Kapitel 21
Ein tieferes Verständnis
Im Frühjahr 1931 verließen John und Leah Widtsoe für ein paar Monate Europa. Sie wollten ihre Verwandten besuchen, sich mit Führern der Kirche treffen und an der Generalkonferenz teilnehmen. Am Bahnhof in Utah wartete schon ihre Tochter Ann auf sie. Sie hatte sich während der Abwesenheit ihrer Eltern vorerst wieder mit ihrem Mann versöhnt und erwartete nun ihr drittes Kind. Auch Leahs Mutter Susa Gates war zur Begrüßung dort, wie sie es drei Jahre zuvor bei der Abreise des Paares versprochen hatte. Ihr fünfundsiebzigster Geburtstag sollte in zwei Tagen gefeiert werden, und John und Leah hatten es mit ihrer Ankunft gerade noch rechtzeitig zur Feier im Haus von Leahs Schwester Emma Lucy und deren Mann Albert Bowen geschafft.1
Johns Tante Petroline war leider zwei Jahre zuvor nach langer Krankheit aus dem Leben geschieden. Ann und auch Rose, die Witwe von Johns Bruder Osborne, waren bei ihrem letzten Atemzug bei ihr gewesen.2
In Utah war Johns Terminkalender voll mit Treffen mit Führern der Kirche. Die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel befassten sich mit einer Meinungsverschiedenheit zwischen Apostel Joseph Fielding Smith und B. H. Roberts, dem damals dienstältesten Mitglied des Ersten Kollegiums der Siebziger. Elder Roberts hatte ein achthundert Seiten langes Manuskript mit dem Titel „Die Wahrheit, der Weg, das Leben“ verfasst, in dem er auf den Erlösungsplan in all seinen Facetten einging. Es war ihm ein Anliegen, dass die Kirche sein Manuskript als Unterrichtsmaterial für die Kollegien des Melchisedekischen Priestertums bereitstellte.3 Elder Smith seinerseits hatte jedoch ernste Bedenken gegen bestimmte Ansichten geäußert, die in dem Manuskript vertreten wurden.
Sein Unbehagen rührte daher, dass Elder Roberts den biblischen Schöpfungsbericht mit wissenschaftlichen Thesen über den Ursprung des Lebens verknüpfte.4 Elder Roberts stützte sich nämlich auf fossile Beweise und vertrat die Ansicht, schon bevor Gott Adam und Eva in den Garten von Eden setzte, hätten Millionen Jahre lang menschenähnliche Wesen auf der Erde gelebt und seien gestorben.5 Elder Smith zufolge waren solche Thesen mit den heiligen Schriften und der Lehre der Kirche unvereinbar. Er ging davon aus, dass es solche Wesen nicht gegeben haben könne, ehe nicht durch den Fall Adams der Tod in die Welt gekommen war.
In einer Rede vor der Genealogischen Gesellschaft von Utah hatte Elder Smith die von Elder Roberts vertretenen Ideen vehement angeprangert, selbst wenn er diesen nicht namentlich erwähnte. Elder Roberts wiederum hatte sich schriftlich an die Erste Präsidentschaft gewandt und wollte wissen, ob Elder Smiths Rede den offiziellen Standpunkt der Kirche zu diesem Thema darstelle oder ob es sich lediglich um die Meinung des Apostels handle.6
Die Zwölf Apostel luden beide ein, dem Rat ihre Ansichten darzulegen. In der Folge legten die Apostel der Ersten Präsidentschaft ihre Stellungnahme vor. Die Erste Präsidentschaft befasste sich sodann eingehend mit beiden Ansichten und betete darum, herauszufinden, wie sich die Meinungsverschiedenheit lösen ließe.7
Da John unlängst ein Buch über die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion geschrieben hatte, hatte er sich mit der Materie eingehend befasst. Er war der Meinung, die Führer der Kirche müssten den jungen Heiligen helfen, auch inmitten neuartiger und fortschrittlicher Ideen Glauben an Jesus Christus zu entwickeln. Viele Gläubige stünden der Wissenschaft nämlich skeptisch gegenüber, legte er dar, weil sie Fakten und Interpretationen miteinander verwechselten. Es widerstrebte ihm, sich bei Kontroversen allein auf die Wissenschaft zu stützen, da sich wissenschaftliche Erkenntnisse veränderten und religiöse Konzepte wie Gebet und Offenbarung oft außer Acht ließen. Aber er wollte sich auch auf keinerlei Auslegung der Schriften stützen, die nicht berücksichtigte, wie Offenbarungen und heilige Schriften überhaupt entstanden sind.
