Kapitel 34
Geh hin und sieh
An das Leben in einer Kleinstadt war Emmy Cziep nicht gewöhnt. Sie war ja in einer pulsierenden europäischen Großstadt aufgewachsen und konnte dem Leben in ihrem neuen kanadischen Zuhause in Raymond in Alberta zunächst nicht viel abgewinnen. Das Städtchen hatte einige wenige Läden, eine Zuckerfabrik, unbefestigte Straßen und keinen Bürgersteig. Als sich Emmy den Ort so anschaute, dachte sie bei sich: „Habe ich für das hier alles zurückgelassen, was mir lieb war?“
Heber und Valeria Allen, die sie bei sich aufgenommen hatten, taten wirklich alles, damit sie sich wohlfühlte. Emmy hatte im oberen Stockwerk des geräumigen Hauses ein eigenes Zimmer, und Heber ließ sie in seinem Laden, dem Raymond Mercantile, arbeiten. Emmy wusste, dass er eigentlich keine Angestellte brauchte, aber so konnte sie wenigstens das Geld zurückzahlen, das er und seine Frau für ihre Einwanderung ausgegeben hatten. Die Allens waren nur eine von vielen kanadischen Familien der Heiligen der Letzten Tage, die die Mitglieder in Europa unterstützten. Erst unlängst hatte der Pfahl, zu dem die Allens gehörten, insgesamt fünfzehntausend Säcke Weizenschrot an die Heiligen in Deutschland versandt.1
Emmy war erst einige Wochen in Raymond, als sie einen Brief von Glenn Collette erhielt, einem ehemaligen Missionar der Schweizerisch-Österreichischen Mission. Die beiden hatten einander bei der Missionsarbeit in der Schweiz kennengelernt, und rasch war ihnen klar, dass sie etwas füreinander empfanden. Damals hatten sich jedoch beide weiterhin auf die Missionsarbeit konzentriert. Glenn lebte nun in Idaho Falls in den Vereinigten Staaten, also fast achthundert Kilometer südlich von Raymond, aber er fragte an, ob er Emmy zu Weihnachten besuchen dürfe.
Die Allens waren zwar nicht gerade begeistert davon, dass der junge Mann den weiten Weg auf sich nehmen wollte, bloß um Emmy zu besuchen, aber sie stimmten letztlich zu, und so verbrachte er die Feiertage dort im Familienkreis. Emmy freute sich, Glenn wiederzusehen, und als er dann wieder in Idaho war, schrieben sie einander so gut wie jeden Tag und telefonierten jeden Samstagabend.2
Am Valentinstag machte Glenn Emmy am Telefon einen Heiratsantrag, und sie nahm ihn an. Doch ein paar Tage später kamen ihr doch Zweifel, ob sie denn genug Zeit gehabt hätten, einander richtig kennenzulernen. Sie wusste über ihn, dass er ein guter Mensch war und auf Mission ganzen Einsatz geleistet hatte. Außerdem hatte er viele Freunde und schien Kinder zu mögen. Aber war es denn wirklich klug, einen Mann zu heiraten, den sie hauptsächlich übers Telefon kennengelernt hatte?
Glenns Briefe beruhigten sie ein wenig und trugen dazu bei, dass sie ihn immer besser kennenlernte. „Ich liebe dich von ganzer Seele“, schrieb er in einem Brief. „Was immer die Zukunft mir auch bringen mag – mit dir an meiner Seite werden Glück und Freude mich begleiten.“3
Am 24. Mai 1949, also gerade mal sechs Monate nach Emmys Ankunft in Kanada, sprachen sie und Glenn ein Gebet, bevor sie sich gemeinsam zum Cardston-Tempel aufmachten. Glenn vergaß vor Nervosität die Heiratsurkunde, was die beiden ein wenig aufhielt. Und Emmy wiederum vermisste ihre Eltern in Österreich schmerzlich. Doch sie wusste ja, dass sie an sie dachten und die Bedeutung des Bündnisses kannten, das sie an diesem Tag eingehen wollte.4
Als Emmy und Glenn dann im Siegelungsraum am Altar knieten, verspürte Emmy tiefe Dankbarkeit. Ihr Umzug in den Westen Kanadas hatte es möglich gemacht, dass sie nun in der Nähe eines Tempels wohnte und ihn mit dem Mann besuchen konnte, den sie liebte. Ohne das wiederhergestellte Evangelium und die Verpflichtung beider, danach zu leben, hätten Glenn und sie einander nie gefunden.
