Kapitel 26
Die Übel des Krieges
Am 24. August 1939, acht Tage vor dem Einmarsch in Polen, ordnete die Erste Präsidentschaft an, die dreihundertzwanzig nordamerikanischen Missionare, die in der Britischen, in der Französischen, in der Ost- und der Westdeutschen Mission sowie in der Tschechoslowakischen Mission dienten, sollten sich nach Dänemark, Schweden, Norwegen oder in die Niederlande – je nachdem, welches neutrale Land am nächsten war – in Sicherheit bringen.1 Apostel Joseph Fielding Smith, der im Sommer mit seiner Frau Jessie die Heiligen in Europa besucht hatte, blieb in Dänemark, um von Kopenhagen aus die Verlegung der Missionare voranzubringen.2
Nachdem Norman Seibold, ein dreiundzwanzigjähriger Missionar aus Idaho, der in der Westdeutschen Mission tätig war, die Anordnung vernommen hatte, kümmerte er sich umgehend darum, dass alle nordamerikanischen Missionare in seinem Distrikt sofort das Land verließen. Anschließend machte er sich, anstatt selbst ebenfalls direkt in die Niederlande zu reisen, auf den Weg nach Frankfurt ins Missionsheim.
Dort fand er seinen Missionspräsidenten Douglas Wood ganz krank vor Sorge vor. Präsident Wood hatte alle Missionare telegrafisch angewiesen, sich sofort außer Landes zu begeben, doch in ganz Deutschland war das Telegrafennetz völlig überlastet. Nur Norman und ein paar weitere hatten bestätigt, dass sie die Nachricht erhalten hatten. Noch dazu hatte die niederländische Regierung allen Nichtbürgern die Einreise verboten – ausgenommen davon waren nur Durchreisende. So saßen also wahrscheinlich Dutzende Missionare im Westen Deutschlands fest – mit einer unbrauchbaren Fahrkarte in die Niederlande und ohne Geld, um sich eine neue zu kaufen.3
Präsident Wood und seine Frau Evelyn machten sich gerade auf, die Evakuierung einer Gruppe von Missionaren zu beaufsichtigen, die bereits im Missionsheim angekommen waren. Sie brauchten jedoch jemanden, der in Deutschland blieb und die übrigen Missionare ausfindig machte.
„Es ist jetzt deine Aufgabe, sie zu finden und sicherzustellen, dass sie das Land verlassen“, sagte Präsident Wood zu Norman. „Verlass dich ganz auf die Eingebungen des Geistes. Wir haben nämlich nicht die geringste Ahnung, in welchen Städten sich diese einunddreißig Missionare derzeit befinden.“4
Am späten Abend verließ Norman in einem überfüllten Zug Frankfurt und fuhr entlang des Rheins nordwärts. Er hatte Fahrkarten nach Dänemark und Geld für alle Missionare, denen er begegnen würde – wenn er bloß wüsste, wo sie zu finden waren. Die Zeit lief ihm davon. Die deutsche Regierung hatte soeben bekanntgegeben, dass das Militär die Eisenbahnstrecken für den Truppentransport benötigte. Daher gäbe es für Zivilisten demnächst kaum mehr Sitzplätze.
In Köln hatte Norman das Gefühl, er solle aussteigen, und so drängte er sich aus dem Personenwagen. Auf dem Bahnhof herrschte großes Gedränge, daher kletterte er auf einen Gepäckwagen, um sich etwas Übersicht zu verschaffen. Doch Missionare konnte er in dem Gewühl keine ausmachen. Da erinnerte er sich an die Melodie „Tu, was ist recht!“ –, die jeder Missionar immer wieder pfiff und die jedem in der Mission bekannt war. Norman war beileibe kein Musiker, aber er spitzte die Lippen und pfiff die ersten paar Takte, so gut er es eben konnte.5
Das erregte sogleich Aufmerksamkeit, und bald sah Norman einen Missionar und ein deutsches Mitglied auf sich zukommen. Er pfiff weiter, und noch einige Missionare sowie ein älteres Missionarsehepaar fanden sich bei ihm ein. Sie alle schickte er auf den Weg in ein sicheres Zielland, sodann bestieg er einen Zug in eine andere Stadt.