„Ich denke, am klügsten ist es, so vorzugehen wie all die Jahre schon“, sagte er zu Apostel Melvin J. Ballard unter vier Augen. „Wir akzeptieren alle gut belegten und bestätigten Fakten, stützen unseren Glauben jedoch nicht auf bloße Annahmen, seien diese nun wissenschaftlicher oder theologischer Natur.“8
Am 7. April, dem Tag nach der Generalkonferenz, rief die Erste Präsidentschaft die Zwölf und weitere Generalautoritäten zusammen, um die Meinungsverschiedenheit beizulegen. John hörte zu, als die Erste Präsidentschaft erläuterte, dass sowohl Elder Smith als auch Elder Roberts die Sache auf sich beruhen lassen sollten. „Beide Parteien berufen sich in ihren widersprüchlichen Ansichten auf die heiligen Schriften und die Aussagen von Männern, die sich in kirchlichen Belangen hervorgetan haben“, stellten sie fest. „Und doch hat letztendlich keiner der beiden einen unumstößlichen Beweis für seine Ansichten vorgelegt.“9
Die Erste Präsidentschaft rief den Kollegien die Lehre Joseph Smiths in Erinnerung: „Verkündet die ersten Grundsätze und lasst Geheimnisse auf sich beruhen, damit ihr nicht zu Fall gebracht werdet.“10 Sie warnten davor, dass es zu Missverständnissen, Verwirrung und Spaltung unter den Heiligen führen könnte, wenn persönliche Ansichten als Lehre der Kirche ausgegeben würden. „Wenn sich eine Generalautorität zu einer bestimmten Lehre unmissverständlich äußert“, stellten sie fest, „ob sie dies nun als persönliche Meinungsäußerung versteht oder nicht, so wird sie jedenfalls als Sprecher der Kirche wahrgenommen, und ihre Aussagen werden als anerkannte Lehre der Kirche betrachtet.“11
Sie forderten die Männer auf, die grundlegenden Lehren des wiederhergestellten Evangeliums zu predigen. „Wir machen unsere Berufung im Bereich der Kirche groß“, erläuterten sie, „und Geologie, Biologie, Archäologie und Anthropologie, die ja allesamt nichts mit der Errettung der Menschenseelen zu tun haben, überlassen wir der wissenschaftlichen Forschung.“ Was den Ursprung des Lebens betrifft, sei dazu nicht mehr zu sagen, als die Erste Präsidentschaft bereits 1909 in ihrer Erklärung zum Ursprung des Menschen gesagt habe.12
Für John war die Sache mit den Worten der Präsidentschaft erledigt. Er und die anderen anwesenden Amtsträger der Kirche, so auch Elder Roberts und Elder Smith, stimmten für diese Entscheidung und kamen überein, dass sie die Frage nach menschenähnlichen Lebensformen vor Adam nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutieren wollten.13 Dennoch konnte es Elder Roberts nicht ertragen, dieses Thema aus dem Manuskript „Die Wahrheit, der Weg, das Leben“ herauszunehmen. Schließlich legte er das Manuskript unveröffentlicht beiseite.14
Im gleichen Jahr sangen William und Clara Daniels mit einem Dutzend weiterer Heiliger der Letzten Tage in Kapstadt gemeinsam ein Kirchenlied, wie jeden Montag, wenn sie im Haus der Daniels zu ihren Gesprächen über das Evangelium zusammenkamen. Doch diesmal handelte es sich nicht um die übliche Hausversammlung, denn der Missionspräsident, Don Dalton, hatte sie zu einer Sonderkonferenz zusammengerufen.