Nach den Flitterwochen in einem nahegelegenen Nationalpark kehrte Glenn nach Idaho Falls zurück. Emmy blieb derweil noch in Raymond, weil sie die Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten abwarten musste. Etwa einen Monat nach der Hochzeit hatte Emmy eines Abends die Gelegenheit, mit einer Gruppe von Missionaren in den Tempel zu gehen.
„Wenn ich heute Abend im Tempel bin, werde ich ständig an dich denken“, schrieb sie ihrem Mann. Sie freute sich schon auf den Tag, da sie gemeinsam in das Haus des Herrn zurückkehren würden. „Bis dann aber“, so schrieb sie, „sollst du wissen, dass ich dir dankbar bin und dich liebe.“5
Etwa um diese Zeit bangte die neunundzwanzigjährige Toshiko Yanagida in Nagoya in Japan um ihr Leben. Sie hatte gerade eine Fehlgeburt erlitten und anschließend hatte ihr Arzt einen Tumor festgestellt, der operiert werden musste. Da es nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan immer noch an medizinischer Ausrüstung mangelte, war der Eingriff nicht ungefährlich. Toshiko machte sich in der Ungewissheit, ob sie den Eingriff überleben werde, vor allem Sorgen um ihre Söhne, den dreijährigen Takao und den fünfjährigen Masashi. Sie wünschte sich, dass die beiden Gottesglauben entwickelten, doch sie und ihr Mann Tokichi hatten mit den Kindern nie über Geistiges gesprochen.6
Toshiko war nicht besonders religiös, doch sie glaubte jedenfalls daran, dass eine höhere Macht über sie wache. In ihrer Jugend hatte sie eine protestantische Schule besucht und sich mit den beiden in Japan am weitesten verbreiteten Religionen, dem Shintoismus und dem Buddhismus, befasst. Sie konnte sich auch noch daran erinnern, dass sie mit ihrem Vater Tomigoro Takagi, der sich 1915 der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angeschlossen hatte, einmal eine Kirchenversammlung besucht hatte. Ihr Vater verlor allerdings nicht viele Worte über seinen Glauben, schon deswegen nicht, weil Toshikos Großeltern, die damals bei der Familie wohnten, die Kirche rundweg ablehnten. Und als die Japanische Mission 1924 geschlossen wurde, war Toshiko gerade mal fünf Jahre alt und ihr Vater Tomigoro hatte ab dann nur selten die Gelegenheit, sich mit anderen Heiligen zu treffen.7
Toshikos Operation verlief erfolgreich, und nachdem sie sich stark genug für die Reise fühlte, fuhr sie zu ihren Eltern in die Nähe von Tokio und sprach mit ihrem Vater über Religion. „Ich möchte in eine Kirche gehen“, sagte sie zu ihm.8
Tomigoro redete ihr zu, doch einen Gottesdienst der Heiligen der Letzten Tage zu besuchen. Er selbst hatte auch wieder damit begonnen, zur Kirche zu gehen. Nach dem Krieg hatten sich die Führer der Kirche in Salt Lake City um die japanischen Heiligen gekümmert und ihnen dringend benötigte Lebensmittel und Kleidung geschickt. Auch bei den Gottesdiensten für Militärangehörige konnten die japanischen Mitglieder mit amerikanischen Soldaten, die der Kirche angehörten, zusammenkommen. Die positiven Auswirkungen dieser Treffen veranlasste die Erste Präsidentschaft 1948 dazu, erneut Missionare nach Japan zu entsenden.
