„Eine unerlässliche Vorbereitung“, Kapitel 5 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 5: Eine unerlässliche Vorbereitung
Kapitel 5
Eine unerlässliche Vorbereitung
Als das Dampfschiff in den Hafen von Liverpool einlief, entdeckte die einundzwanzigjährige Inez Knight inmitten einer Menge anderer Missionare auf den Docks auch ihren älteren Bruder William. Es war der 22. April 1898. Inez und ihre Mitarbeiterin Jennie Brimhall waren die ersten alleinstehenden Frauen, die als Missionarinnen der Kirche eingesetzt und nun der Britischen Mission zugeteilt worden waren. Wie ihr Bruder Will und die anderen Missionare sollten auch die beiden jungen Frauen auf Straßenversammlungen sprechen, von Tür zu Tür gehen und das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi verkündigen.1
Die Entscheidung, Frauen als Missionarinnen zu berufen, war zum Teil eine Folge der Predigt von Elizabeth McCune im Jahr zuvor. Nachdem der Missionsleiter Joseph McMurrin erlebt hatte, welche Wirkung Elizabeths Worte auf die Zuhörer gehabt hatten, hatte er an Präsident Woodruff geschrieben: „Würde man eine Anzahl kluger, intelligenter Frauen nach England auf Mission berufen, hätte das wohl vortreffliche Ergebnisse“, argumentierte er.2
Die Erste Präsidentschaft war der gleichen Meinung. Louisa Pratt, Susa Gates und andere verheiratete Frauen hatten bereits erfolgreich eine Mission an der Seite ihres Mannes erfüllt, ohne offiziell als Missionarin berufen worden zu sein. Außerdem hatten Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung sowie der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen die Kirche schon bei Veranstaltungen wie etwa der Weltausstellung 1893 hervorragend vertreten. Und viele junge, unverheiratete Frauen hatten durch die GFV bereits Erfahrung im Lehren und Führen, sodass sie durchaus in der Lage waren, das Gotteswort zu verkünden.3
Nachdem Inez ihren Bruder Will begrüßt und mit ihm geredet hatte, begaben sich die beiden jungen Frauen an den Hauptsitz der Mission, der seit den 1850er Jahren in einem vierstöckigen Gebäude untergebracht war. Dort trafen sie mit Präsident McMurrin zusammen. „Ihr müsst wissen, dass ihr vom Herrn hierher berufen worden seid“, sagte er. Bei diesen Worten verspürte Inez erstmals die Last der großen Verantwortung.4
Am nächsten Tag fuhren sie und Jennie mit Präsident McMurrin und weiteren Missionaren nach Oldham, einer Fabrikstadt östlich von Liverpool. Am Abend stellten sie sich an einer belebten Straßenecke im Kreis auf, sprachen ein Gebet und sangen Kirchenlieder, bis sich um sie herum eine ziemlich große Menschenmenge gebildet hatte. Präsident McMurrin kündigte an, am nächsten Tag werde eine besondere Versammlung abgehalten werden, und lud alle ein, dort der Predigt „echter, lebendiger Mormonenfrauen zu lauschen“.
Inez wurde ganz flau im Magen. Bei dem Gedanken, vor so vielen Menschen zu sprechen, war ihr bange zumute. Doch hier, inmitten der Missionare mit ihren Seidenhüten und den schwarzen Anzügen, erfüllte sie ein nie zuvor dagewesener Stolz darauf, der Kirche anzugehören.5
Am nächsten Abend zitterte Inez, als sie darauf wartete, dass sie an die Reihe kam. Nachdem ja die schäbigsten Lügen über die Frauen der Heiligen der Letzten Tage die Runde gemacht hatten, wie sie von Leuten wie William Jarman und weiteren Kritikern der Kirche in die Welt gesetzt worden waren, waren nun alle neugierig auf sie und die anderen Frauen, die jetzt das Wort ergreifen sollten. Sarah Noall und Caroline Smith – die eine die Frau, die andere die Schwägerin eines Missionars – sprachen zuerst. Danach war Inez an der Reihe, und trotz aller Nervosität war sie überrascht, wie gut sie die Rede hinter sich brachte.