Ein paar Stunden später fand Norman in Emmerich weitere Missionare. Als er ihnen das Geld vom Missionspräsidenten gab, zog er die Aufmerksamkeit eines Polizisten auf sich, der anscheinend dachte, die Missionare wollten Bargeld aus Deutschland hinausschmuggeln. Der Polizist verlangte, dass sie ihm das Geld aushändigten und ihn über ihr Vorgehen aufklärten. Als Norman sich weigerte, der Aufforderung nachzukommen, packte ihn der Polizist und drohte damit, ihn zur Stadtverwaltung mitzunehmen.
Für gewöhnlich war Norman ein gehorsamer Staatsbürger, unter diesen Umständen wollte er jedoch keineswegs mit dem Polizisten in die Stadt mitgehen. „Lassen Sie mich lieber los“, forderte er, „sonst werde ich handgreiflich.“
Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge um die beiden gebildet, und der Polizist sah die Leute nervös an. Er ließ Norman los und führte ihn einem Offizier am Bahnhof vor, damit Norman dort erkläre, wer er sei und was er vorhabe. Der Offizier hörte sich Normans Erklärung an und sah keinen Grund, ihn festzunehmen. Er gab ihm sogar eine Art Beglaubigungsschreiben mit, falls ihn unterwegs noch jemand aufhalten sollte.6
Norman reiste also weiter und hielt zwischendurch immer wieder Ausschau nach Missionaren, wann immer ihn der Heilige Geist dazu bewog. In einem abgelegenen Städtchen stand kaum jemand auf dem Bahnsteig und es schien unsinnig, dort nach Missionaren zu suchen. Norman hatte dennoch das Gefühl, er müsse aussteigen, also beschloss er, in die Stadt zu gehen. Schon bald kam er an einem kleinen Wirtshaus vorbei und fand dort zwei Missionare, die Apfelsaft tranken, den sie mit ihren letzten Münzen gekauft hatten.7
Nach ein paar Tagen des Suchens hatte Norman siebzehn Missionare ausfindig machen können. Um nach Dänemark zu gelangen, mussten er und seine Begleiter Züge für den Truppentransport ausfindig machen, dann die Schaffner austricksen und auf der ganzen Strecke der Polizei aus dem Weg gehen. Als Norman einen Tag nach dem Einmarsch in Polen in Kopenhagen anlangte, befand sich glücklicherweise schon jeder nordamerikanische Missionar aus den beiden Deutschen Missionen in Sicherheit.
Am nächsten Tag, dem 3. September, erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg.8
„Der seit langem drohende und befürchtete Krieg ist ausgebrochen“, verkündete Präsident Heber J. Grant auf der Herbst-Generalkonferenz 1939. Jahrelang hatte er mit Sorge und Entsetzen beobachtet, wie Hitler Deutschland auf einen riskanten Pfad der Gewalt führte, der für die gesamte Welt in Elend und Blutvergießen enden sollte. Nun standen die Achsenmächte unter der Führung Deutschlands im Kampf gegen die Alliierten unter England und Frankreich.
„Gott hat keinen Gefallen am Krieg“, sagte Präsident Grant den Heiligen. „Er wird diejenigen, die ungerechterweise Krieg führen, gemäß seinem Willen der ewigen Strafe zuführen.“ Der Prophet forderte die Führer der Welt und alle Menschen überall dringend auf, Meinungsverschiedenheiten möglichst friedlich beizulegen.
