicht“, erklärte Präsident Grant. „Es geht einfach nicht.“2
Einige Mitglieder des Bildungsausschusses, die die Sorge des Propheten teilten, wollten, dass die Kirche alle ihre Schulen und Hochschulen schließe, auch die Brigham-Young-Universität. Aber die Apostel David O. McKay und John Widtsoe, die beide eine kircheneigene Schule besucht hatten und als Beauftragte für das Bildungswesen der Kirche fungierten, hielten dem entgegen, dass die jungen Erwachsenen schon wegen des so unverzichtbaren Religionsunterrichts kircheneigene Schulen benötigten.
„Die Schulen wurden gegründet, damit sie Einfluss auf unsere Kinder haben“, erklärte Elder McKay bei einer Ausschusssitzung im März. Er war der Ansicht, dass die Schulen und Hochschulen der Kirche maßgeblich dazu beitrugen, aus den jungen Menschen treue Heilige der Letzten Tage zu machen.
Elder Widtsoe stimmte dem zu. „Ich weiß, wie wichtig kircheneigene Schulen sind, damit die Jugendlichen zu gefestigten Erwachsenen werden“, bekräftigte er. „Ich denke, die Kirche würde einen großen Fehler machen, wenn sie keine höhere Bildungseinrichtung unterhalten würde.“3
Um diese Zeit traf sich Präsident Grants Ratgeber Charles W. Nibley mit William Geddes, einem Mitglied aus dem nördlich von Utah gelegenen Idaho. Williams Töchter Norma und Zola gehörten zu einer Handvoll Heiliger der Letzten Tage, die die Universität von Idaho besuchten. Ihr kleiner Zweig traf sich in einem heruntergekommenen, gemieteten Saal, wo die Dorfbewohner samstags manchmal einen Tanzabend veranstalteten. Wenn Norma und Zola am nächsten Morgen zur Kirche kamen, lag Zigarettengeruch in der Luft, und der Boden war mit Müll und leeren Schnapsflaschen übersät.4
William wünschte sich für seine Töchter, dass es in der Nähe der Schule ein besseres Versammlungsgebäude gäbe. „Die Universität wird niemals Heilige der Letzten Tage anziehen“, sagte er zu Präsident Nibley, „wenn wir keine besseren Räumlichkeiten haben.“5
Präsident Grant und der Bildungsausschuss unterhielten sich bei ihrem Gespräch über die Zukunft kirchlicher Bildungsprogramme auch über die Lage in Idaho. Sie beschlossen, die Brigham-Young-Universität weiter zu finanzieren, während sie den meisten anderen Schulen der Kirche nach und nach die Mittel entzogen. Die Kirche wollte aber auch für Studenten Religionsunterricht anbieten und zu diesem Zweck das Seminar auf die universitäre Ebene ausweiten. Der Bildungsausschuss betrachtete die Universität von Idaho als eine Art Übungsgelände für das neue Programm. Sie brauchten nur jemanden, der bereit war, in die Kleinstadt Moscow in Idaho zu ziehen, wo sich die Universität befand.6
Im Oktober traf sich die Erste Präsidentschaft mit Wyley Sessions, einem ehemaligen Vertreter für landwirtschaftliche Produkte an der Universität von Idaho. Er war gerade von seinem Dienst als Präsident der Südafrikanischen Mission zurückgekehrt. Man hatte ihn für eine Stelle in einer nahegelegenen Zuckerfirma empfohlen, aber als sie mit ihm über die Stelle sprachen, hielt Präsident Nibley mitten im Satz inne und wandte sich an den Propheten.
„Wir machen einen Fehler“, sagte er.