Inez und Jennie wurden zur Missionsarbeit in Cheltenham eingeteilt. Sie gingen von Tür zu Tür und gaben häufig auf Straßenversammlungen Zeugnis. Wenn sie eingeladen wurden, besuchten sie auch Menschen zuhause. Im Allgemeinen war man ihnen wohlgesonnen; nur manchmal kam es vor, dass jemand sie verspottete oder der Lüge bezichtigte.6
Die Fülle an Fehlinformationen richtigzustellen gelang noch besser, als James E. Talmage, ein aus England stammender Gelehrter der Kirche, Großbritannien bereiste und dort Vorträge über Utah, den amerikanischen Westen und die Heiligen hielt. Diese Vorträge fanden durchweg in bekannten Räumlichkeiten statt und lockten hunderte von Zuhörern an. James projizierte dabei mittels eines Apparats, der Stereoptikon genannt wurde, in guter Qualität Bilder von Utah auf eine große Leinwand und vermittelte den Zuhörern dadurch ein eindrucksvolles Bild von Land und Leuten. Nach einem dieser Vorträge verabschiedete sich ein Zuhörer mit den Worten: „Das war komplett anders als Jarmans Vortrag.“7
Inez und Jennie hofften indes, bald mehr Frauen im Missionsdienst zu sehen. „Wir merken, wie der Herr unser Bestreben segnet, Vorurteile abzubauen und die Wahrheit zu verbreiten“, berichteten sie an die Missionsleiter. „Wir hoffen, dass viele würdige junge Frauen aus Zion ebenfalls auf Mission gehen dürfen, denn wir meinen, dass sie viel Gutes bewirken können.“8
Etwa zu der Zeit, als Inez Knight und Jennie Brimhall nach England aufgebrochen waren, kam auch Hirini Whaanga als Vollzeitmissionar in Wellington in Neuseeland an. Anfang 1898 hatte ihn die Erste Präsidentschaft auf Mission berufen, und Hirini hatte den Auftrag umgehend angenommen. „Ich werde alle notwendigen Vorbereitungen treffen“, teilte er der Ersten Präsidentschaft mit, „und mich bemühen, meine Berufung als Ältester der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage großzumachen.“9
Hirinis Missionsberufung war, wie die der alleinstehenden Missionarinnen auch, in der Geschichte der Kirche ein Meilenstein. Wohl hatten maorische „Heimmissionare“ den Ältesten in Neuseeland bisweilen zur Seite gestanden, doch Hirini war der erste Maori, der auf Vollzeitmission berufen wurde. Die Berufung erfolgte, nachdem Benjamin Goddard und Ezra Stevenson, die beide zuvor in Neuseeland auf Mission gewesen waren, Präsident Woodruff empfohlen hatten, Hirini auf Mission zu schicken. Als einer der beliebtesten und angesehensten Maori in der Kirche konnte Hirini unter seinem Volk viel Gutes bewirken. So trug er unter anderem auch die Daten ihrer Vorfahren zusammen und gab Zeugnis für das heilige Werk, das er und seine Frau Mere im Salt-Lake-Tempel verrichteten.10 Und da aufgebauschte Erzählungen über die Schwierigkeiten der Whaangas in Kanab die Runde gemacht und bei einigen Maori, die der Kirche angehörten, für Unruhe gesorgt hatten, könnte Hirini auch höchstpersönlich einen wahrheitsgemäßen Bericht über seinen Aufenthalt in Utah geben.11
Den Mitgliedern der Zion’s Māori Association war die finanziell angespannte Lage der Familie bekannt, und sie erklärten sich bereit, für Hirinis Mission die Kosten zu tragen. Die Gemeinde 11 aus Salt Lake City veranstaltete außerdem ein Benefizkonzert, um Geld für Bruder Whaanga aufzutreiben.12
Hirini ließ also seine Familie in Utah zurück und begab sich gemeinsam mit anderen neuen Missionaren nach Neuseeland. Mit seinen siebzig Jahren war er der bei weitem älteste in der Reisegruppe. Ezra Stevenson, der vor kurzem seine Frau und sein einziges Kind verloren hatte, führte die Gruppe nun als neuer Missionspräsident an. Vor dieser Berufung war er Sekretär in der Zion’s Māori Association gewesen. Zudem sprach er gut Maori, wohingegen von den neuen amerikanischen Missionaren keiner die Sprache beherrschte.13
Am Tag nach ihrer Ankunft in Neuseeland nahmen Hirini und seine Begleiter an einer Konferenz etwa achtzig Kilometer nordöstlich von Wellington teil. Da bekannt war, dass Hirini dort sein werde, unternahmen viele maorische Mitglieder große Anstrengungen, um auch dabei zu sein. Sie und weitere neuseeländische Heilige empfingen die Missionare mit einer Blaskapelle und marschierten mit ihnen die Straße hinab bis zum Versammlungsort. Dort wurden die Neuankömmlinge mit dem Haka, einem rituellen Tanz der Maori, begrüßt.
