„Auf dem Prüfstand“, Kapitel 7 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 3, Unerschrocken, erhaben und unbeirrbar, 1893–1955, 2021
Kapitel 7: Auf dem Prüfstand
Kapitel 7
Auf dem Prüfstand
Ab Anfang 1901 übernahm Joseph F. Smith innerhalb der Ersten Präsidentschaft immer mehr Verantwortung für die gesamte Kirche, da sich der Gesundheitszustand von George Q. Cannon verschlechtert hatte. Im März fuhr George mit seiner Familie nach Kalifornien an die Küste in der Hoffnung, dass ihm die Meeresluft guttun werde. Joseph versuchte unterdessen, seinen Freund aus der Ferne aufzumuntern.
„Durch meine langjährige Zusammenarbeit mit dir in diesem Werk“, schrieb er an George, „sind dir mein Herz, meine Seele, meine Liebe und alle meine Gefühle in tiefer Verbundenheit zugeneigt – so stark wie die Liebe zum Leben, die nicht gebrochen werden kann.“1
Georges Gesundheitszustand verschlimmerte sich allerdings weiter. Seine Söhne schickten regelmäßig Bericht über die nachlassende Gesundheit ihres Vaters nach Salt Lake City, und so war Joseph nicht weiter überrascht, als er am 12. April per Telegramm die Nachricht vom Ableben seines Freundes erhielt. Trotzdem traf ihn der Verlust schwer. „George war ein demütiger, ein großartiger Mann – machtvoll in den Ratsgremien mit den führenden Brüdern“, hielt Joseph an diesem Tag in seinem Tagebuch fest. „Ganz Israel wird seinen Tod betrauern.“2
Doch selbst in all seinem Kummer richtete Joseph die Aufmerksamkeit nunmehr auf das neue Aufgabengebiet, das ihm innerhalb der Ersten Präsidentschaft zufallen sollte.3 In diesem Jahr beauftragten er und Präsident Lorenzo Snow drei Apostel, die Missionsarbeit in wichtigen Teilen der Welt zu leiten. Francis Lyman wurde berufen, die Europäische Mission zu leiten, John Henry Smith sollte der Mission in Mexiko neues Leben einhauchen und Heber J. Grant der ersten Mission in Japan vorstehen. Da die Führer der Kirche das Werk des Herrn nun in weitere Regionen der Welt bringen wollten, zogen sie auch in Erwägung, Missionare nach Südamerika zu schicken und für die Kolonien der Heiligen in Arizona und im nördlichen Mexiko einen kleinen Tempel zu bauen. Die Kirche war jedoch immer noch verschuldet, deshalb blieben solche Pläne vorerst in der Schublade.4
In diesem Jahr hatten die Heiligen zwei weitere Todesfälle zu beklagen. Im August brach Zina Young, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, zusammen, als sie ihre Tochter Zina Presendia Card in Kanada besuchte. Zina Presendia brachte ihre Mutter eilends nach Utah zurück, wo sie in ihrem Zuhause in Salt Lake City friedlich aus dem Leben schied. Ihr ganzes Leben lang hatte Zina beispielhaft das Reich Gottes über alles andere gestellt.5
„Mit jedem Tag freue ich mich mehr an den herrlichen Grundsätzen, an die wir glauben“, hatte sie noch zwei Wochen vor ihrem Tod zu den Schwestern in Cardston gesagt. „Diese großartigen Segnungen sind jenseits aller Vorstellungskraft. Nichts lässt sich mit den Segnungen vergleichen, die wir durch unser Gottvertrauen erhalten.“6
Zwei Monate später wurde Präsident Snow plötzlich krank. Mehrere Apostel kümmerten sich hingebungsvoll um ihn und knieten sich auf seine Bitte hin zum Beten rund um sein Bett. Wenig später verstarb er.