„Das fürchte ich auch“, stimmte Präsident Grant zu. „Es fühlt sich nicht richtig an, Bruder Sessions in der Zuckerfirma einzusetzen.“
Im Raum herrschte eine Minute lang Stille. Dann sagte Präsident Nibley: „Bruder Sessions, du bist der Mann, den wir an die Universität von Idaho schicken wollen, damit du dich um unsere Jungen und Mädchen kümmerst, die dort die Universität besuchen, und dich mit der Situation vertraut machst und uns mitteilst, was die Kirche für die Studenten tun soll, die der Kirche angehören und eine staatliche Universität besuchen.“
„Aber nein, Brüder“, entgegnete Wyley. „Beruft ihr mich etwa wieder auf Mission?“ Sein Auftrag in Südafrika hatte sieben Jahre gedauert und ihn und seine Frau Magdalen fast mittellos gemacht.
„Nein, Bruder Sessions, wir berufen dich nicht auf eine weitere Mission“, schmunzelte der Prophet. „Wir geben dir die Gelegenheit, der Kirche einen großartigen Dienst zu erweisen.“ Und er fügte hinzu, dass es sich um eine bezahlte Stelle handle.
Wyley stand traurig auf. Präsident Nibley ging auf ihn zu und fasste ihn am Arm.
„Sei nicht enttäuscht“, sagte er. „Es ist der Wille des Herrn für dich.“7
Schnee bedeckte Salt Lake City am Neujahrstag 1927, aber strahlender Sonnenschein durchflutete das Haus der Familie Widtsoe und hielt die Kälte in Schach.8 Normalerweise war die vierzehnjährige Eudora das einzige Kind zuhause, aber zu den Feiertagen war die ganze Familie gekommen, und Leah war froh, alle ihre Kinder um sich zu haben.
Marsel, inzwischen vierundzwanzig Jahre alt, war verlobt und hatte nur noch wenige Monate bis zu seinem Abschluss an der Universität von Utah. Er hoffte, bald wie sein Vater die Harvard-Universität besuchen und dort wahrscheinlich Betriebswirtschaft studieren zu können.9 Seine ältere Schwester Ann hatte unlängst Lewis Wallace geheiratet, einen jungen Rechtsanwalt, der der Kirche angehörte, und war mit ihm nach Washington gezogen. Vor lauter Heimweh war sie jedoch nach Utah zurückgekehrt, und Leah machte sich Sorgen um sie. Doch Leah und John waren beide dankbar für die Güte und Barmherzigkeit des Herrn gegenüber ihrer Familie.10
Als Tag um Tag des neuen Jahres verging, widmete sich John erneut seinen Aufgaben bei den Zwölf Aposteln, und Leah verbrachte ihre freie Zeit damit, ihrer Mutter bei einem neuen Schreibprojekt zur Seite zu stehen.11 Leah hatte jahrelang mitangesehen, wie Susa Angaben zusammentrug und Geschichten über ihren Vater Brigham Young aufschrieb, um eines Tages seine Biografie veröffentlichen zu können. Doch unlängst war Leah aufgefallen, dass ihre Mutter zwar mit anderen Schreibprojekten gut vorankam, beispielsweise mit der Geschichte der Frauen der Heiligen der Letzten Tage, dass sie aber nicht mehr an der Biografie ihres Vaters arbeitete.
„Was ist denn mit dem Buch über deinen Vater?“, fragte sie eines Tages. „Schreibst du nicht mehr daran?“
„Nein, er ist zu groß für mich“, antwortete Susa. „Wenn du neben einem Berg stehst, kannst du den Berg nicht richtig beschreiben, da du zu nah dran bist.“
Doch Leah bestand darauf: „Du musst es trotzdem machen. Irgendwann musst du das Buch über deinen Vater schreiben. Ich helfe dir gerne dabei.“12
Nun hatte Susa zwei umfangreiche Manuskripte über Brigham Young verfasst und Leah dafür gewonnen, aus den beiden eine zusammenhängende Biografie zu gestalten. Leah fand die Arbeit schwierig und mitunter langweilig und zäh, aber ihr war klar, dass ihre Mutter ihre Hilfe brauchte. Susa war eine begabte Schriftstellerin. Sie drückte sich intelligent und aussagekräftig aus. Doch Leah war es, die dem Text Schliff und Struktur verlieh. Sie arbeiteten zusammen in Susas Haus und ergänzten einander gut.13
Am Morgen des 23. Mai 1927 erfuhr Leahs Alltag ganz plötzlich eine Unterbrechung, als nämlich ein Brief aus Preston in Idaho eintraf, wo Marsel als Seminarlehrer unterrichtete. Nachdem Marsel einem Autofahrer bei einer Panne geholfen hatte, hatte er sich eine schwere Erkältung zugezogen. Obwohl seine Freunde meinten, es gehe ihm inzwischen schon besser, hatte er immer noch hohes Fieber. Er könnte eine Lungenentzündung bekommen, was lebensbedrohlich wäre.14
Leah nahm noch in derselben Stunde einen Zug nach Preston und war bald an Marsels Seite. Am nächsten Tag fiel seine Temperatur um etwa ein Grad, was Leah hoffen ließ, dass er sich erholen werde. Aber als keine weitere Besserung eintrat, kehrten ihre Sorgen zurück. John traf ebenfalls in Preston ein und flehte den Herrn an, Marsels Leben zu verschonen. Er rief einen befreundeten Arzt ans Krankenbett. Andere Bekannte gaben Marsel einen Priestertumssegen oder wachten nachts bei ihm.
