„Eine Menge Gutes“, Kapitel 4 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 4: Eine Menge Gutes
Kapitel 4
Eine Menge Gutes
Am 31. Mai 1896 sprach Susa Gates in Salt Lake City auf der ersten gemeinsamen Konferenz der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen der Jungen Damen und der Jungen Männer. Jahrelang hatten die beiden Organisationen jeweils separat ihre Jahres- und Vierteljahreskonferenzen abgehalten, doch in den letzten Jahren waren immer weniger Junge Männer regelmäßig zu den Treffen gekommen. Dieser Umstand veranlasste einige Führer der Jungen Männer zu dem Vorschlag, die beiden Organisationen doch zusammenzuschließen und dadurch attraktiver zu machen.1
Die Präsidentin der GFV Junger Damen, Elmina Taylor, sowie deren Ratgeberinnen lehnten die Idee allerdings ab. Zwar hatten sich einige Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigungen auf Gemeindeebene bereits zusammengeschlossen, doch auf oberster Ebene war die GFV Junger Damen relativ stark, und die Leiterinnen fragten sich, ob ein Zusammenschluss mit den Jungen Männern überhaupt im Interesse der Mädchen sei. Sie entschieden sich schließlich gegen einen Zusammenschluss, sahen aber doch Vorteile in mehr gemeinsamen Aktivitäten mit den Jungen Männern, wie bei dieser neuen gemeinsamen Jahreskonferenz.2
Für die erste Konferenz teilten die GFV-Leiter und -Leiterinnen das Programm zu gleichen Teilen auf Redner und Rednerinnen aus beiden Organisationen auf. Susa sprach als Vorletzte. Sie rief dazu auf, dass sich die jungen Leute einen guten Charakter zu eigen machen und ein rechtschaffenes Leben führen sollen. Eine Ansprache dieser Art war für Susa insofern ganz neu, als Frauen in der Kirche damals vor einem gemischten Publikum für gewöhnlich nur dann das Wort ergriffen, wenn sie Zeugnis geben wollten. Nun aber durften sie und weitere Führerinnen eine Ansprache vor Männern und Frauen halten.3
Nach der Konferenz unterhielt sich Susa mit einem ihrer Bekannten, einem früheren Klassenkameraden namens Joseph Tanner, der jetzt Rektor der Landwirtschaftshochschule in Logan war. Joseph erkundigte sich auch danach, ob denn Leah, die ja gerade eben ihr Studium an der Universität von Utah abgeschlossen hatte, und John Widtsoe immer noch ein Paar seien. John hatte nämlich unlängst sein Chemiestudium an der Harvard-Universität abgeschlossen und unterrichtete nun an der Hochschule, die Joseph leitete.
Susa war die Frage peinlich, denn seit seiner Rückkehr nach Utah war John ihrer Tochter geflissentlich aus dem Weg gegangen. Als Leah vor kurzem schriftlich seinen Rat einholen wollte, ob sie in den Osten zurückkehren und am Pratt-Institut, einem angesehenen College in der Stadt New York, Hauswirtschaftslehre studieren solle, hatte John knapp und gleichgültig geantwortet.4
„Tu, was auf lange Sicht zu deinem Besten ist“, hatte er ihr geschrieben. Außerdem hatte er sein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass sich die beiden so jung ineinander verliebt hatten. So sehr er sich auch wünschte, Leah zu heiraten, wollte er doch nicht, dass sie die Frau eines armen Schluckers werde. Vom Studium hatte er noch etwa zweitausend Dollar Schulden, und den größten Teil seines geringen Lehrergehalts benötigte er für den Unterhalt seiner Mutter und seines jüngeren Bruders.5
Leah hatte umgehend zurückgeschrieben. „Wir können nicht ohne Geld leben, das ist mir klar, aber lass doch um Himmels willen davon nicht deine Liebe bestimmen“, hatte sie geantwortet. „Wenn ich dich liebe, dann liebe ich dich, ob du nun Tausende besitzt oder jemandem Tausende schuldest.“6
John blieb jedoch bei seiner sturen Haltung, und Leah begab sich im September 1896 gemeinsam mit ihrer Freundin Donnette Smith zum Studium ans Pratt-Institut. Donnette machte dort eine Ausbildung zur Kindergartenpädagogin. Vor der Abreise der jungen Frauen erhielt Leah von Donnettes Vater, Präsident Joseph F. Smith, noch einen Segen: Er segnete sie, dass sie auch angesichts von Versuchungen an ihrem Glauben festhalten werde, und verhieß ihr, ihr Zeugnis werde stärker werden denn je zuvor.7