Bei der Beerdigung von Präsident Snow lobte Joseph ihn und sein unerschütterliches Zeugnis von der Wahrheit. „Mit Ausnahme des Propheten Joseph Smith“, erklärte er, „glaube ich nicht, dass jemals ein Mensch auf dieser Erde gestanden hat, der ein stärkeres, deutlicheres Zeugnis für Jesus Christus abgelegt hat.“7
Ein paar Tage später, am 17. Oktober 1901, bestätigte das Kollegium der Zwölf Apostel Joseph F. Smith als sechsten Präsidenten der Kirche. Er berief John Winder von der Präsidierenden Bischofschaft und Anthon Lund als seine Ratgeber. Dann legten die Apostel Joseph F. Smith die Hände auf, und John Smith, sein älterer Bruder und zugleich Patriarch der Kirche, setzte ihn ein.8
Die Heiligen bestätigten die neue Erste Präsidentschaft bei einer Sonderversammlung am 10. November 1901 im Tabernakel in Salt Lake City. „Es ist unsere Pflicht, das Werk energisch anzugehen, es mit voller Entschlossenheit und Herzensabsicht fortzuführen, und zwar mit der Hilfe des Herrn und in Übereinstimmung mit den Eingebungen seines Geistes“, sagte Präsident Smith den Anwesenden. Da ein neues Jahrhundert angebrochen war, wollte er den Mitgliedern Hoffnung für die Zukunft mitgeben.
„Man hat uns aus unseren Häusern vertrieben, verleumdet und überall schlechtgeredet“, erklärte er. „Der Herr beabsichtigt, diesen Zustand zu ändern und uns der Welt in unserem wahren Licht vorzustellen – als wahre Diener Gottes.“9
Bei dieser Versammlung rief Präsident Smith die Heiligen auch dazu auf, Bathsheba Smith als vierte Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung im Amt zu bestätigen. Es war das erste Mal, dass die Priestertumskollegien aufgefordert wurden, eine neue FHV-Präsidentschaft zu bestätigen.
„Es war sehr erfreulich für die Frauen, die den Fortschritt der Schwestern im Sinn haben“, merkte Emmeline Wells an, „in all den verschiedenen Kollegien des heiligen Priestertums erhobene Hände zu sehen, die ihre Unterstützung signalisierten.“10
Die neunundsiebzig Jahre alte Bathsheba war eine der wenigen noch lebenden Gründungsmitglieder der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo. Nachdem sie sich im Alter von fünfzehn Jahren der Kirche angeschlossen hatte, war sie zunächst nach Missouri und dann nach Nauvoo gezogen, um sich mit den Heiligen zu sammeln. 1841 heiratete sie den Apostel George A. Smith und diente später als Verordnungsarbeiterin im Nauvoo-Tempel. Sie war eine aktive Mitarbeiterin in der Frauenhilfsvereinigung und war zuletzt Zweite Ratgeberin von Zina Young in der Präsidentschaft gewesen.11
Zwei Monate nachdem die Heiligen sie bestätigt hatten, sprach Bathsheba zu allen Mitgliedern der Frauenhilfsvereinigung ein Grußwort des Wohlwollens und des guten Willens. „Liebe Schwestern, strebt danach, in eurer Gemeinde eine Vereinigung voller Liebe und Einigkeit zu errichten“, erklärte sie. „Lasst uns zu dieser Stunde mit erneutem Vorsatz darangehen, unseren Mitmenschen Linderung zu verschaffen und uns selbst zu verbessern.“12
Mit ihren Ratgeberinnen Annie Hyde und Ida Dusenberry setzte sie sich für die Armen und Bedürftigen ein und brachte den Getreidevorrat und die Seidenproduktion voran. Um für die Hilfsprojekte Geld zu beschaffen, ermunterte sie die Mitglieder der Vereinigung, durch Basare, Konzerte und Tanzveranstaltungen Spenden zu sammeln. Sie schickte Vertreterinnen in nationale Frauenorganisationen und unterstützte Frauen darin, sich als Krankenschwester oder Hebamme ausbilden zu lassen. Sie begann auch, Gelder zu sammeln und Pläne zu machen für ein Gebäude eigens für Frauen. Es sollte direkt gegenüber dem Salt-Lake-Tempel stehen, auf einem Grundstück, das Lorenzo Snow vor seinem Tod für die Frauenorganisation vorgesehen hatte.13
Wie ihre Vorgängerinnen hielten es auch Bathsheba und ihre Ratgeberinnen für wichtig, die einzelnen Frauenhilfsvereinigungen zu besuchen. Um Frauenhilfsvereinigungen in Europa und Ozeanien zu besuchen, sandten sie oftmals die Ehefrau eines Missionspräsidenten dorthin. Sie selbst oder ein Mitglied des FHV-Hauptausschusses versuchten jedoch, mindestens zweimal im Jahr die Schwestern im Westen der Vereinigten Staaten, in Mexiko und in Kanada zu besuchen. Da die Kirche dort bereits dutzende von Pfählen hatte – was es schwieriger machte, alle zu besuchen –, wurden sechs weitere Frauen berufen.14