Am 27. Mai brach Leah erschöpft zusammen. In der Nacht zeigte Marsel jedoch Anzeichen von Besserung. Seine Verlobte, Marion Hill, traf am nächsten Morgen ein. Marsels Lunge schien frei zu werden, und das Fieber sank. Einige Zeit später jedoch ging sein Atem nur noch schwer und sein Körper schwoll an. Leah blieb den ganzen Nachmittag mit John und Marion an seiner Seite. Stunde um Stunde verging, aber es wurde nicht besser. Marsel verstarb am späten Abend.15
Leah war untröstlich. Der Tod hatte ihr bereits vier Kinder genommen. Nun war ihr einziger noch lebender Sohn von ihr gegangen, dessen Zukunft zu Beginn des neuen Jahres noch so vielversprechend und gewiss ausgesehen hatte.16
In jenem Frühjahr bereitete sich über zweieinhalbtausend Kilometer östlich von Salt Lake City der achtjährige Paul Bang auf die Taufe vor. Er war das sechste von zehn Kindern – vier Mädchen und sechs Jungen. Sie wohnten in einem verwinkelten Raum hinter dem Lebensmittelgeschäft, das ihre Eltern besaßen und betrieben. Das Geschäft befand sich in Cincinnati in Ohio, einer geschäftigen Stadt mit mehr als vierhunderttausend Einwohnern im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten. Um ein wenig Privatsphäre zu schaffen, hatte die Familie den Raum mithilfe von Vorhängen in kleinere Abschnitte unterteilt. Aber so richtig seine Ruhe hatte dort niemand. Nachts schliefen sie auf ausklappbaren Betten, die so viel Platz einnahmen, dass man sich kaum noch im Raum bewegen konnte.17
Pauls Vater, Christian Bang Sr., stammte aus Deutschland. Als er ein kleiner Junge war, war seine Familie nach Cincinnati gezogen, wo sich im neunzehnten Jahrhundert viele deutsche Einwanderer niedergelassen hatten. 1908 heiratete er Rosa Kiefer, deren Eltern ebenfalls deutsche Einwanderer waren. Drei Jahre später schenkte Rosas Freundin Elise Harbrecht Rosa ein Buch Mormon, das sie und Christian mit Interesse lasen. Nachdem sie ein Jahr lang von den Missionaren im Evangelium unterwiesen worden waren, ließen sie sich in einem jüdischen Badehaus taufen, weil der nahegelegene Ohio River zugefroren war.18
Der Zweig Cincinnati war klein wie viele andere Zweige im Osten der Vereinigten Staaten. Die Stadt war einst die Heimat einer florierenden Gemeinde von Heiligen gewesen, aber diese war im Laufe der Jahre geschrumpft, als immer mehr Mitglieder nach Utah abwanderten. Als Pauls Eltern der Kirche beitraten, waren Heilige der Letzten Tage in der Gegend eine Seltenheit. Als die Missionare 1912 einen Jungen tauften, kamen hunderte von Schaulustigen zum Fluss. Die Zeitung druckte am nächsten Tag einen Artikel über die Taufe und teilte den Lesern mit, dass Missionare in der Gegend seien.