„Wir verurteilen die Übel des Krieges – Habgier, Geiz, Elend, Not, Krankheiten, Grausamkeit, Hass, Unmenschlichkeit, Brutalität und Sterben“, verkündete er. Es schmerzte den Propheten, sich die Millionen Menschen vorzustellen, die wegen des Krieges nun litten und trauerten. Viele Tausende waren Heilige der Letzten Tage, und einige waren bereits in Gefahr. Er sagte: „Wir bitten alle Mitglieder der Kirche inständig: Lieben Sie Ihre Brüder und Schwestern, ja, alle Völker, wer und wo auch immer sie sind. Vertreiben Sie aus Ihrem Leben den Hass und füllen Sie Ihr Herz mit Nächstenliebe, Geduld, Langmut und Vergebungsbereitschaft.“9
In den Wochen und Monaten nach der Generalkonferenz bedrückte den Propheten der Gedanke an den Krieg sehr. Im Dezember schrieb er seiner Tochter Rachel über den unnötigen Verlust an Menschenleben: „Es bereitet mir viel Kummer“, schrieb er. „Mir scheint, dass der Herr Menschen, die wie Hitler einen Krieg anzetteln, von der Erde hinwegfegen sollte.“10
Im Winter 1940 reiste Präsident Grant nach Inglewood, einem Stadtviertel in Los Angeles, wo sich die Heiligen bereits darauf freuten, ihn bei der Pfahlkonferenz sprechen zu hören. Bei der Ankunft im Gemeindehaus war ihm allerdings schwindelig und das Sprechen fiel ihm schwer. Wackelig stieg er aus dem Auto und schaffte es nur mit Mühe zur Eingangstür. Als er auf dem Podium Platz genommen hatte, schien das Schwindelgefühl zu vergehen, dennoch bat er darum, nicht sprechen zu müssen.
Nach einem Nickerchen fühlte er sich später indes stark genug, um am Nachmittag bei der Konferenzversammlung zu sprechen, und er sprach fast vierzig Minuten lang vom Rednerpult aus zu den Heiligen. Als er am Abend jedoch aufstehen wollte, gelang ihm dies nicht, und fast wäre er zu Fall gekommen. Am nächsten Morgen fühlte sich seine linke Seite taub an und er konnte weder den Arm heben noch die Finger bewegen. Als er aufzustehen versuchte, hatte er im linken Bein überhaupt keine Kraft mehr. Die Zunge fühlte sich geschwollen an und seine Worte klangen undeutlich.
Verwandte und Freunde brachten ihn ins Krankenhaus, wo die Ärzte einen Schlaganfall feststellten.11 Die nächsten Monate verbrachte Präsident Grant in Kalifornien. Langsam kehrten Kraft und Beweglichkeit wieder, doch der Arzt ermahnte ihn, sich viel auszuruhen, sich gesund zu ernähren und jegliche Anstrengung zu vermeiden. Im April ging es dem Propheten gut genug, sodass er nach Salt Lake City zurückkehren konnte.
„Ich bin brav und faul gewesen, wie es mir der Arzt aufgetragen hat“, teilte er seiner Tochter Grace kurz nach seiner Rückkehr mit. „Ich weiß aber nicht, wie lange ich das noch durchhalte.“12
Am 28. Juni 1940 machten sich die Heiligen in Cincinnati in Ohio jedenfalls noch keine Gedanken über den Krieg in Europa. An jenem Abend vernahm die einundzwanzigjährige Connie Taylor die Anfangsklänge von Wagners Hochzeitsmarsch „Treulich geführt“ zum Zeichen dafür, dass sie nun den Gang des Gemeindehauses im Zweig Cincinnati entlangschreiten solle. In der Kapelle waren viele Angehörige und Freunde zusammengekommen, um Connies Hochzeit mit Paul Bang zu feiern.13
Connie und Paul waren bereits über ein Jahr lang verlobt gewesen. Sie wollten aneinander gesiegelt werden, doch wie so viele Ehepaare in der Kirche, die weit weg von einem Tempel wohnten, heirateten sie zuerst standesamtlich im Gemeindehaus.14