Nachdem Clara das Anfangsgebet gesprochen hatte, erzählte William von seiner Bekehrung und den Anfängen dieser kleinen Treffen. „Zuerst haben wir uns mit dem Buch Book of Mormon Ready References befasst und nun lesen wir Jesus der Christus“, meinte er. „Ich habe viel daraus gelernt und kann den Leuten nun mehr über das Evangelium erzählen.“15
Auch Clara brachte in ihrem Zeugnis zum Ausdruck, wie dankbar sie für die Mitgliedschaft in der Kirche war. „Ich hoffe, der Herr steht uns bei, sodass wir immer standhaft bleiben können“, meinte sie.16
Nach weiteren Zeugnissen wandte sich Präsident Dalton an die Gruppe. „Ich weiß mit Bestimmtheit, dass der Herr an der Spitze dieses Werkes steht“, betonte er, „und wenn wir gemäß den Geboten leben, wird uns der Herr nichts vorenthalten.“ Er führte Jareds Bruder aus dem Buch Mormon als Beispiel an, denn dieser Mann war dem Herrn so nahe, dass ihm nichts vorenthalten wurde. „Auch bei uns wird es nicht anders sein“, bezeugte er. „Ich weiß: Wenn ich treu bin, werde ich Wundervolles erleben.“17
Präsident Dalton machte sich Sorgen wegen der Art und Weise, wie manche Mitglieder des Zweiges Mowbray „farbige“ Mitglieder wie die Daniels behandelten. Die Erste Präsidentschaft hatte ihm geraten, in solchen Fällen mit Fingerspitzengefühl vorzugehen und die Gefühle sämtlicher Mitglieder zu berücksichtigen. Ethnische Spannungen seien ein Problem, das mit besonderem Augenmaß angegangen werden müsse, damit weder schwarze noch weiße Mitglieder gekränkt würden, ließen sie ihn schriftlich wissen.18
Präsident Dalton, der Williams Glaubenstreue kannte und schätzte, wollte seinem Projekt der Hausversammlungen einen offiziellen Charakter verleihen. „Ich bin der Ansicht, dass hier ein Zweig gegründet werden soll“, verkündete er folglich. „Bruder Daniels wird hiermit das Recht eingeräumt, konkrete Aufgaben zu übernehmen. Durch seinen Eifer kann das Trennende überwunden werden, und er wird ein führender Bruder in Israel werden.“
William wurde also als Zweigpräsident berufen, Clara wurde FHV-Leiterin, ihre Tochter Alice wurde Sekretärin in der Frauenhilfsvereinigung und zugleich auch Zweigsekretärin, und Emma Beehre, eine Freundin, wurde Claras Ratgeberin. Anschließend legte Präsident Dalton William die Hände auf und setzte ihn in seine neue Berufung ein. Er ordinierte William nicht zum Priestertum – dieser konnte also weder das Abendmahl segnen noch ein Mitglied des Zweiges in eine Berufung einsetzen. Das neue Aufgabengebiet würde ihm jedoch mehr Möglichkeiten eröffnen, in der Kirche zu dienen und zu wachsen.