Bei diesen Besuchen in den Pfählen stellten die Führerinnen der Frauenhilfsvereinigung allerdings bei den jüngeren Frauen mangelndes Interesse fest. Da viele dieser Frauen frischgebackene Mütter waren, ermunterte die FHV-Präsidentschaft die Pfahl-Frauenhilfsvereinigungen, ihre Versammlungen für die jüngere Generation attraktiver zu gestalten. In den Frauenhilfsvereinigungen gab es damals keinen festen Lehrplan, sodass Bathsheba die Pfähle anwies, ihre eigenen Kurse für Mütter anzubieten. Sie bat darum, dass jede Frauenhilfsvereinigung auf die Lebenserfahrungen ihrer älteren Mitglieder zurückgreife und sich zugleich auch mit wissenschaftlichen Büchern über Kindererziehung befasse, für die sich die jüngere Generation interessierte. Schon bald begann die Zeitschrift Woman’s Exponent, Unterrichtskonzepte zu veröffentlichen, um den Pfählen bei der Entwicklung ihrer eigenen Programme zu helfen.15
Im August 1903 schickte Bathsheba die dreißigjährige Ida Dusenberry nach Cardston, wo sie Zina Presendia Card und den örtlichen FHV-Präsidentschaften bei der Zusammenstellung von Kursen für Mütter helfen sollte. Ida beauftragte die Präsidentschaften, Verantwortung für das Programm zu übernehmen und im Unterricht Zeitschriften und andere Veröffentlichungen der Kirche zu verwenden.
„Inwieweit sollen wir bei diesen Kursen für Mütter nach wissenschaftlichen Erkenntnissen vorgehen?“, fragte Zina Presendia.
Als ausgebildete Kindergärtnerin und Schulleiterin war Ida bestrebt, die neuesten Thesen zur Kindererziehung in die Kurse für Mütter einfließen zu lassen. Doch ihr war klar, dass auch die älteren Schwestern aufgrund ihrer Lebenserfahrung viel zu bieten hatten.
„Wir möchten, dass ihr die Bedürfnisse einer Mutter und ihre Pflichten gegenüber ihren Kindern ganz allgemein aufgreift“, erklärte sie. „Zudem können wir voneinander viel Nützliches und Praktisches lernen.“16
Während Ida Dusenberry in Cardston zu Besuch war, bereitete sich ihr älterer Bruder Reed Smoot im Senat der Vereinigten Staaten auf einen politischen Schlagabtausch vor. Als neues Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel war Reed Anfang des Jahres in den Senat gewählt worden, nachdem die Erste Präsidentschaft seine Kandidatur genehmigt hatte.17 Auch seine Frau Allie unterstützte ihn bei diesem Bestreben, da sie davon ausging, dass er für die Bevölkerung Utahs viel bewirken könne. „Ich bin sehr darauf bedacht, dass du Erfolg hast“, sagte sie ihm, „und ich habe das Gefühl, dass Gott uns beide segnen und uns helfen wird.“18
Erwartungsgemäß löste Reeds Wahl Empörung und Proteste aus.19 Die Kirche hatte sehr um ihr Ansehen in der Öffentlichkeit kämpfen müssen, nachdem 1898 die Wahl von B. H. Roberts ins Repräsentantenhaus im gesamten Land auf heftigen Widerstand gestoßen war. Die Kirche hatte inzwischen auf dem Tempelplatz ein Informationsbüro eröffnet, wo sich jeder Besucher über die Heiligen informieren konnte. Ehrenamtliche Helfer, viele von ihnen aus der GFV Junger Männer und der GFV Junger Damen, verteilten dort Literatur der Kirche und beantworteten Fragen zur Kirche und ihren Glaubensvorstellungen. Bislang hatten sie in Salt Lake City schon tausenden von Besuchern Fakten zur Kirche weitergegeben. Doch dies trug nur wenig dazu bei, die Meinung der schärfsten Kritiker der Kirche innerhalb und außerhalb Utahs zu ändern.20
Reeds vehementeste Kritiker waren Mitglieder eines Kirchenverbands in Salt Lake City – eines Zusammenschlusses von in Utah ansässigen protestantischen Geschäftsleuten, Anwälten und Geistlichen. Kurz nach seiner Wahl reichten sie im Senat das formelle Gesuch ein, Reed den Amtsantritt zu verweigern. Sie gaben darin an, die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel hätten die völlige politische und wirtschaftliche Herrschaft über die Heiligen inne und würden von ihnen absoluten Gehorsam verlangen. Sie behaupteten auch, trotz des Manifests würden die Führer der Kirche weiterhin die Mehrehe predigen, praktizieren und unterstützen. Diese Faktoren, so schlussfolgerten sie, machten die Heiligen zu einem undemokratischen Volk, das der Regierung der Vereinigten Staaten gegenüber untreu sei.