Menschen weinten vor Freude und Rührung. Es gab eine gemeinsame Mahlzeit, und Hirinis Verwandte schüttelten ihm die Hand und drückten gemäß dem traditionellen Maori-Gruß Stirn und Nase gegen die seine. Der Missionspräsident führte die Maori dann zu einer Veranda, wo sich alle um Hirini scharten und ihn zurück auf der Nordinsel willkommen hießen. Erst nach zwei Uhr nachts ging man zu Bett.14
Am nächsten Tag hielt Hirini eine Predigt über Joseph Smith, die Vollmacht des Priestertums und die Aufgaben der Zion’s Māori Association. Außerdem bat er die Heiligen, ihre Abstammungslinie zusammenzutragen und für ihre verstorbenen Ahnen die Tempelarbeit durchführen zu lassen.15
Nach der Konferenz kehrten die Heiligen nach Hause zurück, und Hirini und Ezra starteten eine Rundreise durch das gesamte Missionsgebiet.16
Im Frühjahr 1898 kam es zu Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Spanien, nachdem vor der kubanischen Küste nahe Havanna ein amerikanisches Kriegsschiff explodiert war. Die Zeitungen gaben Spanien die Schuld an der Explosion und brachten mitleiderregende Geschichten über den Kampf der Kubaner um die Unabhängigkeit von der spanischen Vorherrschaft. Überall in den Vereinigten Staaten forderten empörte Bürger den Kongress auf, zugunsten Kubas zu intervenieren.17
In Utah waren die Führer der Kirche uneins darüber, ob sie nun gegen Spanien in den Krieg ziehen sollten oder nicht. Abgesehen von der Ausrüstung des Mormonenbataillons für den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg 1846 bis 1848 hatte die Kirche ihre Mitglieder nie dazu aufgerufen, sich in einem bewaffneten Konflikt zum Militärdienst zu melden. George Q. Cannon befürwortete ein Vorgehen gegen Spanien, wohingegen Joseph F. Smith das Kriegsfieber, das die Nation gepackt hatte, beklagte. Emmeline Wells veröffentlichte im Woman’s Exponent sowohl Artikel für als auch gegen den Krieg.18
Kein Führer der Kirche sprach sich vehementer gegen den Krieg aus als Apostel Brigham Young Jr. „Die Mission des Evangeliums ist der Friede“, erklärte er auf einer Versammlung im Tabernakel in Salt Lake City. „Die Heiligen der Letzten Tage sollten bestrebt sein, Frieden herzustellen und den Frieden zu wahren.“ Er nannte den aufkeimenden Konflikt „einen Abgrund, der von uninspirierten Männern gegraben worden war“, und forderte die jungen Heiligen auf, sich nicht bei der Armee zu melden.19
Wenn es in der Kirche zu Umstimmigkeiten über eine Sachfrage kam, wandte sich Wilford Woodruff für gewöhnlich an seine Ratgeber George Q. Cannon und Joseph F. Smith und fragte: „Nun, Brüder, was meint ihr dazu?“ Doch nachdem der Prophet erfahren hatte, was Brigham Jr. gesagt hatte, tadelte er ihn diesmal ohne Umschweife. Da die Kirche ja erst vor kurzem die gute Beziehung zu den Vereinigten Staaten wiederhergestellt hatte, wollte Präsident Woodruff auf keinen Fall den Anschein erwecken, ein prominenter Führer der Kirche verhalte sich dem Land gegenüber illoyal.