In New York erlebten Leah und Donnette so manches, was den Erfahrungshorizont der Generation ihrer Mütter bei weitem überstieg. Die Frauen der Heiligen der Letzten Tage aus der älteren Generation verfügten, wie viele amerikanische Frauen zu dieser Zeit auch, meist nur über eine Grundschulausbildung. Einige gingen wohl an die Ostküste und studierten dort Medizin oder Geburtshilfe, doch die meisten heirateten jung, bekamen Kinder und waren bestrebt, in ihrer Siedlung einen Hausstand zu gründen und mit ihrem Mann gemeinsam ein Gewerbe oder einen Laden zu betreiben. Viele waren überhaupt noch nie aus dem Territorium Utah herausgekommen.8
Leah und Donnette hingegen – zwei alleinstehende junge Frauen – wohnten nun in einer pulsierenden Großstadt mehr als dreitausend Kilometer von zuhause entfernt in einer großen Pension. Unter der Woche besuchten sie den Unterricht am Pratt-Institut und lernten dort Menschen unterschiedlicher Herkunft und diverser Glaubensrichtungen kennen. Sonntags besuchten sie mit etwa einem Dutzend anderer Heiliger den dortigen winzigen Zweig der Kirche.9
Leah und Donnette nahmen sich vor, ihre Religion treu zu leben. Sonntags beteten sie gemeinsam, und jeden Abend lasen sie vor dem Schlafengehen im Buch Mormon. „Mein Zeugnis von der Wahrheit unseres Evangeliums wird jeden Tag stärker“, schrieb Leah an ihre Mutter. „Die Kraft aus Bruder Smiths Segen ist nicht zu leugnen.“10
Anders als zuhause bot sich den jungen Frauen auch die Gelegenheit, mit Menschen, die wenig über die Heiligen der Letzten Tage wussten, über ihren Glauben zu sprechen. So freundeten sich die beiden etwa mit zwei Kunststudentinnen namens Cora Stebbins und Catherine Couch an, die ein gewisses Interesse an der Kirche zeigten. Eines Tages konnten Leah und Donnette mit ihnen sogar über den Tempel und das Buch Mormon sprechen. Leah erklärte, wie Joseph Smith die Goldplatten gefunden und übersetzt hatte. Sie erwähnte auch die Zeugen des Buches Mormon, fortdauernde Offenbarung und die Organisation der Kirche.
„So interessierte Mädchen hast du bestimmt noch nie im Leben gesehen“, schrieb Leah später an ihre Mutter. „Zwei volle Stunden sind sie geblieben, und wir merkten gar nicht, wie die Zeit verflog.“11
Am 13. Oktober 1896 begab sich Mere Whaanga, eine Maori, die sich der Kirche angeschlossen hatte, zum Salt-Lake-Tempel, um dort für zehn verstorbene Freunde aus ihrer Heimat Neuseeland die Taufe zu vollziehen. Sie und ihr Mann Hirini waren, seit sie einige Monate zuvor nach Salt Lake City gezogen waren, für ihren fleißigen Tempelbesuch bekannt. Wie viele Heilige von außerhalb der Vereinigten Staaten war auch Familie Whaanga nach Utah gezogen, um näher beim Tempel und somit auch den Tempelverordnungen zu sein. Und da sie die einzigen Maori waren, die bereits das Endowment erhalten hatten, dienten sie als eine Art Bindeglied zwischen ihrem Volk und dem Haus des Herrn.12
Es gab ja insgesamt nur vier Tempel auf der Welt, daher sandten die Heiligen von außerhalb der Vereinigten Staaten die Namen ihrer verstorbenen Angehörigen an Verwandte in Utah, die dann für sie die Tempelarbeit verrichteten. Als sich Mere und Hirini 1884 hatten taufen lassen, hatten sie allerdings keine Verwandten in Utah. Bald schon waren sie von dem tiefen, drängenden Verlangen beseelt, nach Zion zu kommen und den Tempel zu besuchen.13
Von Anfang an stellten sich ihre Kinder und Enkelkinder jedoch gegen diesen Plan. Utah war schließlich elftausend Kilometer von Nuhaka entfernt, ihrem Dorf an der Ostküste der Nordinsel Neuseelands. Hirini war dort als Zweigpräsident mit wichtigen Aufgaben betraut und war zudem einer der führenden Stammesältesten unter dem Maori-Stamm der Ngāti Kahungunu. Mere ihrerseits war die einzige lebende Tochter ihrer Eltern. Doch die Sehnsucht der Whaangas nach Zion wurde Tag für Tag stärker.14