Tomigoro war auch mit Ted Price bekannt, der in Narumi – also zwei Stunden von dem Ort entfernt, wo Toshiko wohnte –, als Missionar diente. „Geh hin und sieh es dir mal an“, meinte Toshikos Vater. „Und wenn du Elder Price sagst, dass du die Tochter von Tomigoro Takagi bist, freut er sich bestimmt.“9
Toshiko war allerdings etwas skeptisch, was die Kirche ihres Vaters anging. Von der Lehre hatte sie keine Ahnung, und der Name „Mormonen“ gefiel ihr nicht. Aber ein paar Monate nach ihrer Operation machte sie sich eines Sonntags dann doch zu dem kleinen Versammlungsraum an einem Hügel von Narumi auf. Toshiko kam ein wenig zu spät an, und Elder Price sprach gerade vor einer großen Gruppe über das Buch Mormon. Was Toshiko dort hörte, änderte ihre Einstellung zur Kirche. Sie glaubte dem, was gesagt wurde, und es schenkte ihr Hoffnung.10
Nach der Versammlung sprach sie mit Elder Price und seinem Mitarbeiter Danny Nelson. Sie mochte die beiden jungen Männer und freute sich schon darauf, sie bald wieder sprechen zu hören. Nach Narumi zur Kirche zu fahren würde allerdings schwierig werden, da die Fahrt dorthin viel Zeit kostete. Und ihr Mann würde sie wahrscheinlich nicht begleiten. Der Sonntag war sein einziger arbeitsfreier Tag, und er wollte mit keiner Religion irgendetwas zu tun haben.
In Toshiko war jedoch durch das, was sie gehört hatte, der Glaube an das wiederhergestellte Evangelium entfacht worden. „Wenn ich das alles auch meinen Jungs weitergeben will, muss sich mein Mann ändern“, sagte sie zu sich. „Wie kann ich dabei helfen?“11
Während Toshiko Yanagida so über die Zukunft ihrer Familie nachdachte, überlegte Adele Cannon Howells, die Präsidentin der Primarvereinigung der Kirche, wie man kleinen Kindern das Buch Mormon näherbringen könne. Jahrelang war das Buch Mormon in Ansprachen auf der Generalkonferenz und im Unterrichtsmaterial der Kirche eigentlich nur am Rande zur Sprache gekommen. In der Primarvereinigung wurden eher Geschichten aus der Bibel sowie sonstige christliche Werte gelehrt, wie sie auch in anderen Glaubensgemeinschaften vermittelt wurden. In letzter Zeit hatten die Führer und die Lehrkräfte der Kirche jedoch begonnen, mehr aus dem Buch Mormon zu zitieren. Daher wünschten sich manche Mitglieder eine Überarbeitung der PV-Lektionen – das Buch Mormon und die für die Kirche spezifischen Lehren sollten darin vermehrt genutzt werden.
Da Adele bekannt war, wie wirkungsvoll im Rahmen des Evangeliumsunterrichts vor allem Bilder sind, wandte sie sich mit der Anregung, für Kinder ein Bilderbuch des Buches Mormon herauszugeben, sowohl an Apostel Spencer W. Kimball als auch an mehrere Organisationen der Kirche.12
„Eine äußert interessante Anregung“, befand Elder Kimball. Doch er befürchtete, solch ein Projekt könne zu kostspielig werden.13
Adele wollte die Idee jedoch nicht gleich wieder aufgeben. Seit sie im Jahr 1943 als Präsidentin der Primarvereinigung berufen worden war, hatte sie mehrere ehrgeizige Projekte verwirklicht, darunter zwei innovative Programme für Kinder. Das erste war eine fünfzehnminütige Radiosendung mit dem Titel Children’s Friend of the Air, deren Vorlage aus Geschichten aus der offiziellen Zeitschrift der Primarvereinigung bestand. Das zweite Projekt war eine wöchentliche Fernsehsendung namens Junior Council, die erstmals 1948 ausgestrahlt wurde – im gleichen Jahr, als die Kirche zum ersten Mal die Generalkonferenz auch im Fernsehen übertrug. Im Rahmen des Junior Council beantwortete eine Gruppe von Kindern Fragen, die von Lesern der Zeitschrift Children’s Friend sowie von einem Live-Publikum im Studio gestellt wurden.14
