„Der Fels der Offenbarung“, Kapitel 8 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 8: Der Fels der Offenbarung
Kapitel 8
Der Fels der Offenbarung
Im Frühjahr 1904 verfolgte John Widtsoe die Anhörungen von Reed Smoot aus der Ferne. Sein Freund und Mentor Joseph Tanner, der inzwischen die Aufsicht über die Schulen der Kirche führte und Ratgeber in der Sonntagsschulpräsidentschaft der Kirche war, war einer von mehreren Heiligen, die vor den Senatsausschuss geladen wurden, um auszusagen. Da Joseph nach dem Manifest weitere Frauen geheiratet hatte, verweigerte er die Teilnahme am Untersuchungsausschuss und floh nach Kanada.
„Ich bin überhaupt nicht beunruhigt“, schrieb er Ende April an John und unterzeichnete den Brief mit einem Pseudonym. „Wenn der Fall Smoot entschieden ist, haben wir vielleicht für eine Weile Ruhe.“1
Wie andere Heilige war auch John der Ansicht, die Untersuchungen zum Fall Reed Smoot seien einfach eine weitere Glaubensprüfung für die Kirche.2 John und Leah Widtsoe befanden sich wieder in Logan in Utah. Neben ihrer Tochter Anna hatten sie nun auch einen Sohn, Marsel, und ein weiteres Baby sollte demnächst zur Welt kommen. Ein anderer Sohn namens John Jr. war im Februar 1902 wenige Monate vor seinem ersten Geburtstag gestorben.
Der Rest der Familie Widtsoe war in alle Welt zerstreut. Johns Mutter Anna und ihre Schwester Petroline Gaarden hatten Utah 1903 verlassen, um in ihrer Heimat Norwegen eine Mission zu erfüllen. In einem Brief an Leah beschrieb Johns Mutter ihre Arbeit. „Wir haben viele alte Freunde getroffen und mit ihnen über das Evangelium gesprochen – viele von ihnen haben sich davor noch nie mit einem Heiligen der Letzten Tage unterhalten“, schrieb sie. „Wir versuchen zwar, an traditionellen Glaubensansichten zu rütteln, doch der Erfolg lässt auf sich warten.“3
Johns jüngerer Bruder Osborne hatte unterdessen seine Mission in Tahiti beendet und studierte nun in Harvard englische Literatur.4
Leah war zuhause bei den Kindern und war im Pfahlausschuss der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen tätig. In der Zeitschrift Young Woman’s Journal verfasste sie einen monatlichen Beitrag zum Thema Hauswirtschaft. Diese Lektionen gehörten zu einem einjährigen Kurs, der bei den Treffen der GFV Junger Damen durchgenommen wurde. Leah ging an jede Lektion wissenschaftlich heran und griff auf ihre Universitätsausbildung zurück, um ihren Leserinnen etwas über Kochen, Wohnungseinrichtung, Erste Hilfe und medizinische Grundversorgung beizubringen.5
John unterrichtete inzwischen Chemie an der Landwirtschaftshochschule, leitete das dortige Forschungslabor und befasste sich mit verbesserten Anbaumethoden im trockenen Klima Utahs. Seine Arbeit führte ihn in ländliche Gegenden des gesamten Bundesstaates, wo er den Landwirten beibrachte, wie sie mithilfe der Wissenschaft bessere Ernten erzielen könnten. Er war auch Präsident der GFV Junger Männer seiner Gemeinde und Mitglied des Pfahl-Sonntagsschulausschusses. Wie Leah schrieb er regelmäßig für die Zeitschriften der Kirche.