„Ich habe mir für diesen Zweig einen Namen einfallen lassen“, eröffnete Präsident Dalton nun. „Aus meiner Sicht sollte er ‚Love‘ – also ‚Zweig der Liebe‘ – heißen.“19
Bei der Zusammenkunft am folgenden Montag bat William Clara und die anderen mit Führungsaufgaben betrauten Mitglieder des Zweiges, sich zu ihren neuen Aufgabengebieten zu äußern. „Es fällt mir nicht so leicht“, gestand Clara, „aber ich weiß, dass der Herr mir helfen wird, wie er ja auch der ersten Schwester zur Seite stand, die mit der Frauenhilfsvereinigung begonnen hat.“20
Als Führungsverantwortliche im Zweig kümmerten sich William und Clara weiterhin um die Missionare, die zusammen mit den weißen Besuchern aus dem Zweig Mowbray an ihren Versammlungen teilnahmen. William legte auch Wert darauf, dass Alice genauestens Protokoll führte, damit eine Abschrift davon nach Salt Lake City weitergeleitet werden konnte. Er wollte jedenfalls nicht riskieren, dass der Zweig Love in Vergessenheit gerate.21
In den Vereinigten Staaten wurde indes der dreizehnjährige Paul Bang am 14. Februar 1932 der jüngste Diakon im Zweig Cincinnati. Jungen in seinem Alter empfingen erst seit kurz vor der Jahrhundertwende das Aaronische Priestertum – seit damals, als die Diakone für die Armen Holz hackten, im Gemeindehaus Feuer machten und auch sonstige Dienste in der Gemeinde oder im Zweig verrichteten. Erst als Präsident Joseph F. Smith zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Regelungen für das Aaronische Priestertum überarbeitete, etablierte sich die Ordinierung junger Männer zu einem Amt im Priestertum. Ab dann übernahmen die jungen Diakone im Zweig und bei den Versammlungen ein größeres Aufgabengebiet.22
Paul war also nicht mehr bloß für das Gemeindehaus und das Grundstück zuständig, sondern durfte auch das Abendmahl austeilen, das Fastopfer einsammeln, als Bote für den Zweigpräsidenten fungieren und die Witwen und andere bedürftige Mitglieder unterstützen.23 Wie von allen anderen Diakonen wurde von ihm erwartet, dass er die Glaubensartikel verstand und erklären konnte, das Wort der Weisheit befolgte, in den Versammlungen das Anfangs- oder Schlussgebet sprach, den Zehnten zahlte und mit der Geschichte der Wiederherstellung des Aaronischen Priestertums vertraut war.24
Doch Paul durfte einige dieser neuen Aufgaben nicht gleich nach seiner Ordinierung übernehmen, denn jahrzehntelang hatten erwachsene Männer das Abendmahl ausgeteilt, und für viele in der Kirche war es nach wie vor ungewohnt, diese Aufgabe den Jungen zu überlassen. In Cincinnati wurde das Abendmahl stets von zwei erwachsenen Männern gesegnet und ausgeteilt. Mitunter übernahmen daher Pauls ältere Brüder Chris und Henry diese Aufgabe.25
Doch falls sich Paul mit seinen neuen Priestertumspflichten unterfordert fühlte, machten das seine vielen Aufgaben im Lebensmittelladen seiner Eltern allemal wieder wett. An sich arbeitete er ja gerne dort. Der Laden war jeden Tag von 6 bis 23 Uhr geöffnet. Paul bediente an der Theke, befüllte die Regale und fegte und ölte den Holzboden. Wenn sein Bruder Chris dann etwa Fleisch schnitt, streute Paul Sägemehl auf den Boden, um das Blut zu beseitigen. Und wenn Chris fertig war, schrubbte Paul die Schneidblöcke mit einer Eisenbürste. Nach der Schule belud Paul Kisten und Körbe mit den eingegangenen Lebensmittelbestellungen und lieferte sie in der Nachbarschaft aus.26