„Solche Äußerungen sind unklug und hätten nicht gemacht werden dürfen“, tadelte er. „Wir gehören jetzt zur Nation und sind daher verpflichtet, wie alle übrigen Bürger unseren Teil zu tun.“20
Am 25. April 1898, dem Tag nach Brighams Rede, erklärten die Vereinigten Staaten Spanien den Krieg, und in der Zeitschrift Deseret Evening News erschien ein Leitartikel über die Pflichttreue der Heiligen den Vereinigten Staaten gegenüber. Darin hieß es: „Weder lieben wir den Krieg noch sind wir blutrünstig, doch wir stehen in jeder gerechten Sache fest und unerschütterlich zu unserem Land.“ Bald meldeten sich insgesamt mehr als sechshundert Bewohner Utahs zu den Waffen und waren bereit, für die Vereinigten Staaten in einen Krieg zu ziehen, der nur wenige Monate dauern sollte.21
Etwa um diese Zeit verschlechterte sich Wilfords Gesundheitszustand zunehmend. Und Anfang Juni erlitt George Q. Cannon einen leichten Schlaganfall. Auf Einladung von Freunden der Kirche in Kalifornien begaben sich die beiden Männer nach San Francisco in der Hoffnung, das dortige milde Klima werde ihnen zuträglich sein. Sie konsultierten dort Ärzte, statteten Bekannten einen Besuch ab und besuchten den Zweig der Kirche vor Ort.22
Am 29. August machten Wilford und George eine Kutschfahrt durch einen Park an der Pazifikküste. Sie beobachteten, wie die Wellen heranrollten und sich am Ufer brachen, und Wilford erzählte von seiner Missionszeit in den Anfangstagen der Kirche. Er sprach davon, wie er seinem Vater und seiner Stiefmutter das Evangelium verkündet hatte, die sich dann kurz vor der Geburt seines ersten Kindes taufen ließen.
Er und George hatten einander anderthalb Jahre später kennengelernt. Wilford war damals als junger Apostel auf seiner ersten Mission in England gewesen, und George war dreizehn und eine richtige Leseratte gewesen.
Und nun saßen die beiden fast sechzig Jahre später hier Seite an Seite und tauschten sich über das Evangelium und die Freude aus, die es ihnen geschenkt hatte. „Der Auftrag, für das Wirken Gottes Zeugnis abzulegen, war fürwahr eine freudvolle Arbeit“, waren sich die beiden einig.23
Drei Tage später, am 2. September, schickte George von San Francisco aus ein Telegramm an Joseph F. Smith in Salt Lake City:
Präsident Woodruff verstorben. Heute 6:40 Uhr von uns gegangen. Bitte seine Familie benachrichtigen. Er schlief die ganze Nacht friedlich und verstarb reglos.24
Als Lorenzo Snow die Nachricht vom Ableben des Propheten vernahm, befand er sich gerade in seinem Haus im Norden Utahs. Voller Sorge, was ihm die Zukunft bringen werde, nahm er sogleich den Zug nach Salt Lake City. Ihm als dienstältestem Apostel war bewusst, dass er höchstwahrscheinlich der nächste Präsident der Kirche werden würde. Präsident Woodruff hatte eigentlich schon sechs Jahre zuvor mit Lorenzo darüber gesprochen, dass es der Wille des Herrn sei, dass er der nächste Prophet werde:
„Wenn ich sterbe, solltest du, Bruder Snow, mit der Bildung der Ersten Präsidentschaft nicht erst lange zuwarten“, hatte er ihm geraten. „Nimm dir George Q. Cannon und Joseph F. Smith als Ratgeber. Das sind gute, weise Männer mit viel Erfahrung.“25
Doch Lorenzo hatte angesichts der finanziellen Lage der Kirche große Bedenken, das Amt zu übernehmen. Trotz der Bemühungen Heber J. Grants und anderer war die Kirche immer noch hoch verschuldet – Berechnungen zufolge schuldete sie ihren Gläubigern mindestens eine Million Dollar. Lorenzo selbst schätzte den Schuldenberg auf bis zu drei Millionen.26
In den Tagen nach dem Tod von Präsident Woodruff leitete Lorenzo als Präsident des Kollegiums der Zwölf Apostel die Geschäfte der Kirche. Doch er fühlte sich zutiefst unzulänglich. Am 9. September, dem Tag nach der Beerdigung, kam Lorenzo mit dem Kollegium der Zwölf zusammen. Da er sich der Berufung immer noch nicht gewachsen fühlte, schlug er vor, als Präsident des Kollegiums zurückzutreten. Die Apostel sprachen sich jedoch dafür aus, ihn weiterhin als leitenden Apostel im Amt zu unterstützen.27
Eines Abends rang Lorenzo im Salt-Lake-Tempel darum, den Willen des Herrn in Erfahrung zu bringen. Er war niedergeschlagen und wegen seiner neuen Aufgaben äußerst bedrückt. Nachdem er die Tempelkleidung angelegt hatte, flehte er den Herrn an, er möge seinen Geist erleuchten. Der Herr erhörte sein Gebet und zeigte Lorenzo unmissverständlich, dass er den Rat Präsident Woodruffs beherzigen und ohne Umschweife die Erste Präsidentschaft neu bilden solle. George Q. Cannon und Joseph F. Smith sollten seine Ratgeber werden.
Seinen Mitaposteln erzählte Lorenzo jedoch nichts von dieser Offenbarung. Er wartete stattdessen ab und hoffte, dass sie das gleiche geistige Zeugnis über den künftigen Weg erhalten würden.28
Am 13. September kam das Kollegium erneut zusammen, um die Finanzen der Kirche zu besprechen. Nach dem Dahinscheiden Präsident Woodruffs hatte die Kirche nun keinen Treuhänder mehr, der ihre zeitlichen Angelegenheiten regelte. Den Aposteln war klar, dass diese Aufgabe letztlich dem nächsten Präsidenten der Kirche zufallen werde. Allerdings hatte das Kollegium der Zwölf Apostel bisher jedes Mal mehr als ein Jahr lang zugewartet, ehe eine neue Erste Präsidentschaft gebildet worden war. Zunächst mussten sie daher jemanden ermächtigen, der die Geschäfte der Kirche führte, bis die Heiligen einen neuen Präsidenten im Amt bestätigt hatten.
Die Apostel suchten nach Lösungswegen aus dem Dilemma, und Heber J. Grant sowie Francis Lyman regten an, es solle doch gleich eine neue Erste Präsidentschaft gebildet werden. „Sollte der Herr dir, Präsident Snow, offenbaren, dass es richtig ist, sofort so vorzugehen“, sagte Francis, „bin ich bereit, nicht für einen Treuhänder zu stimmen, sondern gleich für den Präsidenten der Kirche.“
Die anderen Apostel waren rasch einverstanden. Joseph F. Smith schlug vor, dass sie Lorenzo zum neuen Präsidenten ernennen sollten, und alle sprachen sich für diesen Antrag aus.