Als Connie nach vorne ging, sah sie ihren Vater unter den Gästen sitzen. Bei einer Hochzeit ist es in den Vereinigten Staaten üblich, dass der Vater seine Tochter zum Traualtar führt. Da ihr Vater jedoch kaum mehr gehen konnte, hatte ihr Bruder diese Aufgabe übernommen. Connie freute sich von Herzen, dass ihr Vater anwesend war. In ihrem Patriarchalischen Segen war ihr schließlich verheißen worden, dass er sich eines Tages gemeinsam mit ihr der Segnungen des Evangeliums erfreuen werde. Diese Verheißung hatte sich noch nicht erfüllt, aber er hatte einmal am Ostersonntag eine Abendmahlsversammlung besucht, was ja zumindest schon ein gutes Zeichen war.15
Nachdem Connie bei Paul vorne in der Kapelle angekommen war, nahm der Zweigpräsident Alvin Gilliam die Trauung vor. Für viele Anwesende ging an diesem Abend eine Ära zu Ende. Abgesehen von den Versammlungen am darauffolgenden Sonntag war die Hochzeit der letzte Anlass, zu dem sich der Zweig Cincinnati in dem kleinen Gemeindehaus versammelte, das elf Jahre zuvor gekauft worden war. Das alte Gebäude war äußerst renovierungsbedürftig, und so hatte der Zweig, der ja immer größer wurde, es vor kurzem verkauft und nördlich der Stadt ein Grundstück für ein neues Gemeindehaus erworben.16
Am nächsten Nachmittag brachen die Frischvermählten mit dem Auto von Pauls Vater zu den Niagarafällen im Bundesstaat New York auf. Sie nahmen drei Körbe mit Lebensmitteln aus dem Laden der Familie mit, einige Kleidungsstücke zum Wechseln und etwa sechzig Dollar in bar.
Unterwegs besichtigten Connie und Paul auch den Kirtland-Tempel. Das Gebäude wurde inzwischen von der Reorganisierten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage als Gemeindehaus verwendet. Die Tür war bei ihrer Ankunft zwar verschlossen gewesen, doch jemand hatte ihnen aufgeschlossen und ließ sie das Innere eine Stunde lang allein besichtigen. Sie erkundeten jeden Winkel des Tempels, auch den Turm, von dem aus man auf das Städtchen blicken konnte, in dem über ein Jahrhundert zuvor hunderte treue Heilige gelebt hatten.17
Von Kirtland fuhren sie dann weiter zu den Niagarafällen. Dieser Ort an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada war ein beliebtes Ziel für Hochzeitsreisende, doch nun herrschte wegen des Kriegs in Europa allenthalben Alarmbereitschaft. Zwar waren die Vereinigten Staaten dem Krieg noch nicht beigetreten, Kanada gehörte aber zum Britischen Staatenbund und hatte Deutschland nach dem Einmarsch in Polen den Krieg erklärt. Bevor Connie und Paul also die Grenze nach Kanada überqueren konnten, überprüften Grenzbeamte sorgfältig, ob sie nicht etwa Spione seien.
Nachdem das Paar die Fälle besichtigt hatte, fuhr es die gut einhundertfünfzig Kilometer ostwärts nach Palmyra und Manchester im Bundesstaat New York.18 Im Laufe der Jahre hatte die Kirche in der Gegend mehrere historische Stätten erworben, darunter den Hügel Cumorah, den heiligen Hain und das Holzhaus von Lucy und Joseph Smith Sr. Da der Kirche die Bedeutung dieser Stätten für die Missionsarbeit bewusst war, waren sie neuerdings für Besucher geöffnet. Auf ihre geschichtsträchtige und geistige Bedeutung wurde auf Schildern entlang der Straße hingewiesen. In den frühen 1920er Jahren waren unter B. H. Roberts auf dem Hügel Cumorah missionsweite Konferenzen abgehalten worden. Inzwischen war daraus ein Event mit einem Bühnenstück für die breite Öffentlichkeit geworden.19
Connie und Paul übernachteten in Manchester gegen ein geringes Entgelt im ehemaligen Haus der Familie Smith. Sie gingen auf den Hügel Cumorah und dachten dabei daran, dass dort lange Zeit die Goldplatten vergraben gewesen waren. Auf der Hügelkuppe stand neuerdings ein Denkmal des Engels Moroni. Sie machten dort eine Pause, machten ein paar Fotos und genossen den herrlichen Blick auf die Umgebung. Später unternahmen sie einen Spaziergang durch den heiligen Hain und erfreuten sich der Heiligkeit und Schönheit des Wäldchens. Vor ihrer Abreise knieten sie sich gemeinsam zum Beten nieder.20