Ganz am Anfang der Weltwirtschaftskrise wurde in Cincinnati gerade sehr viel gebaut. Die Arbeiten an einem fast einhundertachtzig Meter hohen Wolkenkratzer und am großen Bahnhof hatten gerade begonnen. Diese Projekte und die recht breit aufgestellte Industrie vor Ort trugen das Ihre dazu bei, dass die Stadt die Krise doch irgendwie überstehen konnte. Dennoch sanken die Löhne und die Arbeitslosigkeit war hoch.27
Die Bangs lebten in einem ärmeren Viertel, in dem weiße Einwanderer wie ihre Familie Seite an Seite mit Afroamerikanern, Juden und anderen ethnischen Gruppierungen lebten, arbeiteten, spielten und lernten. Als die Wirtschaftskrise die Stadt mit voller Wucht traf, konnten viele Kunden der Bangs die Lebensmittelrechnungen nicht mehr bezahlen. Anstatt die Kunden jedoch abzuweisen, verschenkte Pauls Vater dann häufig Lebensmittel oder ließ die Leute auf Kredit kaufen. Doch weder Freundlichkeit noch Großzügigkeit konnten das Familienunternehmen vor der Weltwirtschaftskrise bewahren, und im April 1932 musste er Konkurs anmelden. Doch selbst dann weigerte sich Pauls Vater, den Laden zu schließen oder den Nachbarn nicht weiter unter die Arme zu greifen.28
Die Heiligen in Cincinnati machten trotz der Wirtschaftskrise unverdrossen weiter. In der Hoffnung, die Träger des Aaronischen Priestertums zur Aktivität zu ermuntern, hatte die Präsidierende Bischofschaft kürzlich die Zweige und Gemeinden in der ganzen Kirche gebeten, jedes Jahr anlässlich der Wiederherstellung des Aaronischen Priestertums eine Gedenkfeier abzuhalten. Am 15. Mai 1932 sprachen vier erst vor kurzem ordinierte Priester des Zweiges Cincinnati, die alle neunzehn oder älter waren, in der Abendmahlsversammlung über die Geschichte und Ausweitung des Aaronischen Priestertums. Auch der Zweigpräsident Charles Anderson hielt eine Ansprache – wie er dies für gewöhnlich am Ende jeder Abendmahlsversammlung tat.29
Paul war keine Aufgabe zugewiesen worden, doch weitere Gelegenheiten zum Dienen sollten bald folgen. Im Zweig waren selten mehr als fünfzig Personen anwesend, sodass die Chancen gut standen, dass seine Eltern oder seine älteren Geschwister eine Ansprache hielten, im Chor sangen, ein Gebet sprachen oder sich anderweitig in die Versammlung einbrachten.30 Unlängst hatte sein Bruder Henry innerhalb von vier Wochen bei drei Abendmahlsversammlungen das Schlussgebet gesprochen – und an dem Tag, an dem er nicht gebetet hatte, hatte er eine Ansprache gehalten.31
Paul gehörte ja zur Familie Bang, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis ihm der Zweig ebenfalls Aufgaben übertragen würde.
In Utah machte sich indes Evelyn Hodges, Sozialarbeiterin der Frauenhilfsvereinigung, große Sorgen, da die Welt immer tiefer in die Wirtschaftskrise rutschte. Ihr Vater, der sie ja zuvor angefleht hatte, zuhause in Logan zu bleiben und nicht arbeiten zu gehen, steckte nun in einer schwierigen Lage. Seine landwirtschaftlichen Produkte ließen sich nicht mehr verkaufen. Evelyn hätte ihm leicht erklären können, wie er kirchliche oder staatliche Unterstützung beantragen könne, doch er hatte keinerlei Interesse daran.