„Ich kann nur mein Allerbestes geben und auf den Herrn vertrauen“, meinte Lorenzo. Danach erzählte er den Aposteln von der Offenbarung, die er im Tempel erhalten hatte. „Ich habe diese Sache absolut niemandem gegenüber erwähnt“, sagte er. „Ich wollte sehen, ob der gleiche Geist, den der Herr mir kundgetan hat, auch in euch ist.“
Nun, da die Apostel das Zeugnis erhalten hatten, war Lorenzo bereit, den Ruf des Herrn anzunehmen und als nächster Präsident der Kirche zu dienen.29
Rund einen Monat später bestätigten die Heiligen auf der Generalkonferenz im Oktober 1898 Lorenzo Snow, George Q. Cannon und Joseph F. Smith als neue Erste Präsidentschaft.30
Für Präsident Snow stand die Stabilisierung der finanziellen Lage der Kirche an oberster Stelle. Er führte den noch von Wilford Woodruff genehmigten Plan aus und verkaufte langfristige und niedrig verzinste Anleihen, um die unmittelbaren Ausgaben der Kirche decken zu können. Er rief ein Buchprüfungskomitee ins Leben, das die Finanzen der Kirche prüfen sollte, und führte ein neues Buchhaltungssystem ein. Er versuchte auch, neue Einnahmequellen zu generieren, und ließ etwa die Kirche die volle Eigentümerschaft über die Zeitung Deseret News übernehmen, die zuvor in privater Hand gewesen war.31
Diese Bemühungen verbesserten wohl die finanzielle Basis der Kirche, nichts von alledem erwies sich jedoch als ausreichend. Auf der Generalkonferenz im April 1899 predigten Präsident Snow und weitere Führer der Kirche das Gesetz des Zehnten – ein Gesetz, das die Heiligen nicht mehr gewissenhaft eingehalten hatten, seit die Regierung vor mehr als zehn Jahren bedeutende Vermögenswerte der Kirche beschlagnahmt hatte. Der Prophet riet den Heiligen auch, keine Schulden zu machen.
„Tragt euren alten Hut, bis ihr euch einen neuen leisten könnt“, riet er. „Möglicherweise kann sich ja euer Nachbar für seine Familie ein Klavier kaufen; ihr aber wartet bittet ab, bis ihr es auch bezahlen könnt.“32
Er wies auch die örtlichen Führer an, die Mittel der Kirche weise einzusetzen. „Es mag gewisse Umstände geben, die Schulden rechtfertigen, doch das sind vergleichsweise wenige“, meinte er. „In der Regel ist das Schuldenmachen falsch.“33
Eines Morgens Anfang Mai saß Präsident Snow im Bett, als sein Sohn LeRoi das Zimmer betrat. LeRoi war kürzlich von seiner Mission in Deutschland zurückgekehrt und arbeitete nun für seinen Vater als dessen Privatsekretär. Der Prophet sagte ihm zur Begrüßung: „Ich fahre nach St. George.“34
LeRoi war überrascht. St. George lag ganz unten in der südwestlichsten Ecke von Utah – fast fünfhundert Kilometer von Salt Lake City entfernt. Um dorthin zu gelangen, musste man erst den Zug nach Süden bis zur Endstation nehmen und den Rest der Strecke dann mit der Pferdekutsche zurücklegen. Es war eine lange, anstrengende Fahrt für einen Fünfundachtzigjährigen.35
Sie brachen noch im Mai auf und wurden von Freunden und Führern der Kirche begleitet. Staubig und müde von der Reise kamen sie in St. George an und suchten Daniel McArthur, den Pfahlpräsidenten, auf, wo sie die Nacht verbringen wollten. Neugierig erkundigte sich der Pfahlpräsident, weshalb sie denn eigentlich gekommen seien.
„Ehrlich gesagt“, erwiderte Präsident Snow, „weiß ich das nicht, aber der Heilige Geist hat uns wissen lassen, dass wir kommen sollen.“36
Am nächsten Tag, dem 17. Mai, kam der Prophet im Tabernakel von St. George, einem roten Sandsteinbau einige Straßen nordwestlich des Tempels, mit den Heiligen zusammen. Er hatte in der Nacht zuvor nur unruhig geschlafen, sah aber, als er auf den Beginn der Versammlung wartete, frisch und munter aus. Er war gleich der erste Redner, und als er sich erhob, um zu den Heiligen zu sprechen, klang seine Stimme klar und deutlich.37
„Einen Grund dafür, weshalb wir überhaupt gekommen sind, können wir nicht nennen“, gestand er gleich eingangs ein, „doch ich nehme an, der Herr wird uns etwas zu sagen haben.“ Lorenzo war schon dreizehn Jahre lang nicht mehr in St. George gewesen, und er sprach davon, wie erfreulich es sei, dass die dortigen Heiligen das Gottesreich über das Streben nach Wohlstand stellten. Er forderte sie auf, auf die Stimme des Geistes zu hören und zu beherzigen, was ihnen der Geist mitteilen werde.