In den Jahrzehnten davor waren die Heiligen aus dem Pazifik nicht unbedingt dazu aufgefordert worden, nach Zion auszuwandern. Und zu der Zeit, als Mere und Hirini den Umzug in Erwägung zogen, hatten die Führer der Kirche ohnehin bereits damit begonnen, allen Heiligen außerhalb der Vereinigten Staaten von der Sammlung in Utah abzuraten, da es dort kaum Arbeitsplätze gab und die Einwanderer sich in ihren Hoffnungen getäuscht sehen konnten. Doch einer kleinen Anzahl Maori erteilte die Erste Präsidentschaft die Erlaubnis zu kommen, nachdem sich der Missionspräsident in Neuseeland für ihren Fleiß und ihre Tüchtigkeit verbürgt hatte.15
Mere und Hirini waren also im Juli 1894 mit ein paar Verwandten nach Utah gekommen. Sie ließen sich zunächst in Kanab nieder, einer eher entlegenen Stadt im Süden Utahs, wohin Hirinis Neffe Pirika Whaanga ein paar Jahre nach der Taufe von Hirini und Mere gezogen war. Die Familie hatte erwartet, dass sie sich rasch an das warme Klima im Süden Utahs gewöhnen werde. Doch als Mere die trockene, karge Landschaft erblickte, brach sie in Tränen aus. Bald darauf erhielt sie die Nachricht, dass ihre Mutter in Neuseeland verstorben sei.16
Die Lebensumstände der Familie besserten sich auch im Laufe der Zeit nicht. Ein Missionar, den sie in Neuseeland kennengelernt hatten, hatte Hirini eine Geldanlage eingeredet, die sich ganz und gar als Fehlschlag entpuppte. Nachdem die Erste Präsidentschaft gerüchteweise von diesem Projekt gehört hatte, sandte sie William Paxman, der früher Missionspräsident in Neuseeland gewesen war, zu Mere und Hirini, damit er ihnen helfe, in eine Gegend umzuziehen, wo sie nicht von irgendwelchen Nachbarn ausgenutzt würden.17
Die Whaangas wurden in der Folge in einem Haus in Salt Lake City sesshaft. Sie besuchten die Treffen der Zion’s Māori Association, einer Vereinigung zurückgekehrter Missionare der Neuseeländischen Mission, und trafen sich jeden Freitagabend mit ein paar Mitgliedern dieser Gruppe. Zudem ermächtigte die Erste Präsidentschaft die beiden, für die verstorbenen Angehörigen sämtlicher Mitglieder aus Neuseeland, die Maori waren, im Tempel die heiligen Handlungen zu vollziehen.18
Mere war bei ihrer Ankunft in Utah Analphabetin gewesen, hatte sich jedoch selbst das Lesen und Schreiben beigebracht, damit sie sich mit den heiligen Schriften befassen und Briefe an ihre Angehörigen schreiben konnte. Auch Hirini machte seinen daheimgebliebenen Verwandten und Bekannten in Briefen Mut und tat, was in seiner Macht stand, um die Heiligen in der Heimat zu stärken. In Neuseeland wuchs die Kirche unter den europäischstämmigen Einwohnern ebenso wie unter den Maori. Im ganzen Land entstanden Dutzende Zweige mit Priestertumskollegien, der Frauenhilfsvereinigung, der Sonntagsschule und den Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen.19
Viele Neuseeländer waren im Glauben freilich noch nicht ganz gefestigt, und einige Missionare befürchteten, wenn man in Neuseeland davon höre, wie Familie Whaanga in Kanab übervorteilt worden war, könne dies den Glauben der Maori erschüttern. Schon bald gelangten nämlich aufgebauschte Berichte über diesen Vorfall nach Neuseeland, und derartige Gerüchte könnten, falls ihnen nicht rechtzeitig Einhalt geboten wurde, die gesamte Mission in eine Krise stürzen.20
Im Jahr darauf unternahm Elizabeth McCune, eine wohlhabende Heilige der Letzten Tage aus Salt Lake City, mit ihrer Familie eine Europareise. Während ihres Besuchs in England, wo ihr Sohn Raymond als Missionar tätig war, halfen sie und ihre Tochter Fay den Missionaren häufig bei der Verkündigung des Evangeliums.