John fühlte mit den jungen Heiligen mit, denen es schwerfiel, ihr weltliches Wissen mit dem Evangelium zu vereinbaren, da es ihm ja auch so ergangen war. Immer mehr Menschen waren der Ansicht, dass Wissenschaft und Religion im Widerspruch zueinander stünden. Aber John glaubte, dass sowohl Wissenschaft als auch Religion Quellen ewiger, göttlicher Grundsätze seien und daher miteinander vereinbar seien.6
Erst unlängst hatte er damit begonnen, in der Zeitschrift Improvement Era für die GFV Junger Männer eine Artikelreihe mit dem Titel „Joseph Smith als Wissenschaftler“ zu veröffentlichen. In jedem Artikel erklärte er, wie das wiederhergestellte Evangelium eine wichtige Entdeckung der modernen Wissenschaft vorwegnahm. In seinem Artikel „Geologische Zeit“ erklärte John zum Beispiel, wie Abschnitte aus dem Buch Abraham den wissenschaftlichen Ansichten entgegenkamen, dass die Erde viel älter sei als die sechstausend Jahre, auf die sie so mancher Bibelwissenschaftler schätzte. In einem anderen Artikel stellte er Parallelen zwischen Aspekten der umstrittenen Evolutionstheorie und der Lehre vom ewigen Fortschritt vor.7
Diese Reihe war ein Erfolg. Präsident Joseph F. Smith, der als Herausgeber der Improvement Era fungierte, hieß die Reihe in einem persönlichen Schreiben gut. Er bedauerte nur, dass er John für die Arbeit nicht bezahlen konnte. „Wie einige von uns“, schrieb er, „wirst auch du zumindest für den Augenblick akzeptieren müssen, dass dein Lohn darin besteht, zu wissen, dass du zum Wohle der Jungen und Mädchen in Zion gute Arbeit leistest.“8
„Wir scheinen jetzt in einer sehr ernsten Lage zu sein“, schrieb Apostel Francis Lyman in sein Tagebuch. Joseph F. Smiths Aussage bei der Anhörung im Fall Reed Smoot hatte wenig dazu beigetragen, die Bedenken des Senatsausschusses hinsichtlich der Mehrehe in der Kirche nach dem Manifest auszuräumen. Es half den Heiligen auch nicht, dass die Apostel John W. Taylor und Matthias Cowley sich bald nach der Vorladung durch den Senatsausschuss, bei den Anhörungen auszusagen, auf Anraten von Führern der Kirche rarmachten. Wie Joseph Tanner und andere hatten auch diese beiden Männer nach dem Manifest noch weitere Frauen geheiratet. Die beiden Apostel hatten zudem auch viele neue Mehrehen geschlossen und ermunterten die Heiligen, diese Lebensform beizubehalten.9
Als Präsident der Zwölf Apostel hatte Francis festgelegt, dass sich jeder Mann im Kollegium an das neu herausgegebene zweite Manifest halten solle. Er hatte Briefe an mehrere Apostel geschickt, in denen er sie darüber informierte, dass die Erste Präsidentschaft entschlossen sei, die Proklamation umzusetzen. „Wir müssen diese wichtige Angelegenheit allesamt auf die gleiche Weise verstehen und uns dementsprechend verhalten“, schrieb er, „damit es unter uns keine Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten gibt.“10
Später beauftragte Präsident Smith Francis, dafür zu sorgen, dass in der Kirche keine weiteren Mehrehen geschlossen werden. Seit Ende der 1880er Jahre waren einige Apostel ermächtigt gewesen, in entlegenen Gebieten auch außerhalb des Tempels Siegelungen durchzuführen. Im September 1904 erklärte Präsident Smith nun, dass alle Siegelungen in einem Tempel stattzufinden hätten, was es den Heiligen demnach nicht mehr erlaubte, in Mexiko, Kanada oder anderswo eine rechtmäßige Mehrehe einzugehen. Francis setzte die Apostel umgehend von dieser Entscheidung in Kenntnis.11
Im Dezember schickte Präsident Smith Francis zu John W. Taylor, um ihn dazu zu überreden, bei den Anhörungen von Reed Smoot auszusagen. Francis traf John W. in Kanada an und bat ihn, dem Rat des Propheten Folge zu leisten. Schließlich willigte John W. ein, auszusagen, und traf Vorbereitungen für die Reise nach Washington.