„Ich suche mir einen Job“, hatte er zu Beginn der Weltwirtschaftskrise verlauten lassen. „Ich weiß, dass ich Arbeit finden kann.“
Evelyn hegte da so ihre Zweifel. Sie führte ja in Salt Lake City Tag für Tag Gespräche mit denen, die ebenfalls so dachten. „Wenn ich es nur nach Los Angeles schaffe“, hörte sie immerzu, „finde ich dort schon einen Job.“ In Utah war derweil jeder dritte Arbeitnehmer arbeitslos, und niemand stellte Arbeitskräfte ein. Evelyn wusste aber auch, dass die Lage weder in Kalifornien noch irgendwo sonst in den Vereinigten Staaten viel besser war. Sie versuchte zu erklären, dass Arbeitsplätze so gut wie überall Mangelware seien, doch einige der Familien, die sie unterstützte, glaubten ihr das nicht.32
Im Sommer 1932 hatte sie jedoch guten Grund zur Hoffnung, dass sich etwas ändern werde. Nachdem die US-Regierung ein Programm zur finanziellen Unterstützung der Bundesstaaten und Unternehmen ins Leben gerufen hatte, beauftragten Beamte in Utah den Sozialdienst der Frauenhilfsvereinigung sogleich damit, den Bundesstaat bei der Beantragung eines Bundesdarlehens zu unterstützen. Evelyn und Amy Brown Lyman verbrachten Stunden damit, Statistiken und Einzelfälle zusammenzutragen, die belegten, wie dramatisch die Lage im Bundesstaat war. Die Ergebnisse ihrer Recherche brachten Sie ins Kapitol des Bundesstaates, wo die Gesetzgeber die Zahlen für den Antrag auf Bundeshilfe für Utah verwendeten, die dann auch genehmigt wurde.33
Bei diesem mühseligen Zusammentragen von Daten lernte Evelyn viel von Amy. Amy war bei ihren Gesprächen mit den Sozialarbeiterinnen direkt und oftmals sogar schroff. Zwar mochte Evelyn auch Amys Offenheit, doch bisweilen ging ihr das alles auch gehörig unter die Haut, denn Amy kritisierte jeden Fehler unverzüglich. Evelyn war allerdings auch bewusst, dass Amy ihr nicht wehtun wollte. Amy hatte einfach das Gefühl, sie habe keine Zeit für höfliche Floskeln oder diplomatisches Verhalten. Sie erwartete von allen im Sozialdienst Tätigen – auch von sich selbst –, dass sie sich voll und ganz für die Arbeit einsetzten. Und dafür mochte und bewunderte Evelyn sie.34
Die Hilfsgelder des Bundes trafen im August 1932 in Utah ein und brachten vielen verzweifelten Heiligen zumindest einen Hoffnungsschimmer. Abermals wandte sich der Bundesstaat mit der Bitte um Hilfe an die Frauenhilfsvereinigung, und Amy und ihre Sozialarbeiterinnen spielten schon bald bei der Verteilung der Gelder eine wichtige Rolle.
Da die meisten Hilfsgelder der Kirche und der Regierung bereits ausgeschöpft waren, wollten viele Bischöfe, mit denen Evelyn zusammenarbeitete, dass ihre bedürftigen Gemeindemitglieder nun Unterstützung von der Bundesregierung erhielten. Doch es gab auch Mitglieder, die sich Sorgen machten, dass die Heiligen von der staatlichen Hilfe abhängig werden könnten. Einige weigerten sich auch, die Kirche um Hilfe zu bitten, weil sie nicht wollten, dass der Bischof, der oft ihr Nachbar und Freund war, von ihren Lebensumständen erfuhr. Andere wollten nicht als Fürsorgeempfänger gesehen werden, wenn sie in die Kirche gingen.
Doch immer mehr Menschen waren von finanziellen Zuwendungen abhängig. Die Regierenden in den Vereinigten Staaten hatten den wirtschaftlichen Zusammenbruch unterschätzt, und die von ihnen angebotenen Finanzmittel verschafften der amerikanischen Bevölkerung auf Dauer keine Linderung. Die Abwärtsspirale der Wirtschaft setzte sich nämlich fort und nahm den Bürgern jede Hoffnung. Tag für Tag verloren immer mehr Menschen erst den Arbeitsplatz und dann ihr Zuhause. Evelyn sah oft zwei oder drei Familien in einem kleinen Häuschen zusammenleben.