Ende Juni 1897 ging Elizabeth einmal mit Fay in den Londoner Hyde Park, wo ein Missionarschor singen wollte. Damals wurde gerade das sechzigjährige Thronjubiläum Königin Victorias gefeiert, und Prediger aus ganz Großbritannien waren zum Hyde Park gekommen, um unter freiem Himmel Versammlungen abzuhalten und um die Seelen der Feiernden zu werben.
Elizabeth und Fay nahmen ihren Platz unter den Missionaren ein, und Elizabeth beglückwünschte sich und den Chor im Stillen, weil sich immer mehr Menschen um sie versammelten. Da näherte sich ihnen ein gut gekleideter Mann mit Augengläsern und nahm den Chor in Augenschein.
„Oh weh, oh weh!“, seufzte er vernehmlich. „Was für ein unerträglicher Lärm in unserem Park!“21
Seine Worte ließen Elizabeth hinterfragen, ob ihr Stolz auf die Leistungen des Chores wohl gerechtfertigt sei. Doch ihrem Wunsch, das Evangelium zu verkünden, tat es keinen Abbruch. Vor der Abreise aus Utah hatte Elizabeth einen Segen von Lorenzo Snow erhalten, in dem ihr verheißen worden war, sie werde unterwegs ein Werkzeug in der Hand des Herrn sein.
„Dein Verstand wird so klar sein wie der eines Engels, wenn du die Grundsätze des Evangeliums erläuterst“, hatte er ihr in dem Segen verheißen.22
Elizabeth wollte alles nur Menschenmögliche tun, um die Missionsarbeit zu unterstützen. Ihr Sohn hatte seit Anbeginn seiner Mission Versammlungen in Parks und auf den Straßen Mittelenglands abgehalten. William Jarman hatte zu diesem Zeitpunkt bereits wieder das Wort gegen die Heiligen ergriffen. Zwar erzählte er nicht mehr, sein Sohn Albert sei ermordet worden, doch er provozierte weiterhin gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Missionaren und zwang so manchen Missionar dazu, die Wachleute um Schutz zu ersuchen. Einige Missionare aus Raymonds Gebiet waren sogar angegriffen und verletzt worden.23
Elizabeth begleitete die Missionare in London gern und hielt während der Versammlung deren Hüte und Bücher. Elizabeth selbst verspürte ebenfalls das brennende Verlangen, zu predigen. Obwohl sie nicht im eigentlichen Sinne auf Mission berufen werden konnte, konnte sie sich doch vorstellen, sie sei von Gott beauftragt und solle Menschen besuchen und mit ihnen Gespräche über Religion führen. Sie ging davon aus, dass Missionarinnen sogar mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten als die jungen Missionare und die Arbeit dadurch beschleunigt würde.24
Ein paar Monate nach dem Liedvortrag im Hyde Park nahm Elizabeth in London an einer der halbjährlichen Konferenzen der Kirche teil. In der Versammlung am Vormittag beklagte Joseph McMurrin, Ratgeber in der Missionspräsidentschaft, William Jarmans Verächtlichmachung der Heiligen. Insbesondere prangerte er Williams Angewohnheit an, sich wenig schmeichelhaft über die Frauen der Heiligen der Letzten Tage zu äußern.