Als Francis am Abend zu Bett ging, hatte er sein Ziel erreicht. Doch um drei Uhr morgens wachte er schweißgebadet auf. Der Gedanke, dass John W. vor dem Ausschuss aussagen werde, beunruhigte ihn, denn John W. war zutiefst von der Mehrehe überzeugt. Wenn er zugab, dass er auch nach dem Manifest Mehrehen geschlossen hatte, würde das die Kirche in Verruf bringen und Reed Smoot die Chance auf sein Amt im Senat nehmen.
Francis überkam erst ein ruhiges, friedliches Gefühl, als er in Erwägung zog, John W. von der Reise nach Washington abzuraten. Er bat den Herrn, ihm zu bestätigen, dass dies der richtige Weg sei. Er verfiel in sanften Schlummer und träumte, dass er Präsident Wilford Woodruff sehe. Überrascht und gerührt rief er dessen Namen aus und umarmte ihn. Beim Erwachen war er überzeugt, dass sein Sinneswandel richtig sei. Er suchte sofort John W. auf und erzählte ihm von dem Traum. John W. war bereit, nach Washington zu gehen, aber er war erleichtert, als Francis ihm davon abriet.12
Bald darauf befand sich Francis wieder in Salt Lake City. Joseph F. Smith billigte sein Vorgehen in Kanada, doch es blieb die Frage, was mit den beiden Aposteln geschehen solle. Präsident Smith wusste, dass er beweisen musste, dass die Kirche fest dazu stand, der Mehrehe ein Ende zu setzen. Um den Senatsausschuss zufriedenzustellen, müsste er John W. und Matthias offiziell aus ihrem Führungsamt entfernen – entweder durch ein Disziplinarverfahren oder indem er sie zum Rücktritt aufforderte. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihm.13
Die Führer der Kirche waren geteilter Meinung, wie sie in dieser Krise vorgehen sollten. Im Oktober 1905 wiesen die Berater von Reed Smoot jedoch warnend darauf hin, dass der Kirche nur noch wenig Zeit zum Handeln bleibe. Bei seiner Aussage vor dem Senatsausschuss hatte Reed ja versprochen, dass die Leitung der Kirche die gegen John W. und Matthias erhobenen Vorwürfe untersuchen werde. Sechs Monate später hatte noch immer keine Untersuchung stattgefunden, und einige Senatoren stellten nun Reeds Glaubwürdigkeit in Frage. Die Untersuchung noch länger hinauszuzögern, würde der Welt signalisieren, dass die Führer der Kirche es gar nicht so meinten, wenn sie vorgaben, aktiv gegen die Polygamie vorzugehen.14
Die beiden Apostel wurden also an den Hauptsitz der Kirche gerufen, und in der nächsten Woche trafen sich die Zwölf Apostel jeden Tag, um zu besprechen, wie sie vorgehen wollten. Zunächst verteidigten John W. und Matthias ihr Vorgehen und machten einen Unterschied zwischen der formellen Distanzierung der Kirche von der Mehrehe und den Entscheidungen eines Einzelnen, weitere Frauen zu heiraten. Keiner der beiden Männer unterstützte folglich das zweite Manifest in vollem Umfang, was inzwischen jedoch mit einem guten Stand in der Kirche unvereinbar war.