Abgesehen davon hatte Adele auch schon seit Jahren Pläne zum Bau eines neuen Kinderkrankenhauses in Salt Lake City erarbeitet. Die Primarvereinigung betrieb seit 1922 ein Krankenhaus in der Stadt, doch nun bedurfte es einer größeren und moderneren Einrichtung. Im April 1949 wurde der erste Spatenstich für das neue Krankenhaus vorgenommen, das auf einem Hügel mit Blick auf das Salzseetal stehen sollte. Um die erforderlichen Mittel aufzubringen und den PV-Kindern auch das Gefühl zu geben, am Bau beteiligt zu sein, rief Adele ein Programm ins Leben, das sie „Kauf einen Ziegelstein“ betitelte. Wenn ein Kind zehn Cent spendete, gehörte ihm dann sozusagen ein Ziegel einer Mauer.15
Zusätzlich zu ihren Überlegungen zu einem Bilderbuch zum Buch Mormon zog Adele auch in Erwägung, anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Zeitschrift Children’s Friend eine Reihe von Gemälden in Auftrag zu geben. Da das Jubiläum allerdings schon 1952 stattfinden sollte, also in drei Jahren, musste sie – sollten die Gemälde noch rechtzeitig fertig werden – möglichst rasch einen geeigneten Künstler finden.16
Szenen aus dem Buch Mormon waren bereits von mehreren Künstlern, die der Kirche angehörten, gemalt worden. Jahrzehnte zuvor hatte George Reynolds, ein Sekretär der Ersten Präsidentschaft, ein Buch mit Geschichten aus dem Buch Mormon mit hochwertigen Illustrationen einheimischer Künstler herausgegeben. Kurze Zeit später veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln über Nephi und dessen Leben – mit Bildern des dänischen Künstlers C. C. A. Christensen.
Unlängst hatte der Illustrator Phil Dalby damit begonnen, für die Deseret News eine Comicreihe aus dem Buch Mormon zu zeichnen. Und Minerva Teichert, die an einigen der besten Kunsthochschulen der Vereinigten Staaten studiert hatte, hatte kurz nach Fertigstellung der Wandmalereien für einen Verordnungsraum im Manti-Tempel mit einer ehrgeizigen Bilderreihe aus dem Buch Mormon begonnen. Minerva wollte mit ihren Gemälden das Buch Mormon zum Leben erwecken. Viele ihrer Bilder zeigten farbenfrohe Szenen mit Frauen, die in den Schriften oft namenlos blieben.17
Auf der Suche nach einem Maler wurde Adele auf die Werke Arnold Fribergs aufmerksam, eines sechsunddreißigjährigen Heiligen der Letzten Tage, der erst seit kurzem in Utah lebte. Eines seiner religiösen Gemälde beeindruckte sie sehr. Es zeigte Richard Ballantyne, den Gründer der Sonntagsschule, wie er neben einem Kaminfeuer sitzend eine Gruppe aufmerksam lauschender Kinder unterrichtete. Das Gemälde war bis ins letzte Detail ausgearbeitet – von der Holzmaserung des Dielenbodens bis hin zum flackernden Feuerschein, der sich auf den Gesichtern der Kinder widerspiegelte.18
Adele neigte nach weiteren Nachforschungen dazu, Arnold den Auftrag zu erteilen. Zweifellos war er talentiert und ganz offensichtlich war es ihm ein großes Anliegen, Religiöses in einem Gemälde festzuhalten. Die Bilder würden sicher teuer sein, doch Adele verfügte über die finanziellen Mittel, die Gemälde notfalls auch aus eigener Tasche bezahlen zu können.19
Sie war davon überzeugt, dass das Projekt von großem Wert sei, und schilderte die Bemühungen des PV-Ausschusses in ihrem Tagebuch, in der Hoffnung, dass sich ihr Traum auch verwirklichen lassen werde. „Möge uns der Herr dabei zur Seite stehen“, schrieb sie.20
In Japan besuchte Toshiko Yanagida möglichst jede Versammlung der Kirche, zu der sie nur irgendwie kommen konnte. Sonntagmorgens fuhr sie zur Sonntagsschule nach Narumi. Tatsui Sato, ein ehemaliger Protestant, der sich zusammen mit seiner Frau Chiyo etwa ein Jahr nach Kriegsende hatte taufen lassen, war der Lehrer. Abends besuchte Toshiko in einem anderen Stadtteil die Abendmahlsversammlung. Montags gab es im Zweig eine GFV-Versammlung für alle, die sich mit den heiligen Schriften befassen und auch das eine oder andere Gesellschaftsspiel spielen wollten. Bald nahm Toshiko auch an diesen Treffen teil. Nach der Operation, die auch eine finanzielle Belastung war, hatte sie sich körperlich und seelisch ausgelaugt gefühlt. Doch das Zusammensein mit den Heiligen hob ihre Stimmung und schenkte ihr neuen Lebenssinn.