Die Frischvermählten besichtigten auch kurz die Hauptstadt Washington, wo sie in einem Gemeindehaus ganz aus Marmor, das die Kirche 1933 geweiht hatte, den Gottesdienst besuchten. Seit Apostel Reed Smoot und eine kleine Gruppe Heiliger 1920 dort einen kleinen Zweig gegründet hatten, hatte die Kirche ein beträchtliches Wachstum verzeichnet. Kurz vor dem Besuch von Paul und Connie hatte Apostel Rudger Clawson in Washington einen Pfahl gegründet, als dessen Präsident der vierzigjährige Ezra Taft Benson berufen worden war.21
Nach ein paar Tagen in Washington kehrten Connie und Paul nach Cincinnati zurück, wo sie sich in einer zugigen Wohnung unweit des Lebensmittelladens der Familie Bang niederließen. Sie hatten bis auf einen Cent all ihr Geld für die Flitterwochen ausgegeben, doch Paul hatte ja immer noch seine Arbeitsstelle bei seinem Vater. Ein paar Jahre später sollten sie, nachdem sie das Geld dafür angespart hatten, noch eine längere Autofahrt unternehmen – diesmal nach Salt Lake City zum Tempel.22
An einem kalten Dezemberabend im Jahre 1940 war der Himmel über Cheltenham, einer Stadt im Süden Englands, erfüllt vom bedrohlichen Dröhnen der NS-Bomber. Sechs Monate lang hatte die deutsche Luftwaffe Großbritannien nun schon unerbittlich angegriffen. Die Bomben waren zunächst auf Luftwaffenstützpunkte und Häfen gefallen, doch inzwischen wurden auch Wohngebiete in London und darüber hinaus angegriffen.23 Cheltenham war eine friedliche Ortschaft mit wunderschönen Parkanlagen und Gärten, doch nun war die Stadt Ziel feindlicher Angriffe.
Nellie Middleton war fünfundfünfzig Jahre alt und Mitglied der Kirche. Sie lebte mit ihrer sechsjährigen Tochter Jennifer in der Stadt. Um sich und ihre Familie gegen die Luftangriffe zu wappnen, hatte sie mit ihrem bescheidenen Lohn als Schneiderin einen Kellerraum als Schutzraum eingerichtet. Dort befanden sich Lebensmittel, Wasser, Petroleumlampen und ein kleines Bett aus Eisengestell für Jennifer. Auf behördliche Anweisung hatte Nellie ihre Fenster mit Sicherheitsnetzen verhängt, damit im Falle eines Bombeneinschlags keine Glassplitter in den Raum gelangten.24
Überall in Cheltenham durchschnitten nun Bomben pfeifend die Luft und schlugen mit ohrenbetäubendem Donnern ein. Das entsetzliche Getöse rückte immer näher an Nellies Haus heran. Schließlich ließ eine gewaltige Explosion in unmittelbarer Nähe die Wände erzittern. Die Fenster zerbarsten, die davorgespannten Netze waren voller rasiermesserscharfer Glassplitter.
Am Morgen darauf waren die Straßen mit Trümmern übersät. Die Bomben hatten dreiundzwanzig Menschen getötet und mehr als sechshundert obdachlos gemacht.25
Nellie und andere Mitglieder der Kirche aus Cheltenham taten ihr Bestes, um die Zeit nach dem Angriff durchzustehen. Seit Hugh B. Brown, Präsident der Britischen Mission, samt den aus Nordamerika stammenden Missionaren ein Jahr zuvor das Land verlassen hatte, waren in dem kleinen Zweig – wie in vielen anderen auch – nur wenige Mitglieder, die zu einer Aufgabe berufen werden konnten, und die Programme der Kirche liefen auf Sparflamme. Schließlich wurden auch die ortsansässigen Männer zum Kriegsdienst eingezogen. Es gab keine Priestertumsträger, die das Abendmahl segnen oder den Zweig offiziell führen konnten. Kurze Zeit später musste der Zweig aufgelöst werden.