Schließlich bat das Kollegium die beiden Apostel, ein Schreiben zu unterzeichnen, in dem sie ihren Rücktritt ankündigten. Zunächst weigerte sich John W., zurückzutreten. Er beschuldigte sein Kollegium, sich dem politischen Druck zu beugen. Matthias reagierte weniger vehement, doch auch er wollte sich nicht fügen. Letztendlich wollten aber beide das Beste für die Kirche. Sie unterzeichneten also das Schreiben und waren bereit, für das Wohl der Kirche ihren Platz unter den Zwölf Aposteln aufzugeben.15
„Es war eine sehr schmerzhafte und ernste Angelegenheit“, schrieb Francis an diesem Tag in sein Tagebuch. „Wir alle waren zutiefst bekümmert.“ John W. und Matthias gingen mit dem wohlwollenden Segen der Brüder aus dieser Versammlung weg. Zwar gestatteten die Zwölf Apostel ihnen, ihre Mitgliedschaft in der Kirche und ihr Apostelamt zu behalten, doch sie gehörten nicht länger dem Kollegium an.16
Zwei Monate später, am Morgen des 23. Dezember 1905, stieg Susa Gates in Vermont im Nordosten der Vereinigten Staaten in eine Kutsche. Der Prophet Joseph Smith war genau einhundert Jahre zuvor auf einer Farm etwa fünf Kilometer weiter östlich in dem kleinen Dorf Sharon zur Welt gekommen. Nun machten sich Susa und etwa fünfzig weitere Heilige auf zu der Farm, um ihm zu Ehren dort ein Denkmal einzuweihen.17
Präsident Joseph F. Smith führte die Gruppe an. Da die Anhörungen im Fall Smoot noch im Gange waren, stand er unter ständiger Beobachtung von Regierungsbeamten und Zeitungsreportern. Im gleichen Jahr hatte die Salt Lake Tribune bereits sein Zeugnis bei den Anhörungen im Fall Smoot zusammen mit Leitartikeln veröffentlicht, die Zweifel an seiner Berufung als Prophet und an seiner Glaubwürdigkeit schürten.
„Joseph F. Smith hat öffentlich geleugnet, dass er Offenbarungen von Gott erhält oder jemals erhalten hat, um die Mormonenkirche zu leiten“, hieß es in einem Leitartikel. „Wie weit sollen die Mormonen so einem Führer überhaupt folgen?“18 Diese Leitartikel sorgten bei einigen Heiligen für Verwirrung und warfen Fragen auf.
Als Neffe von Joseph Smith hatte Joseph F. Smith persönliche Gründe, nach Vermont zu kommen. Doch die Weihung würde ihm auch die Gelegenheit geben, abermals öffentlich über die Kirche zu sprechen und für das göttliche Werk der Wiederherstellung Zeugnis zu geben.19
Sobald Susa und ihre Begleiter in den Kutschen saßen, ging es los zur Weihungszeremonie. Die Farm lag auf einem nahegelegenen Hügel, und die Wege hinauf waren rutschig vom tauenden Schnee. Arbeiter vor Ort hatten das fast einhundert Tonnen schwere Denkmal in mehreren Teilen Stück für Stück diese Landstraßen emporgeschleppt. Zunächst war geplant gewesen, es mit einem Gespann an den Zielort zu bringen. Aber da selbst ein Gespann von zwanzig starken Pferden den Stein nicht zu bewegen vermochte, brauchten die Arbeiter fast zwei zermürbende Monate dafür, das Denkmal mit von Pferden gezogenen Seil- und Flaschenzügen den Hügel hinaufzutransportieren.20
Als sich die Pferdekutschen der Farm näherten, stockte der Gruppe nach der letzten Kurve der Atem. Vor ihnen stand ein polierter Granitobelisk, der mehr als achtunddreißig Fuß in den Himmel ragte – ein Fuß für jedes Lebensjahr von Joseph Smith. Unter dem Obelisken befand sich ein großer Sockel mit einer Inschrift, auf der die heilige Mission des Propheten bezeugt wurde. Die Worte aus Jakobus 1:5 – jener Schriftstelle, die ihn inspiriert hatte, nach Offenbarung von Gott zu streben – zierten den oberen Teil des Sockels.21