„Wir haben doch gerade eine Dame aus Utah bei uns“, merkte McMurrin an, „und so wollen wir doch Schwester McCune bitten, uns heute Abend von ihrem Alltag in Utah zu berichten.“ Dann legte er noch allen Konferenzteilnehmern ans Herz, Freunde und Bekannte mitzubringen, damit sie Schwester McCune sprechen hörten.25
Diese Ankündigung bestürzte Elizabeth. Zu gerne wollte sie ja predigen, doch ihr war bang zumute ob ihrer Unerfahrenheit. „Wenn wir jetzt doch eine unserer ausgezeichneten Rednerinnen aus Utah dabeihätten“, dachte sie bei sich, „was könnte die nicht alles erreichen!“ Die Missionare versprachen, für sie zu beten, und auch sie wollte den Vater im Himmel um seinen Segen bitten.26
Rasch machte die Ankündigung die Runde, dass Elizabeth am Abend sprechen werde. Da man viele Besucher erwartete, stellten die Missionare zusätzliche Stühle in der Halle auf und öffneten die Empore. Zu Versammlungsbeginn war der Raum zum Bersten voll.27
Elizabeth sprach ein stilles Gebet und trat dann ans Pult. Sie erzählte von ihrer Familie. Sie war 1852 in England geboren worden und nach Utah ausgewandert, nachdem sich ihre Eltern der Kirche angeschlossen hatten. Sie hatte ausgedehnte Reisen durch die Vereinigten Staaten und durch Europa unternommen. „Nirgendwo sonst“, so bezeugte sie, „werden die Frauen so sehr geschätzt wie unter den Mormonen in Utah.“
„Bei uns ist ein Mann stolz auf seine Frau und seine Töchter“, fuhr sie fort. „Den Frauen wird keine Gelegenheit verwehrt, Versammlungen und Vorträge zu besuchen und alles zu lernen, was ihrer Weiterbildung und ihrer Entwicklung dienlich ist. Unsere Religion lehrt uns, dass Mann und Frau Seite an Seite stehen.“28
Am Ende der Versammlung gaben ihr gänzlich Unbekannte die Hand. Einer sagte: „Wenn noch mehr von Ihren Frauen hierherkämen, würde eine Menge Gutes zuwege gebracht.“
„Madam“, sagte ein anderer, „aus Ihrer Stimme und Ihren Worten erklingt Wahrheit.“29
Am 7. September 1897 wartete John Widtsoe an der Brigham-Young-Akademie in Provo vor einer Tür, hinter der eine Sitzung der Lehrkräfte abgehalten wurde. Am Morgen hatte Leah Dunford zögernd zugestimmt, nach dieser Sitzung mit ihm zu reden. Sie war jetzt Hauswirtschaftslehrerin an der Akademie und gab das weiter, was sie in ihrem Jahr am Pratt-Institut gelernt hatte. John war nach einer Studienreise durch die Wüsten im Süden Utahs auf dem Heimweg und hatte in Provo Halt gemacht, um seine Beziehung zu Leah in Ordnung zu bringen.30
Noch immer machte er sich Sorgen wegen seiner Schulden, aber er liebte Leah und wollte sie heiraten. Die beiden hatten allerdings fast ganz aufgehört, einander zu schreiben. Eigentlich hatte sogar ein junger, unverheirateter Missionspräsident, den Leah in New York kennengelernt hatte, vor, ihr einen Heiratsantrag zu machen.31
Die Sitzung der Lehrkräfte sollte an diesem Abend zwar um halb neun enden, doch sie dauerte noch eine Stunde länger. Leah ließ John anschließend noch eine weitere Stunde warten, weil sie an einer Komiteesitzung teilnahm, wo eine Veranstaltung für Schüler geplant wurde. Als die Sitzungen endlich zu Ende waren, begleitete John Leah nach Hause.
Unterwegs fragte er, ob er sie am nächsten Tag treffen könne. „Das geht überhaupt nicht“, entgegnete Leah. „Ich hab bis siebzehn Uhr zu tun.“
„Wenn das so ist“, sagte John, „kann ich ja auch gleich morgen früh nach Hause weiterfahren.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Leah.
„Ich würde aber gern bleiben“, wandte John ein, „wenn ich dich morgen Abend sehen kann.“32
Am nächsten Abend holte John also Leah mit einem Einspänner von der Akademie ab, und sie fuhren nördlich zur Stadt hinaus. Er meinte, er sei nun bereit für eine ernsthafte Beziehung, doch sie ließ sich nicht gleich darauf ein. Sie sagte ihm, er hätte ein Jahr Zeit, ihr seine Liebe zu beweisen. Wie er das anstelle, sei ihr egal. Vorher werde sie sich jedenfalls nicht mit ihm aussöhnen.
Die Nacht war sternenklar, und John stellte Pferd und Wagen so hin, dass man das Tal überblicken konnte. Während sie den hellen Mond betrachteten, sprachen sie offen darüber, wie sehr sie einander in den letzten vier Jahren doch gekränkt hatten. Sie versuchten zu verstehen, wieso sich ihre Beziehung derart verschlechtert hatte. Ehe sie sich versahen, blickten sie nicht mehr den Mond an, sondern einander.