Und auch ihre eigene Familie hatte es nicht leicht. Als ihr Vater nicht mehr für den Unterhalt der Familie aufkommen konnte, versuchte er, einige Grundstücke zu verkaufen, doch unter den gegebenen Umständen wollte niemand kaufen. Schließlich erklärte er sich damit einverstanden, dass ihm Evelyn von ihrem Gehalt dreißig Dollar pro Monat zukommen ließ – und er war froh über diese Hilfe.35
In der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und der damit einhergehenden Not in Salt Lake City sah Evelyn jedoch auch eine Chance für mehr Mitgefühl und Wachstum im Gemeinwesen. „Wenn es uns gelingt, aus diesem Elend mit einem tieferen Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen hervorzugehen“, so meinte sie, „wird die Gesellschaft davon sogar profitieren.“36
Am anderen Ende der Stadt wusste Präsident Harold B. Lee vom Pfahl Pioneer in Salt Lake City, dass auch er etwas tun müsse, um der Bevölkerung zu helfen, die Wirtschaftskrise zu überstehen. Mit seinen dreiunddreißig Jahren war er einer der jüngsten Pfahlpräsidenten der Kirche und hatte daher nicht so viel Lebenserfahrung wie andere Männer in diesem Amt. Aber ihm war bekannt, dass etwa zwei Drittel der 7.300 Heiligen in seinem Pfahl entweder ganz oder teilweise auf finanzielle Unterstützung von außen angewiesen waren. Und wenn Menschen am Hungertuch nagten, gelang es kaum, sie geistig zu nähren.37
Harold rief seine Ratgeber zusammen und besprach mit ihnen, wie den Heiligen unter ihrer Obhut geholfen werden könne. Dem Buch Lehre und Bündnisse entnahmen sie, dass der Herr die Heiligen in den Anfangstagen der Kirche angewiesen hatte, ein Vorratshaus zu errichten, wodurch den Armen und den Bedürftigen Unterstützung zuteilwerden konnte.38 Jahrzehntelang hatten Gemeinden kleinere „Vorratshäuser des Bischofs“ betrieben, in denen Lebensmittelspenden und sonstige Gebrauchsgüter für die Armen zusammengetragen und dann weiterverteilt wurden. Die Kirche war zwar in den 1910er Jahren zur Bezahlung des Zehnten in Bargeld übergegangen, doch in einigen Gemeinden und Pfählen gab es immer noch solche Vorratshäuser.39 Auch die Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung hatte Läden und Vorratsspeicher unterhalten, um die Heiligen in Notzeiten unterstützen zu können. Sie besaß ebenfalls ein Vorratshaus, das die Armen mit Kleidung und anderen Haushaltsgegenständen versorgte.40 Könnte der Pfahl Pioneer nicht Ähnliches in Angriff nehmen?
Bald nahm ein Hilfsprogramm Gestalt an – eines, das die Heiligen zudem auch in die Lage versetzen sollte, eigenständiger zu werden. Mit der Hilfe der Bischöfe wollte Harolds Pfahl ein Vorratshaus einrichten, das durch den Zehnten und sonstige Spenden finanziert werden sollte. Das Programm sah vor, dass arbeitslose Mitglieder im Vorratshaus oder bei anderen Hilfsprojekten mitarbeiteten und im Gegenzug dafür Lebensmittel, Kleidung, Brennmaterial oder andere Güter des täglichen Bedarfs erhielten.41
Nachdem sich Harold mit seinen Ratgebern ausgetauscht hatte, legte er der Ersten Präsidentschaft seinen Plan vor und erhielt deren Zustimmung. Dann stellte er den Bischöfen seines Pfahles bei einer Sondersitzung diesen Plan als Gesprächsgrundlage vor. Einer der Bischöfe stellte sogleich jene Frage, die zweifellos vielen Mitgliedern auf der Seele lastete: Wenn doch der Herr verheißen hatte, für sein Volk zu sorgen, wieso waren denn nun so viele treue Heilige mittellos, obwohl sie ja den Zehnten gezahlt hatten?