Junius Wells, der das Denkmal entworfen hatte, traf die Gruppe in einem Blockhaus, das an der Stelle stand, wo Joseph Smith geboren worden war. Beim Betreten des Hauses fiel Susa die flache, graue Kaminplatte auf, die Bauarbeiter aus dem ursprünglichen Haus gerettet hatten. Die meisten Heiligen, die den Propheten persönlich gekannt hatten, waren ja bereits verstorben. Doch diese Kaminplatte war ein bleibendes Zeugnis seines Lebens. Susa konnte sich vorstellen, wie er als Kleinkind daneben gespielt hatte.22
Die Versammlung begann um elf Uhr. Als Präsident Smith das Denkmal weihte, dankte er für die Wiederherstellung des Evangeliums und bat um einen Segen für die Einwohner von Vermont, die den Bau des Denkmals unterstützt hatten. Er weihte die Stätte als einen Ort, zu dem die Menschen kommen werden, um nachzusinnen, mehr über Joseph Smiths prophetische Mission zu erfahren und sich an der Wiederherstellung zu erfreuen. Er verglich das Fundament des Denkmals mit dem Fundament der Kirche, nämlich dem Fundament der Propheten und Apostel mit Jesus Christus als dem Eckstein. Er verglich die Grundlage auch mit dem Fels der Offenbarung, auf dem die Kirche ruht.23
In den folgenden Tagen unternahmen Susa, Joseph F. Smith und weitere Heilige eine kurze Tour zu den Stätten, die die Kirche im Osten der Vereinigten Staaten aufgekauft hatte. Auf Weisung von Präsident Smith hatte die Kirche damit begonnen, mehrere Grundstücke aufzukaufen, die wegen ihrer Bedeutung in der Geschichte der Kirche als heilig galten, unter anderem das Gefängnis zu Carthage, wo sein Vater und sein Onkel getötet worden waren. Andere historische Stätten in den östlichen Bundesstaaten befanden sich zwar nicht im Besitz der Kirche, doch die Eigentümer gaben den Heiligen im Allgemeinen die Erlaubnis, sie zu besichtigen.24
In Manchester im Bundesstaat New York ging die Gruppe ehrfürchtig durch den Wald, in dem Joseph Smith seine erste Vision von Gottvater und dem Sohn gehabt hatte. Zu Lebzeiten des Propheten hatten dieser und andere Heilige zwar gelegentlich öffentlich Zeugnis für seine Vision abgelegt, doch erst Jahrzehnte nach Josephs Tod hatten Orson Pratt sowie weitere Führer der Kirche deren zentrale Rolle bei der Wiederherstellung des Evangeliums betont. Ein Bericht darüber erschien nun als heilige Schrift in der Köstlichen Perle, und die Missionare bezogen sich in ihren Gesprächen mit Menschen außerhalb der Kirche häufig auf dieses Ereignis.25
Susa und ihre Begleiter überkam ein Gefühl ehrfürchtiger Scheu, als sie über dieses heilige Vorkommnis nachdachten. „Hier kniete der Junge also in unerschütterlichem Glauben“, dachte Susa. „Hier sprudelten nun endlich die Quellen der Erde, und Wahrheit – die Essenz des Daseins – strömte wie Strahlen direkter Offenbarung herab.“26
Auf dem Rückweg nach Utah leitete Präsident Smith im Zug eine kleine Zeugnisversammlung. „Nicht ich bin es, noch irgendein Mensch, nicht einmal der Prophet Joseph Smith, der an der Spitze dieses Werkes steht und es leitet und führt“, verkündete er. „Es ist Gott, der es durch seinen Sohn Jesus Christus leitet.“
Die Botschaft rührte Susa, und sie war ergriffen von der Liebe des Erretters zu Gottes Kindern. „Menschen sind Menschen und deshalb schwach!“, hielt sie fest. Jesus Christus aber ist Herr über die ganze Welt.27