Arthur Fletcher war schon älter und trug das Melchisedekische Priestertum. So oft er konnte, legte er mit seinem rostigen Fahrrad die gut dreißig Kilometer zu den Heiligen in Cheltenham zurück. Doch die meiste Zeit ruhte die Verantwortung für das geistige und zeitliche Wohlergehen der Mitglieder auf Nellie, der ehemaligen FHV-Leiterin im Zweig Cheltenham. Nach der Auflösung des Zweiges konnten sich die Mitglieder sonntags nicht mehr wie früher in dem gemieteten Saal treffen. So wurde Nellies Wohnzimmer der Ort, an dem die FHV betete, sang und in den Büchern Jesus der Christus und Die Glaubensartikel las.26
Es war Nellie ein Anliegen, dass ihre Tochter mit dem Evangelium aufwuchs. Nellie war schon fast fünfzig und unverheiratet gewesen, als sie Jennifer adoptierte. Nun gesellte sich also die Kleine zu den Frauen, und diese waren stets darauf bedacht, das Evangelium so zu besprechen, dass auch Jennifer es verstehen konnte. Nellie und andere FHV-Schwestern nahmen Jennifer auch mit, wenn sie Kranke oder Ältere besuchten. Niemand im Zweig hatte ein Telefon oder ein Auto, also gingen sie zu Fuß. Zu den Besuchen brachten sie ein Glas Marmelade oder ein bisschen Kuchen mit und zudem eine Botschaft.27
Doch sobald die Sonne untergegangen war, gab es keine Besuche mehr. Um es den deutschen Bombern schwerer zu machen, ihre Ziele zu erkennen, schalteten Ortschaften und Städte überall in England nachts die Straßenlaternen und die Leuchtreklame aus. Die Menschen deckten ihre Fenster mit dunklen Tüchern ab und schraubten im Eingangsbereich die Glühbirnen heraus.
Die Mitglieder in Cheltenham zogen sich abends in ihre Wohnungen zurück, denn jeder Lichtschimmer könnte sie und alle Nachbarn in Gefahr bringen.28
Im darauffolgenden Jahr wurde es für Alois Cziep, den Präsidenten des Zweiges Wien, immer schwerer, seiner Berufung nachzukommen. Durch den Krieg waren die üblichen Kommunikationskanäle zwischen dem Hauptsitz der Kirche und den Zweigen in den von den Achsenmächten besetzten Gebieten unterbrochen. Die Veröffentlichung der deutschsprachigen Zeitschrift der Mission – Der Stern – war eingestellt worden. Der amtierende Missionspräsident, ein deutsches Mitglied namens Christian Heck, gab sein Bestes, um die Kirche inmitten des Chaos aufrechtzuerhalten. Alois versuchte dies in seinem Zweig ebenfalls.
Obwohl der Krieg samt seinen verheerenden Auswirkungen und Zerstörungen noch nicht bis nach Österreich vorgedrungen war, war Alois doch bekannt, dass die britische Luftwaffe deutsche Städte angegriffen hatte. Und nun hatte auch die Sowjetunion dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Wie in England auf der gegnerischen Seite war auch in Österreich zum Schutz vor feindlichen Flugzeugen nachts Verdunkelung angeordnet worden.29
Die meisten Männer aus dem Zweig Wien waren gleich zu Kriegsbeginn zur Wehrmacht eingezogen worden. Da Alois einige Jahre zuvor aufgrund einer Erkrankung ein Auge verloren hatte, war er vom Wehrdienst ausgenommen. Trotz der zunehmenden Herausforderungen hatte er das Glück, dass ihm noch zwei Ratgeber, einige junge Träger des Aaronischen Priestertums sowie seine Frau Hermine zur Seite standen. Als FHV-Leiterin trug Hermine einen Großteil der seelischen Last der Frauen im Zweig, die oft überfordert, einsam und verängstigt waren – vor allem, wenn sie die Nachricht erhielten, dass einer ihrer Lieben gefangen genommen oder gar gefallen war.