„Es wird bestimmt der Versuch unternommen, möglichst viele Bekehrte zu gewinnen“, stand dort zu lesen.19
Nachdem sich Pauls Eltern der Kirche angeschlossen hatten, kamen sie mit den Missionaren und ein paar anderen Heiligen in einem kleinen, gemieteten Saal zum Gottesdienst zusammen. Ein Mitglied zog bald danach nach Utah, ein anderes verstarb, und zwei besuchten die Versammlungen nicht weiter. Christian und Rosa zogen ebenfalls in Erwägung, nach Utah umzusiedeln, doch schließlich entschieden sie sich, in Ohio zu bleiben, da sowohl ihre Verwandtschaft als auch das Geschäft dort waren.20
Wie andere Zweige, die weit von Salt Lake City entfernt waren, profitierte auch der Zweig in Cincinnati davon, wenn erfahrenere Mitglieder dorthinzogen. Kurz nachdem sich die Bangs der Kirche angeschlossen hatten, zogen Charles und Christine Anderson, ein Ehepaar aus Utah, das der Kirche angehörte, nach Cincinnati und gingen mit ihnen zur Kirche.
Die Andersons hatten das Endowment empfangen, waren im Tempel gesiegelt und hatten viele Jahre lang in Gemeinden und Pfählen im amerikanischen Westen mitgearbeitet. Sie gehörten zu den vielen Heiligen, die aus Utah wegzogen, um sich anderswo eine Existenz aufzubauen. Der gebürtige Schwede hatte eine neue Art Mopp erfunden und war in den Osten gekommen, um ihn herzustellen. Er wusste nichts über Cincinnati, außer dass es eine große Stadt und ein wohlhabendes Geschäftszentrum war. Trotzdem berief ihn der Präsident der Südstaaten-Mission sofort, den Zweig neu zu organisieren und zu leiten. Pauls Vater wurde sein erster Ratgeber.21
Damals war es nicht einfach, an Orten wie Cincinnati ein Heiliger der Letzten Tage zu sein. Zeitungen und Demonstranten verunglimpften seit Jahren die Kirche. Einmal hatte die Lokalzeitung Cincinnati sogar als „Schlachtfeld im Kampf gegen die Ausbreitung des Mormonentums in Amerika“ bezeichnet, als nämlich Frank Cannon, der von der Kirche abgefallene Sohn von George Q. Cannon, in der Stadt eine Kundgebung abgehalten hatte.22
Doch trotz aller Widerstände arbeiteten Pauls Eltern fleißig daran, ihre Kinder im Evangelium zu erziehen. Sie besuchten die wöchentlichen Versammlungen und dienten treu in dem kleinen Zweig. Jeden Morgen rief der Vater alle zum Familiengebet zusammen und sie sagten das Vaterunser auf, wie das bei den deutschen Christen damals üblich war. Montags lud seine Mutter oft die Missionare zum Essen ein. Die Familie und die Missionare saßen dann an einem großen Tisch in der Küche, die mit dem hinteren Teil des Ladens verbunden war. Da Pauls Mutter nie etwas Brauchbares wegwarf, kochte sie die alten Lebensmittel aus dem Laden auf, wobei sie peinlich genau darauf achtete, die verfaulten Teile von Obst, Gemüse oder Fleisch wegzuschneiden, ehe sie es servierte. Sein Vater bestand dann darauf, dass die Missionare aßen, bis sie beinahe platzten.23
Die Bangs sorgten auch dafür, dass jedes ihrer Kinder im Alter von acht Jahren getauft wurde.24 Am 5. Juni 1927 ließen sich Paul und vier weitere Menschen im Ohio River an einem Ort namens Anderson’s Ferry taufen. Seine Eltern, Präsident Anderson und einige seiner Freunde waren bei diesem feierlichen Anlass anwesend.