Schließlich legte John den Arm um Leah und machte ihr einen Heiratsantrag. Da schmolz ihre Entschlossenheit, er solle sich zunächst beweisen, dahin, und sie versprach, ihn zu Beginn der Schulferien zu heiraten, vorausgesetzt, dass ihre Eltern mit der Verbindung einverstanden seien.33
Leahs Mutter war gerade im Auftrag der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung unterwegs, also sprach John zuerst mit Leahs Vater. Alma Dunford war Zahnarzt in Salt Lake City und dachte zunächst, John sei wegen seiner Zähne gekommen. Als John ihm jedoch sein Anliegen erklärt hatte, traten Alma Tränen in die Augen und er verlieh seiner Liebe und Bewunderung für Leah Ausdruck. Er stimmte der geplanten Eheschließung zu, da er Vertrauen in die Entscheidung seiner Tochter hatte.34
Leah benachrichtigte unterdessen ihre Mutter von der Verlobung, erhielt aber eine ablehnende Antwort. „Der Mann, an den du dich binden möchtest, ist von Ehrgeiz getrieben“, schrieb Susa an Leah. „Nicht, um Gutes zu tun und Zion aufzubauen, geht er die Dinge an, sondern um Ruhm zu erwerben, seine Stirn mit immer neuen Lorbeeren zu kränzen und dich dazu zu bringen, ihm zu folgen, wobei deine künftige Nützlichkeit sich auf ihn und seine selbstsüchtigen Wünsche beschränken wird.“35
John war deswegen beunruhigt und schrieb nun seinerseits an Susa. Sie antwortete einen Monat später und gab ihr Einverständnis zur Heirat, wiederholte aber auch ihre Kritik an seinem anscheinend mangelnden Engagement für die Kirche.36
Der Brief versetzte John einen Stich. Natürlich lag ihm als Wissenschaftler viel daran, auf seinem Wissensgebiet Ehre und Anerkennung zu erlangen. Außerdem hatte er viel Zeit und all seine Talente dafür eingesetzt, Karriere zu machen. Doch selbst als er in Harvard mit seinem Glauben rang, hatte er sich nie vor kirchlichen Aufgaben gedrückt. Ihm war bewusst, dass es seine Pflicht war, sein Wissen und seine Ausbildung zum Wohle Zions einzusetzen.37
Susa schien jedoch mehr von ihm zu erwarten. Ihre Generation und auch die Generation ihrer Eltern war der Ansicht, persönlicher Ehrgeiz sei mit dem Aufbau des Gottesreiches unvereinbar. John hatte es bislang stets geschafft, seine wissenschaftliche Karriere mit seiner Berufung als Ratgeber und Lehrer im Ältestenkollegium in Einklang zu bringen. Sein engagierter Dienst in der Kirche war jedoch außerhalb seiner eigenen Gemeinde in Logan nicht allgemein bekannt.38
„Ich bin nicht als Bischof berufen worden“, räumte er Leah gegenüber ein, „oder als Pfahlpräsident oder sonstiger Pfahlbeamter. Auch nicht als Präsident der Siebziger oder als Apostel oder zu sonst einem hohen Amt, das die ganze Zeit eines Mannes in Anspruch nimmt.
Aber das kann ich ehrlich sagen“, versicherte er, „dass ich heute bereit bin, alles zu tun, was die Kirche von mir verlangt. Selbst wenn die mir zugewiesene Aufgabe noch so bescheiden ist, will ich sie doch freudig erfüllen.“39
Leah brauchte diese Zusicherung gar nicht. Es war ja Johns schlichtes Gebet gewesen, das ihr an jenem ersten Tag in Harvard ins Herz gedrungen war. Susa allerdings brauchte noch Zeit, um Johns Herz und seinen Glauben besser kennenzulernen.40
Im Dezember lud Familie Gates John ein, die Weihnachtsfeiertage bei ihnen zu verbringen. Dieses Zusammensein führte dazu, dass Susa einen guten Eindruck von dem erlangte, was John im Alltag sagte und tat, und sich auch daran erinnerte, weshalb sie ihn und Leah überhaupt erst zusammengebracht hatte. „Ich hatte erst den Eindruck, du seiest engstirnig und selbstsüchtig“, sagte sie am Ende seines Besuchs zu John, „doch deine Äußerungen haben meine Bedenken zerstreut.“
Sie hegte nun keinerlei Befürchtungen mehr wegen der Hochzeit. „Ich habe das Gefühl, alles ist gut so, wie es ist“, schrieb sie.41