„Um in den Himmel zu kommen, müssen wir zuerst lernen, die Gesetze des Himmels zu befolgen“, erklärte er ihnen, „und wir kommen dem Gottesreich so schnell näher, wie wir lernen, die Gesetze Gottes zu befolgen.“38
Mitten in der Predigt hielt Präsident Snow unerwartet inne. Im Raum wurde es mucksmäuschenstill. Seine Augen glänzten, und sein Gesicht schien zu leuchten. Als er wieder den Mund öffnete, klang seine Stimme kraftvoller. Göttliche Inspiration schien den Raum zu erfüllen.39
Dann sprach er über den Zehnten. Die meisten Heiligen in St. George zahlten den vollen Zehnten, und der Prophet lobte sie wegen ihrer Glaubenstreue. Er stellte auch fest, dass gerade die Armen die großzügigsten Zehntenzahler seien. Aber er beklagte, dass viele andere Heilige nicht ihren vollen Zehnten zahlten, obwohl die jüngste Finanzkrise nun hinter ihnen lag und sich die Wirtschaft wieder erholte. Er erwarte, dass sämtliche Heilige diesen Grundsatz strikt einhalten. „Dies ist eine unerlässliche Vorbereitung auf Zion“, merkte er an.40
Am nächsten Nachmittag sprach Präsident Snow erneut im Tabernakel. „Jetzt ist die Zeit gekommen“, erläuterte er den Anwesenden, „dass jeder Heilige der Letzten Tage, der sich auf die Zukunft vorbereiten und auf festem Grund stehen will, den Willen des Herrn tun und den vollen Zehnten zahlen muss. Dies ist das Wort des Herrn an euch, und es wird als Wort des Herrn an jede Siedlung im ganzen Land Zion ergehen.“41
Auf der Rückfahrt nach Salt Lake City hielt Präsident Snow in den Dörfern und Städten entlang seiner Reiseroute an und gab Zeugnis für den offenbarten Willen des Herrn. „Seit nunmehr einundsechzig Jahren ist uns das Gesetz des Zehnten bekannt, und doch haben wir noch nicht gelernt, es zu befolgen“, sagte er den Heiligen in einer Stadt. „Wir befinden uns in einem furchtbaren Zustand, und genau deswegen ist die Kirche auch in Knechtschaft. Die einzige Lösung besteht darin, dass die Heiligen dieses Gesetz befolgen.“ Er forderte sie auf, das Gesetz zur Gänze zu befolgen, und verhieß ihnen, dass der Herr sie dafür segnen werde. Er erklärte auch, dass das Zahlen des Zehnten ab nun auch eine unumstößliche Voraussetzung für den Tempelbesuch darstelle.42
Auch in Salt Lake City rief er die Heiligen dazu auf, den Zehnten zu zahlen, und verhieß ihnen, dass ihnen der Herr ihren früheren Ungehorsam gegenüber diesem Gesetz vergeben, ihr Land heiligen und sie vor Schaden bewahren werde. Am 2. Juli sprach er im Salt-Lake-Tempel bei einer Versammlung vor Generalautoritäten, Führungsbeamten der Kirche, Pfahlpräsidentschaften und Bischöfen über dieses Gesetz.43
„Der Herr hat uns unsere frühere Nachlässigkeit beim Zahlen des Zehnten vergeben, doch weiterhin wird er uns nicht mehr vergeben“, erklärte er. „Halten wir uns nicht an dieses Gesetz, so werden wir zerstreut wie die Heiligen damals im Kreis Jackson.“
Gegen Ende der Versammlung forderte der Prophet alle auf, aufzustehen, die rechte Hand zu heben und zu geloben, dass sie das Gesetz des Zehnten als Wort des Herrn annehmen und halten wollen. „Wir erwarten, dass ihr dieses Gesetz voll Eifer befolgt“, sagte er den Heiligen, „und dafür sorgt, dass dieses Wort an die gesamte Kirche in aller Welt weitergegeben wird.“44