Es gab keine Schaulustigen, die dem Ereignis beiwohnten, und keine Zeitungsartikel. Aber in der Missionszeitschrift Liahona, the Elders’ Journal, der offiziellen Zeitschrift der Nordamerikanischen Missionen der Kirche, erschien ein Bericht über die Taufe. Darin wurde Paul sogar namentlich erwähnt.25
Wyley und Magdalen Sessions wurden nicht gerade herzlich empfangen, als sie an der Universität von Idaho ankamen. Die Kleinstadt Moscow lag im nördlichen Teil des Bundesstaates, und nur wenige Mitglieder lebten dort. Viele Menschen waren in die Region gezogen, weil sie den fruchtbaren Boden bewirtschaften oder ihr Glück im Bergbau und in der Holzindustrie versuchen wollten. Diese Bewohner waren misstrauisch gegenüber der Kirche, und Wyleys Anwesenheit machte sie nervös.
„Wer ist dieser Kerl, dieser Herr Sessions?“, fragten sich manche. „Was hat der hier zu suchen? Was will er nur hier?“26
Hätte man Wyley die letzten beiden Fragen direkt gestellt, hätte er keine klare Antwort gehabt. Die Erste Präsidentschaft hatte ihm aufgetragen, die Studenten zu unterstützen, die der Kirche angehören, aber wie er das anging, blieb ihm überlassen. Er wusste, dass die Studenten regelmäßigen Religionsunterricht und einen neuen Versammlungsort brauchten. Aber abgesehen von seiner Arbeit als Missionspräsident hatte Wyley keine Erfahrung mit Religionsunterricht. Er hatte Landwirtschaft studiert. Wenn die Schüler etwas über Düngemittel lernen wollten, konnte er sie unterrichten. Aber Theologe war er keiner.27
Bald nach ihrer Ankunft in Moscow schrieben sich Wyley und Magdalen im Aufbaustudienprogramm der Universität ein, um sich weiterzubilden und sowohl die Universität als auch den Lehrkörper besser kennenzulernen. Wyley studierte Philosophie und Pädagogik, belegte einige Kurse in Religion und Bibelstudien und schrieb an seiner Dissertation über das Fach Religion an den staatlichen Universitäten in den Vereinigten Staaten. Magdalen belegte unterdessen Kurse in Sozialarbeit und Englisch.
Wyley und Magdalen sahen in C. W. Chenoweth, dem Leiter der Philosophischen Fakultät, einen Verbündeten, der sich ebenfalls Sorgen darüber machte, dass es an den staatlichen Universitäten keinerlei Religionsunterricht gab. Er war im Weltkrieg Militär-Seelsorger gewesen und war nun Pastor in einer Kirche bei Moscow. „Wenn man diesem Campus mit Religionsunterricht kommt“, sagte er zu Wyley und Magdalen, „muss man darauf gefasst sein, mit den Standards einer Universität mitzuhalten.“
Mit Dr. Chenoweths Unterstützung entwarf das Ehepaar Sessions Pläne für eine Art Seminarprogramm für junge Heilige der Letzten Tage, die an einer öffentlichen Universität studierten. Sie orientierten sich dabei am Religionsunterricht anderer Universitäten, wobei sie stets penibel auf die Trennung von Kirche und Staat achteten. Der Religionsunterricht musste einerseits den staatlichen Anforderungen für Kurse auf Universitätsniveau genügen, aber das Programm musste andererseits auch völlig unabhängig von der Universität sein. Wenn die Kirche daher ein Gebäude für den Unterricht bauen wollte, musste es jedenfalls außerhalb des Campus liegen.28
Da Wyley wusste, dass die Universität das neue Programm nicht unterstützen würde, solange der Rektor und der Lehrkörper ihm und der Kirche gegenüber voller Misstrauen blieben, trat er der Handelskammer und einer Bürgerbewegung bei, damit er einflussreiche Bürger kennenlernen konnte. Er stellte allerdings fest, dass sich die dortigen Geschäftsleute, Geistlichen sowie der Lehrkörper zu einem Komitee zusammengeschlossen hatten zu dem Zweck, ihn ihm Auge zu behalten und sicherzustellen, dass er nicht doch versuche, im Interesse seiner Kirche auf die Universität Einfluss zu nehmen. Fred Fulton, ein Versicherungsvertreter, stand dem Komitee vor. Wann immer Wyley eine Veranstaltung der Handelskammer besuchte, saß er neben Fred und versuchte, sich mit ihm anzufreunden.