Ihr Mann Tokichi war jedoch nicht glücklich über die vielen Stunden, die sie weg von zuhause verbrachte. Als sie immer öfter und manchmal auch ziemlich kurzfristig das Haus verließ, stellte er sie vor die Wahl zwischen ihrem Zuhause und ihrem Glauben. „Wenn du so oft in die Kirche gehen willst, sollten wir die Kinder unter uns aufteilen“, fand er. „Ich nehme den Großen, du kannst den Kleinen nehmen und einfach ausziehen.“21
Toshiko hatte jedoch ihren Söhnen zuliebe damit begonnen, zur Kirche zu gehen, und wollte daher keineswegs, dass die Familie daran zerbrach. Aber in ihr altes Leben zurückkehren wollte sie auch nicht mehr. Stattdessen wollte sie zuhause noch fleißiger sein, um Tokichi zu beweisen, dass sie sich der Kirche widmen konnte, ohne deswegen die Familie zu vernachlässigen. „Bitte lass mich das noch ein bisschen länger machen“, flehte sie ihn an. Und Tag und Nacht betete sie darum, dass auch er zur Kirche kommen und mit ihr im Glauben vereint sein möge.22
Einmal lud Toshiko Elder Price und Elder Nelson zur Geburtstagsfeier ihres Sohnes Takao ein. Die Missionare freuten sich und kamen trotz des weiten Weges gern und brachten für Takao Süßigkeiten mit.23
Auf der Party setzte sich Elder Nelson neben Tokichi und sprach mit ihm über die Kirche und über seine Mission. Er erklärte ihm, dass Elder Price und er für ihre Mission selbst aufkämen und nicht von der Kirche bezahlt würden. Die Missionare gaben auch Zeugnis für das wiederhergestellte Evangelium und sprachen darüber, was es für den Zusammenhalt innerhalb der Familie bedeuten kann. Nach dem Essen wurden Spiele gespielt, und bevor die jungen Männer nach Narumi zurückkehrten, beteten sie mit den Yanagidas.24
„Diese Missionare sind irgendwie anders“, sagte Tokichi später zu Toshiko. Priester, die für ihre Arbeit Geld bekamen, lehnte er nämlich ab und war aus diesem Grund besonders beeindruckt von den Missionaren, die bereitwillig solch große Opfer brachten, um Gott zu dienen. „Wunderbare Männer sind das“, meinte er.25
Zwei Monate später, im August 1949, ließ sich Toshiko taufen. Sie nahm zu diesem Zweck eigens die achtstündige Fahrt nach Tokio auf sich, damit auch ihr Vater bei der Taufe dabei sein konnte. Elder Price taufte sie, und der Missionspräsident Edward Clissold konfirmierte sie. Toshiko war überglücklich, endlich der Kirche anzugehören, und es war offensichtlich, dass sich auch ihr Vater freute.26
Nicht lange nach der Taufe musste Tokichi geschäftlich nach Tokio fahren, und Toshiko schlug vor, er könne ja im Missionsheim bei Elder Nelson vorbeischauen, der erst vor kurzem dorthin versetzt worden war. „Falls ich Zeit habe“, war alles, was Tokichi dazu sagte.27
Da die Familie kein Telefon besaß, musste sich Toshiko gedulden, bis ihr Mann drei Tage später von seiner Geschäftsreise zurückkehrte. Sie wollte sogleich wissen, ob er auch im Missionsheim gewesen sei. „Hast du Nelson gesehen?“, erkundigte sie sich.