Harold ging bestmöglich auf die Frage ein und erinnerte die Bischöfe daran, dass der Herr sie in seinem Werk brauche. „Die Verheißungen des Herrn gelten weiterhin, aber die Art und Weise und die Mittel, damit sie in Erfüllung gehen können, liegen in eurer Hand“, erklärte er. Anschließend drängte er die Bischöfe, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um das Vorratshaus zu einem Erfolg zu machen, und er bezeugte, dass die verheißenen Segnungen des Herrn dann auch in Erfüllung gehen würden.42
Um den Plan umsetzen zu können, stellten Harold und seine Ratgeber einen der Bischöfe, nämlich Jesse Drury, als Leiter des Vorratshauses ein. Viele Heilige aus Jesses Gemeinde waren von der Wirtschaftskrise besonders hart betroffen. Jesse selbst hatte seine Arbeit verloren, und er und seine Familie kamen trotz staatlicher Unterstützung kaum über die Runden.43
Zu Beginn des Jahres hatten Jesse und seine Ratgeber jedoch etwas unternommen, was den Mitgliedern ihrer Gemeinde zusätzlich Lebensmittel und Arbeit verschaffte. Gleich südlich der Gemeindegrenze lag nämlich ein Stück ungenutztes Ackerland. Die Bischofschaft trat daher an die Eigentümer heran, und diese erklärten sich bereit, der Gemeinde das Grundstück zur landwirtschaftlichen Nutzung zu überlassen, wenn diese im Gegenzug dafür die Steuern für das Grundstück bezahlte. Zwei benachbarte Gemeinden im Pfahl Pioneer schlossen sich dem Projekt an, und gemeinsam fanden sie sowohl Bauern als auch Vertreter der Behörde, die bereit waren, Saatgut zu spenden und für die Bewässerung zu sorgen. Sie kauften auch Gemüsepflanzen zu ermäßigten Preisen und erwarben einige landwirtschaftliche Geräte und Pferde von Leuten, die das Projekt unterstützen wollten.44
Auf Harolds Weisung hin stand Jesse nun einer Gruppe arbeitsloser Mitglieder vor, die ein altes Lagerhaus in ein Vorratshaus des Pfahles umfunktionierten. Sie richteten dort eine Konservenfabrik ein und eröffneten einen Gemischtwarenladen. Es gab auf verschiedenen Ebenen zudem auch Lagerräume und Platz zum Sortieren und Ausbessern gespendeter Kleidungsstücke.45
Im Sommer 1932 öffnete das Vorratshaus seine Pforten. Harold, Jesse und der Rest des Pfahles Pioneer hielten eigens zu diesem Anlass einen Fasttag ab und brachten ihr Fastopfer gleich zur Eröffnungsfeier des Gebäudes mit. Aus dem Pfahl wurden einige Frauen und Männer im Lagerhaus eingesetzt, andere wiederum zogen als Erntehelfer durchs Tal und arbeiteten auf Bauernhöfen und in Obstgärten.46
Bald schon konnte sich der Ernteertrag sehen lassen: hunderte Scheffel Pfirsiche, tausende Säcke Kartoffeln und Zwiebeln, Tonnen von Kirschen und vieles mehr. Als Gegenleistung für ihre Arbeit hatten die Mitglieder des Pfahles Anspruch auf einen Teil der Ernte. Und es blieb sogar so viel übrig, dass die Frauenhilfsvereinigung einen Teil für den kommenden Winter einmachte. Die Frauen tauschten ihre Arbeitskraft auch gegen unverderbliche Güter des täglichen Bedarfs ein, indem sie beispielsweise alte Kleider flickten und gebrauchte Schuhe sammelten.47
Am Ende des Jahres war für Harold klar ersichtlich, dass der Herr die Heiligen im Pfahl Pioneer gesegnet hatte. Selbst wenn viele von ihnen im vergangenen Jahr mit Widrigkeiten zu kämpfen gehabt hatten, hatten sie doch stets fest zu ihrer Überzeugung gestanden, dass Gott ihnen beistehen werde. Und sie waren nun bereit, sich trotz der verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise gemeinsam zum Nutzen der Bedürftigen einzubringen.48