Bei einem Treffen sagte Fred zu Wyley: „Du Pfundskerl überraschst mich immer wieder.“ Dann räumte er ein, was seine Aufgabe in dem Komitee war. „Jedes Mal, wenn ich dich sehe“, sagte er, „kommst du so verflixt freundlich hier rein, dass ich dich immer besser leiden kann.“29
Bald ließ sich die ganze Stadt auf Familie Sessions ein. Mit Wyleys Hilfe fand die Kirche in der Nähe vom Campus ein Grundstück und kaufte es für das Studentenzentrum der Heiligen. Wyley und ein Architekt der Kirche arbeiteten dann mit der Universität und der Handelskammer zusammen, um einen Entwurf herzustellen und den Bau genehmigen und beaufsichtigen zu lassen. Im Herbst 1927 begann Wyley mit dem Religionsunterricht, und die Universität erklärte sich bereit, den teilnehmenden Studenten dafür Leistungspunkte zu geben, die sie anrechnen konnten. Magdalen organisierte unterdessen eine Reihe von gesellschaftlichen Zusammenkünften für Studenten der Heiligen der Letzten Tage wie etwa Norma und Zola Geddes.30
Als Wyley eines Tages mit Jay Eldridge, dem Dekan der Fakultät, spazieren ging, kamen sie an dem Grundstück für das neue Studentenzentrum der Kirche vorbei. „Es war ziemlich schlau, dieses Land zu erwerben“, sagte Dr. Eldridge zu Wyley. Er fragte, wie die Kirche ihr neues Programm zu nennen gedenke. „Ihr könnt es nicht Seminar nennen“, sagte er. „Diese Bezeichnung ist durch euren Seminarunterricht an den Oberstufen schon vergeben.“
„Ich weiß nicht“, räumte Wyley ein. „Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.“
Dr. Eldridge blieb stehen. „Ich will dir sagen, wie ihr es nennen müsst“, entgegnete er. „Was du dort siehst, ist das Religionsinstitut der Heiligen der Letzten Tage.“
Wyley gefiel der Vorschlag, und auch der Bildungsausschuss der Kirche hieß ihn gut.31
Im September 1927 war Leah Widtsoe geistig, seelisch und körperlich erschöpft. Der plötzliche Tod ihres Sohnes Marsel hatte sie in eine schwere Depression gestürzt. „Ich frage mich wirklich, ob sich das Leben lohnt“, sagte sie eines Tages zu John. „Nur deine Liebe macht es noch lebenswert.“32
Marsel war am 31. Mai auf dem Friedhof in Salt Lake City beigesetzt worden. Am nächsten Tag war Leahs und Johns 29. Hochzeitstag, den sie allerdings damit zubrachten, nach der Beerdigung wieder aufzuräumen. Freunde und Angehörige kamen in den folgenden Wochen und Monaten oft zu Besuch, aber selbst mit ihrer liebevollen Unterstützung ließ Leahs Genesung auf sich warten.33 Sie freuten sich jedoch über die Nachricht, dass ihre Tochter Ann ein Kind erwartete. Doch Ann war in ihrer Ehe unglücklich und blieb lieber bei ihren Eltern in Utah, anstatt zu ihrem Mann nach Washington zurückzukehren.