„Ja“, erwiderte Tokichi. „Er hat mich getauft, und ein Mann namens Elder Goya hat mir die Hände aufgelegt.“ Toshiko kannte Koojin Goya nicht. Er war einer von mehreren japanischstämmigen amerikanischen Missionaren aus Hawaii, die nach Japan auf Mission berufen worden waren.28
Toshiko verschlug es die Sprache. Tokichi war doch noch nie mit ihr nach Narumi zur Kirche gefahren, aber irgendwie hatte der Herr sein Herz berührt und ihn dazu gebracht, sich taufen zu lassen.
„Banzai!“, dachte sie bei sich. Ja!29
Nach Tokichis Taufe wollten er und Toshiko mit den Satos zusammen die Kirche auf einem Militärstützpunkt in der Nähe ihres Hauses in Nagoya besuchen, wo eine amerikanischen Soldatengruppe ihre Versammlungen abhielt. Toshiko freute sich, dass die Familie nun gemeinsam zur Kirche ging – doch die Versammlungen fanden auf Englisch statt! Tatsui sprach zwar gut Englisch und konnte für die Yanagidas übersetzen, dennoch wünschte sich Toshiko, ihre Familie könnte das Evangelium in ihrer Muttersprache kennenlernen.
Daher schrieb sie bald darauf an den neuen Missionspräsidenten Vinal Mauss und fragte an, ob in Nagoya denn nicht auch Versammlungen in japanischer Sprache abgehalten werden könnten.30
Am 6. November 1949 taufte Paul Bang seine achtjährige Tochter Sandra. Zweiundzwanzig Jahre waren seit Pauls eigener Taufe im nahegelegenen Ohio River vergangen. In dieser Zeit hatte Paul miterlebt, wie sich der Zweig Cincinnati zu einer der stärksten Gemeinden der Heiligen der Letzten Tage in dieser Gegend entwickelt hatte. Und nun gaben seine Frau Connie und er ihr Erbe des Glaubens an Sandra und deren jüngere Geschwister weiter.31
Allwöchentlich besuchten in Cincinnati an die hundert Heilige die Abendmahlsversammlung. Als sich der Bau eines neuen Gemeindehauses während des Krieges als unmöglich erwies, kaufte der Zweig eine ehemalige jüdische Synagoge und renovierte sie mit Hilfe der Baufirma von Zweigpräsident Alvin Gilliam innen und außen. Die Heiligen beauftragten auch einen Kunststudenten, an die Wand hinter dem Rednerpult ein Bild vom Erretter zu malen.32
Das neue Gemeindehaus bot dem Zweig viel Platz zum Wachsen. Nach dem Krieg blieben viele junge Mitglieder, vor allem die mit starken familiären Bindungen, in Cincinnati, gründeten dort ihre Familie und dienten weiterhin in der Kirche.33 Eine Zeit lang war Paul Ratgeber in der Zweigpräsidentschaft gewesen. Nun diente er im Distrikt Seite an Seite mit seinem Vater Christian Bang als Hoher Rat. Connie leitete unterdessen in der GFV Junger Damen die Gruppe der Ährenleserinnen.34
Die Größe des Zweiges Cincinnati und die Erfahrung der dortigen Mitglieder versetzten den Zweig auch in die Lage, kleinere Zweige in der Umgebung zu unterstützen. So fuhren etwa Sonntag für Sonntag Familien aus Cincinnati nach Georgetown, einem Dorf gut sechzig Kilometer weiter östlich, um dort eine kleine Gruppe von Heiligen zu unterstützen.35
Doch so stark der Zweig Cincinnati auch war – in der Frage der Rassentrennung blieben die Mitglieder nach wie vor gespalten. Len und Mary Hope, das einzige afroamerikanische Ehepaar im Zweig, hielten weiterhin monatlich eine Versammlung bei sich zuhause ab, da einige Mitglieder des Zweiges immer noch dagegen waren, dass die Hopes den regulären Gottesdienst besuchten. Die Versammlung im Hause Hope war stets gut besucht – bis zu dreißig Personen waren mitunter anwesend, denn auch die Bangs und deren Verwandte kamen. Mary wusste zwar nie, wie viele Leute jeweils zu erwarten waren, doch irgendwie schien sie immer genug Essen für alle vorbereitet zu haben. Len leitete die Versammlung und wählte die Lieder aus. Eines seiner Lieblingslieder war: „Wir danken, o Gott, für den Propheten.“36