Während die Heiligen die Weihung des Joseph-Smith-Denkmals feierten, befanden sich Anna Widtsoe und Petroline Gaarden noch immer in Norwegen und verkündeten dort das Evangelium. Vor mehr als zwei Jahren hatten die Schwestern Utah verlassen. Ihre Missionsberufung war unerwartet gekommen, aber keinesfalls unerwünscht. Sie wollten ja beide unbedingt in ihr Heimatland zurückkehren, um ihren Verwandten und Freunden von ihrem Glauben an das wiederhergestellte Evangelium zu erzählen.28
Anthon Skanchy, einer der Missionare, die Anna in den 1880er Jahren das Evangelium gelehrt hatten, war Präsident der Skandinavischen Mission, als die Schwestern im Juli 1903 dort ankamen. Er beauftragte sie, in der Gegend von Trondheim in Norwegen zu arbeiten, wo Anna gelebt hatte, als sie sich der Kirche angeschlossen hatte. Von dort aus fuhren die Schwestern mit einem Boot zu ihrem Heimatdorf Titran, das auf einer großen Insel vor der Westküste Norwegens lag. Bei ihrer Ankunft auf der Insel war Anna nervös. Zwanzig Jahre zuvor hatten sich die Menschen in Titran von ihr abgewandt, weil sie sich der Kirche angeschlossen hatte. Würden sie sie und ihre Religion jetzt annehmen?29
Es sprach sich schnell herum, dass die Schwestern als Missionarinnen der Heiligen der Letzten Tage zurückgekehrt waren. Zunächst wollte ihnen niemand eine Bleibe geben – weder Bekannte noch Verwandte. Doch Anna und Petroline blieben beharrlich, und schließlich öffneten ihnen einige Menschen die Tür.30
Eines Tages besuchten die Schwestern ihren Onkel Jonas Haavig und dessen Familie. Alle waren eher zurückhaltend, aber durchaus auch auf ein Streitgespräch mit den Schwestern aus. Anna und Petroline sprachen das Thema Religion jedoch nicht an, und der erste Abend ging konfliktfrei zu Ende. Aber am nächsten Morgen begann Cousine Marie, den Schwestern gleich nach dem Frühstück kontroverse Fragen zum Evangelium zu stellen, und wollte einen Streit provozieren.
„Marie“, sagte Anna, „ich wollte keinesfalls mit dir das Thema Religion anschneiden, aber jetzt wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe.“ Sie legte eindringlich Zeugnis ab, und Marie hörte schweigend zu. Doch Anna merkte, dass ihre Worte keinerlei Wirkung hatten. Als sie und Petroline später am Tag das Haus verließen, waren sie untröstlich über das, was vorgefallen war.31
Die Schwestern kehrten bald nach Trondheim zurück, waren aber in den nächsten zwei Jahren immer wieder mal in Titran. Mit der Zeit wurden die Einwohner freundlicher, und Anna und Petroline waren schließlich in jedem Haus gern gesehene Gäste. Ihr Dienst in anderen Teilen Norwegens war ebenfalls schwierig, aber die Schwestern waren froh, dass sie vor der Mission schon Erfahrungen im Dienst in der Kirche gesammelt hatten.
Sie waren auch dankbar, dass sie Norwegisch sprachen. „Wir übernehmen in jeder Hinsicht mehr das Reden als die jungen Missionare, die die Sprache nicht beherrschen – weder bei ihrer Ankunft noch bei ihrer Heimreise“, teilte Anna John in einem Brief mit.32
So glücklich die Missionsarbeit Anna auch machte, sie vermisste ihre Familie in Utah doch sehr. John, Osborne und Leah schrieben ihr regelmäßig. Im Sommer 1905 berichtete John, dass er seine Stelle an der Landwirtschaftshochschule verloren hatte. Die Schulverwaltung hatte ihn und zwei weitere treue Mitglieder der Kirche als Lehrkräfte entlassen. Die Brigham-Young-Universität, wie die neue Bezeichnung für die Brigham-Young-Akademie in Provo nun lautete, stellte ihn indes sofort als Leiter des Instituts für Chemie ein. Seit ihrer Gründung im Jahr 1875 hatte sich die Lehranstalt zur bedeutendsten Hochschuleinrichtung der Kirche entwickelt, und John nahm die Aufgabe dankbar an.