Leahs Depressionen machten die meisten Tage zu einer Last. Wegen Johns Aufgaben in der Kirche musste er so viel reisen wie eh und je, doch wenn er zuhause war, war er immer wieder an ihrer Seite und machte ihr das Leben erträglicher. „Ich bete, dass wir füreinander bewahrt bleiben“, schrieb sie ihm in jenem Sommer. „Mit dir kann ich jede Schlacht schlagen!“34
Anns Baby, John Widtsoe Wallace, kam am 8. August 1927 zur Welt und machte Leah und John zu Großeltern.35 Einen Monat später traf sich Harold Shepstone, ein englischer Journalist, anlässlich seines Besuchs in Salt Lake City auch mit Leahs Mutter. Susa erzählte ihm von der Biografie von Brigham Young, an der sie und Leah schrieben, und er bat darum, sie sich ansehen zu dürfen. Susa gab ihm eine Kopie des Manuskripts, und er erklärte sich bereit, ihr bei der Suche nach einem Verleger zu helfen.
„Die Lektüre ist höchst aufschlussreich“, stellte er fest, „aber natürlich muss der Text stark gekürzt werden.“36
All diese guten Nachrichten besaßen allerdings nicht die Kraft, Leah aufzuheitern. Susa lud Leah ein, mit ihr nach Kalifornien zu reisen, vielleicht in der Hoffnung, dass ein Besuch an der Küste sie aufmuntern werde.37 Doch kaum hatten sie die Fahrkarte gekauft, berief Präsident Grant John zum neuen Präsidenten der Europäischen Mission. John war für den Rest des Tages wie gelähmt und tat fast die ganze Nacht kein Auge zu. Die Europäische Mission war eine der ältesten und größten Missionen der Kirche, und der Präsident hatte die Aufsicht über neun weitere Missionspräsidenten in Ländern, die sich über tausende von Kilometern – von Norwegen bis Südafrika – erstreckten. Normalerweise wurde ein Apostel mit viel Erfahrung als Missionspräsident berufen.38
Leah begrüßte die neue Berufung, auch wenn sie deswegen von ihrem Zuhause und ihren Lieben in Utah wegziehen musste. Das letzte Jahr war ohnehin ein Albtraum gewesen, und sie konnte eine Veränderung gebrauchen. Überall gab es Erinnerungen an Marsel, und der Umzug nach Europa würde ihr Raum zum Trauern geben. John glaubte, dass Präsident Grant inspiriert gewesen war, sie auf Mission zu berufen, um ihnen zu helfen, über den Verlust ihres Sohnes hinwegzukommen.39
Die Vorbereitungen nahmen die nächsten zwei Monate in Anspruch.40 Während Leah packte, dachte sie auch an Harold Shepstone und die Biografie von Brigham Young. Entschlossen, Harold beim Wort zu nehmen, er wolle ihr bei der Suche nach einem Verleger helfen, packte sie das Manuskript mit ein.41
Am 21. November wurden Leah und John für ihre Mission eingesetzt. Dann kehrten sie nach Hause zurück, um Johns Tante Petroline Lebewohl zu sagen, die inzwischen vierundsiebzig Jahre alt war. Leah und John hatten ihr angeboten, sie mit nach Europa zu nehmen, aber sie meinte, sie sei nicht kräftig genug für die Reise. Trotzdem war sie glücklich, dass John die Gelegenheit hatte, nach Europa zurückzukehren und das Evangelium zu verkünden, wie sie und seine Mutter es ja zwanzig Jahre zuvor getan hatten.
Noch am selben Tag verabschiedete eine Menschenmenge Leah, John und ihre Tochter Eudora am Bahnhof. Susa gab ihnen einen Brief, den sie erst im Zug öffnen sollten. „Ich werde eure Reise mitverfolgen und das große Werk, das ihr beide vollbringen werdet“, schrieb sie. „Tantchen und ich werden beide auf dem Bahnsteig sein, wenn ihr wieder zurückkehrt – glücklich lächelnd über die Rückkehr unserer lieben Kinder.“
Und dann ermahnte sie Leah, sich auf die vielen Schwierigkeiten einzustellen, die ihr auf Mission gewiss widerfahren würden. „Unser Vater muss manchmal schonungslos sein“, schrieb sie, „wenn seine Kinder durch Kummer, Entbehrung und Sorgen Erfahrung sammeln sollen.“42