Lens Freunde machten ihm mitunter Vorhaltungen, weil er einer Kirche angehörte, in der er weder das Priestertum ausüben noch den Gottesdienst besuchen dürfe, doch Mary und er blieben ihrem Glauben treu. Ihre Freunde im Zweig kümmerten sich aufmerksam um sie, gaben ihnen und den Kindern bei Bedarf einen Priestertumssegen und halfen bei Reparatur- und Ausbauarbeiten im Haus.37 Als Mary Louise Cates, eine der afroamerikanischen Freundinnen der Hopes, das Evangelium annahm, taufte Paul sie. Ein paar Jahre später segnete ein Mitglied des Zweiges die neugeborene Enkelin der Hopes.38
Nach fast einem Vierteljahrhundert unerschütterlichen Glaubens hatten Len und Mary 1947 eine Reise nach Utah unternommen. Sie übernachteten bei einem ehemaligen Missionar namens Marion Hanks, der in Cincinnati auf Mission gewesen war und ihnen nun Salt Lake City zeigte und sie zur Generalkonferenz mitnahm. Auch von Abner und Martha Howell, einem weiteren schwarzen Ehepaar in der Kirche, wurden sie freundlich aufgenommen. Sowohl die Reise an sich als auch die freundliche Aufnahme erfreuten die Hopes. Zwei Jahre später verschlechterte sich Lens Gesundheit, und er hegte den Wunsch, seinen Lebensabend in Utah zu verbringen und eines Tages auch dort beerdigt zu werden.39
Nicht lange nach Sandra Bangs Taufe berief die Distriktspräsidentschaft Paul zum Präsidenten des kleinen Zweiges in Hamilton, einer Stadt im Norden von Cincinnati. Kurze Zeit später wurde Connie als Sekretärin der Frauenhilfsvereinigung im Zweig Cincinnati berufen. In ihrem Patriarchalischen Segen war sie ja dazu aufgefordert worden, im Reich Gottes eine willige Mitarbeiterin zu sein, und Paul und sie waren stets bemüht gewesen, diesem Auftrag nachzukommen. Und immer wieder hatten sie dabei den Segen des Herrn erlebt.40
Durch den Patriarchen hatte der Herr Connie auch verheißen, dass ihr Vater George Taylor ebenfalls an der Freude im Evangelium teilhaben werde. Viele Jahre lang hatte Connie keinerlei Grund zur Annahme gehabt, dass sich ihr Vater jemals der Kirche anschließen werde. Nach dem Krieg erkrankte er allerdings an Krebs. In der Folge ging er zusammen mit Connies Mutter Adeline zur Kirche und besuchte bis zu seinem Tod im Jahre 1947 mit den Heiligen gemeinsam den Gottesdienst.
Nach seinem Tod erschien George Adeline in einem Traum. Er sah kränklich und niedergeschlagen aus und hinkte – wie schon seit Jahren – noch immer. Der Traum verwirrte Adeline, und sie erkundigte sich bei einem Führer der Kirche, was er wohl zu bedeuten habe. Der sagte ihr, dass George wolle, dass für ihn die Tempelarbeit vollzogen werde.
Also reiste Adeline nach Utah, um für sich selbst die Tempelsegnungen zu empfangen und auch dafür zu sorgen, dass George seine empfing. Am 28. September 1949 wurde sie im Salt-Lake-Tempel durch einen Stellvertreter an ihn gesiegelt. Bald danach erschien ihr George erneut im Traum. Diesmal war er glücklich und gesund und frei von all den Krankheiten, die ihn auf Erden bedrängt hatten.
Er legte den Arm um sie und sie tanzten.41