Osborne hatte unterdessen seinen Abschluss in Harvard gemacht und nahm an der Universität der Heiligen der Letzten Tage in Salt Lake City eine Stelle als Leiter der Abteilung Anglistik an.33
„Gott ist gut zu uns“, schrieb Anna ihrem Sohn John. „Ich glaube, dass wir mit der Hilfe des Herrn in der Lage waren, etwas Gutes zu bewirken. Wir haben hier viele Früchte unserer Arbeit gesehen, und ich hoffe und bete zu Gott, dass wir auch im neuen Jahr von ihm so getragen werden wie im vergangenen Jahr.“34
Im Januar 1906 beauftragte die Missionsleitung Anna und Petroline, in Trondheim zu bleiben, um ihre Mission unter den Verwandten zu Ende zu führen und Ahnenforschung zu betreiben. Ihre Angehörigen waren immer noch nicht am Evangelium interessiert, doch die Schwestern spürten von ihnen keinerlei Feindseligkeit und kein Misstrauen mehr. Dieser Wandel tröstete sie. Sie hatten ihren Teil getan, um dem Herrn in Norwegen zu dienen.35
In diesem Sommer erfuhren die Heiligen in Europa, dass Präsident Joseph F. Smith eine Rundreise durch ihren Kontinent machen werde. Die Nachricht begeisterte den elfjährigen Jan Roothoff – besonders als er hörte, dass der erste Auftritt des Propheten in den Niederlanden sein werde, wo Jan wohnte. Der Junge war so aufgeregt, dass er über nichts anderes sprach.
Einige Jahre zuvor hatte sich Jan eine Augenkrankheit zugezogen, wodurch seine Augen extrem lichtempfindlich geworden waren. Seine alleinerziehende Mutter Hendriksje schickte ihn nicht zur Schule und versuchte, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen, indem sie Vorhänge aufhängte, damit er im Dunkeln spielen konnte. Doch schließlich erblindete er, und die Ärzte sagten seiner Mutter, er werde nie wieder das Augenlicht erlangen.
Jan trug nun über den Augen eine Binde, die sie vor Licht schützte. Aber er wusste: Wenn jemand seine Augen heilen konnte, dann war es der Prophet Gottes. „Mama, er ist der mächtigste Missionar“, sagte er. „Er muss mir nur in die Augen schauen und ich werde gesund.“36
Jans Mutter glaubte daran, dass der Herr ihn heilen könne, aber sie mochte Jan nicht ermuntern, Präsident Smith um Hilfe zu bitten. „Der Präsident ist im Moment sehr beschäftigt“, entgegnete sie. „Es gibt hunderte von Menschen, die mit ihm sprechen wollen. Du bist nur ein Junge, mein Sohn, und wir dürfen ihn nicht behelligen.“37
Am 9. August 1906 besuchten Jan und seine Mutter eine Sonderversammlung in Rotterdam, wo Präsident Smith zu etwa vierhundert Heiligen sprach. Als Jan ihm zuhörte, versuchte er, sich den Propheten vorzustellen. Bevor Jan sein Augenlicht verlor, hatte er ein Foto von Präsident Smith gesehen, und er erinnerte sich an sein freundliches Gesicht. Jetzt konnte er auch die Freundlichkeit hören, die in der Stimme des Propheten mitschwang. Verstehen konnte er seine Worte jedoch erst, nachdem ein Missionar sie ins Niederländische übersetzt hatte.38
Präsident Smith sprach über die Macht der Missionare. „Es ist ihre Aufgabe, zu euch zu kommen und euch das größere Licht zu zeigen“, sagte er, „damit eure Augen geöffnet, eure Ohren aufgetan werden und euer Herz mit der Liebe zur Wahrheit berührt wird.“39
Jans Glaube war unerschütterlich. Nach der Versammlung führte ihn seine Mutter zu dem Ausgang, wo Präsident Smith und seine Frau Edna die Heiligen begrüßten. „Das ist der Präsident, kleiner Jan“, sagte Hendriksje. „Er möchte dir die Hand geben.“
Präsident Smith nahm Jan bei der Hand und entfernte die Augenbinde. Dann berührte er den Kopf des Jungen und schaute ihm in die entzündeten Augen. „Der Herr segne dich, mein Junge“, sagte er. „Er wird dir deine Herzenswünsche erfüllen.“
Jan verstand das Englisch von Präsident Smith nicht, aber seine Augen fühlten sich bereits besser an. Zuhause ließ er seiner Freude freien Lauf. Er riss sich die Binde ab und schaute ins Licht. „Schau mal, Mama“, sagte er. „Sie sind geheilt. Ich kann gut sehen!“
Seine Mutter eilte zu ihm und testete sein Sehvermögen auf jede erdenkliche Weise. Jan konnte tatsächlich genauso gut sehen wie vor seiner Erkrankung.