Hermine redete ihnen zu, auf Gott zu vertrauen und weiterzumachen, und auch sie selbst war bemüht, sich an diesen guten Rat zu halten.30
Auch wenn der Zweig seit Anbruch des Krieges zahlenmäßig immer weiter geschrumpft war und Alois darauf achtete, in den Versammlungen das Thema Politik zu meiden, hielten die Spaltungen unter den Mitgliedern an. Einmal sprach ein Gast aus Deutschland zu Beginn einer Versammlung ein Gebet für Adolf Hitler. „Bruder“, sagte Alois, nachdem der Mann geendet hatte, „an diesem Ort beten wir nicht für Hitler.“
Da es auch im Zweig Parteimitglieder und Sympathisanten der NSDAP gab, musste Alois seine Worte oftmals vorsichtig wählen. Überall konnten ja schließlich Denunzianten und Spitzel sein, die Alois und seine Familie dem NS-Regime melden würden. Er und Hermine glaubten zwar daran, dass man das Gesetz des Landes befolgen solle, doch mitunter war dies eine schmerzhafte Angelegenheit.31
Zwei Mitglieder des Zweiges – Olga Weiss und ihr erwachsener Sohn Egon – waren jüdische Bekehrte, die den Zweig allwöchentlich durch ihr musikalisches Talent erfreuten. Als die Nazis jedoch in Österreich einmarschierten, wussten die beiden, dass sie das Land verlassen mussten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, dem Antisemitismus der Hitler-Diktatur zum Opfer zu fallen. Die Familie lebte zwar nicht mehr nach dem jüdischen Glauben, doch für die Nazis zählten sie aufgrund ihrer Abstammung dennoch zu den Juden.
Einige Monate nach dem Anschluss schrieben Olga und Egon dringliche Briefe an die Erste Präsidentschaft und an ehemalige Missionare aus ihrem Bekanntenkreis in der Hoffnung, jemanden zu finden, der ihnen und einigen ihrer Verwandten helfen könne, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. „Die Zustände hier sind für uns, die wir dem jüdischen Volk angehören, einfach schrecklich“, schrieb Egon in seinem Brief. „Wir müssen weg von hier.“32
Wie viele Menschen auf der Welt vernahm auch Präsident Grant widersprüchliche Berichte, was die Feindseligkeit Hitlers gegenüber den Juden und das Ausmaß der Gefahr anbelangte, der sie in Deutschland ausgesetzt waren. Antisemitismus hatte der Prophet sowohl öffentlich als auch privat immer wieder verurteilt.33 Dennoch konnten die Führer der Kirche weder Familie Weiss noch anderen auswanderungswilligen europäischen Mitgliedern helfen. Gemäß der geltenden Gesetzeslage in den Vereinigten Staaten durften Religionsgemeinschaften keine Einwanderer mehr unterstützen, und somit hatte die Kirche schon seit Jahren sämtliche Anträge auf derartige Unterstützung abgelehnt.34 Als dann der Krieg in Europa eskalierte, brachte die Erste Präsidentschaft häufig ihre Betroffenheit darüber zum Ausdruck, dass ihnen die amerikanische Regierung nicht gestattete, Flüchtlingen die Auswanderung zu ermöglichen. Wenn Präsident Grant und seine Ratgeber also Briefe wie den von Egon erhielten, konnten sie kaum mehr tun, als ihr Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen und mitunter eine Organisation zu empfehlen, von der sie hofften, dass sie etwas unternehmen könne.35
Im September 1941 waren Egon und Olga noch immer in Wien. Die Nazis verlangten damals von allen österreichischen Juden, sich durch das Tragen eines gelben Judensterns zu erkennen zu geben. Als NS-Beamte feststellten, dass zu den Versammlungen im Zweig Wien auch Juden kamen, befahlen sie Alois, ihnen den Besuch zu verbieten. Sollte er sich weigern, würden die Heiligen umgehend ihren Versammlungsort verlieren.
Alois war klar, dass er der Forderung nachkommen müsse. Voll Bedauern und innerlich hin- und hergerissen suchte er Familie Weiss auf und teilte ihnen mit, dass sie ab jetzt den Versammlungen fernbleiben müssten. Er und weitere Mitglieder des Zweiges besuchten die Familie jedoch weiterhin zuverlässig – bis Olga und Egon eines Tages spurlos verschwunden waren.36