„Mama“, sagte Jan, „der Name des Präsidenten ist Joseph F. Smith, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte seine Mutter. „Er ist ein Neffe des Propheten Joseph Smith.“
„Ich werde immer für ihn beten“, sagte Jan. „Ich weiß, dass er ein wahrer Prophet ist.“40
Von Rotterdam aus reisten Joseph F. Smith und seine Begleiter ostwärts nach Deutschland, wo etwa dreitausend Heilige lebten. Die Schweizerisch-Deutsche Mission war die am schnellsten wachsende Mission der Kirche. Doch die deutschen Gesetze zur Religionsfreiheit erstreckten sich nicht auf die Kirche und schützten sie nicht vor Verfolgung, die nach den skandalösen Berichten im Zuge der Anhörung von Reed Smoot in Europa zunahm. Einige deutsche Geistliche, die durch den Mitgliederschwund aus ihren Gemeinden erbost waren, arbeiteten mit der Presse zusammen, um die öffentliche Meinung gegen die Heiligen aufzustacheln. Die Polizei vertrieb Missionare aus den Städten und hielt die Mitglieder davon ab, zusammenzukommen und vom Abendmahl zu nehmen oder das Buch Mormon und andere heilige Schriften der Kirche zu verwenden.41
Nach einem Zwischenstopp in Berlin, wo Präsident Smith und seine Begleiter mit Mitgliedern, Missionaren und einigen amerikanischen Heiligen der Letzten Tage, die dort Musik studierten, zusammengekommen waren, reiste die Gruppe weiter in die Schweiz. Bei einer Konferenz in Bern rief der Prophet die Heiligen auf, sich ihrer Regierung zu unterwerfen und die religiösen Überzeugungen anderer zu respektieren. „Wir wollen den Menschen nicht unsere Ideen aufzwingen, sondern die Wahrheit erklären, wie wir sie verstehen“, sagte er. „Wir überlassen es jedem Einzelnen, die Wahrheit anzunehmen oder nicht.“ Er erklärte, dass die Botschaft des wiederhergestellten Evangeliums Frieden und Freiheit sei.
„Eine der herrlichsten Auswirkungen“, sagte er, „besteht darin, dass das Evangelium die Menschen von den Banden ihrer Sünden frei macht, sie von Sünde rein macht und sie in Einklang mit dem Himmel bringt, sie zu Brüdern und Schwestern im Bund des Evangeliums macht und sie lehrt, ihre Mitmenschen zu lieben.“42
Präsident Smith schloss seine Predigt mit einer Prophezeiung über die Zukunft: „Die Zeit wird kommen – vielleicht nicht in meinen Tagen oder gar in der nächsten Generation –, da in verschiedenen Ländern der Erde Tempel Gottes errichtet werden, die geweiht sind für die heiligen Handlungen des Evangeliums.
Denn dieses Evangelium muss auf der ganzen Welt verbreitet werden“, erklärte er, „bis Gotteserkenntnis die Erde bedeckt wie das Wasser die große Tiefe.“43