Die Mitglieder des Kirchenverbands befürchteten, Reed würde seine Stellung als Apostel in der Kirche dazu nutzen, für die Mehrehe einzutreten und diejenigen zu schützen, die sie praktizierten. Ein Mitglied des Verbands beschuldigte Reed, der mit nur einer Frau verheiratet war, sogar, heimlich in Mehrehe zu leben. Der Mann sprach die Warnung aus, Reed wäre bloß eine Schachfigur in der Hand der Ersten Präsidentschaft und würde sich deren Anweisungen ganz und gar unterwerfen.21
Im Senat wurden diese Gesuche behandelt, und ein Untersuchungsausschuss von dreizehn Senatoren wurde zur Anhörung der Vorwürfe seitens des Kirchenverbands einberufen. Reed wurde allerdings gestattet, den Amtseid abzulegen und sein Amt anzutreten – zumindest bis der Ausschuss seine Anhörung beendet hatte.22
Obwohl der Kirche somit eine Untersuchung drohte, war Joseph F. Smith der Meinung, Reed solle sowohl sein Apostelamt als auch seinen Sitz im Senat behalten, da der Präsident davon überzeugt war, dass Reed in Washington mehr Gutes tun könne als sonst wo. Präsident Smith sah in der Anhörung eine Chance, der Allgemeinheit die Heiligen und deren Glauben näherzubringen.23
Da Reed selbst nie in Mehrehe gelebt hatte, machte er sich keine Sorgen über die Untersuchung seines Privatlebens durch den Ausschuss. Allerdings war er besorgt, wie die Kirche bei der Anhörung dastehen würde. Gerüchte über neue Mehrehen gab es in Utah zuhauf, und Zweifel daran, ob die Kirche diesen Brauch tatsächlich abschaffen wolle, machten seit der Wahl von B. H. Roberts in der Öffentlichkeit die Runde. Als führender Amtsträger der Kirche musste Reed zu den Richtlinien der Kirche Stellung beziehen. Er wusste, dass der Ausschuss die nach dem Manifest geschlossenen Mehrehen gründlich untersuchen werde. Er erwartete auch, dass die Senatoren ihn und weitere Zeugen zur politischen Haltung der Kirche und zur Loyalität der Heiligen gegenüber den Vereinigten Staaten befragen würden.24
Könnte der Ausschuss beweisen, dass die Kirche für Gesetzwidrigkeiten eintrat, könnte Reed seines Amtes enthoben werden, und der Ruf der Heiligen würde Schaden nehmen.
Am 4. Januar 1904 reichte Reed im Ausschuss eine Gegendarstellung ein, in der er die Anschuldigungen des Kirchenverbands formell zurückwies. Er hoffte, die Aufmerksamkeit des Ausschusses auf sich und sein Verhalten zu lenken. Aber als er sich eine Woche später mit dem Ausschuss traf, war klar, dass die Senatoren entschlossen waren, vor allem die Kirche selbst zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. Und ihnen war besonders daran gelegen, Joseph F. Smith und andere Generalautoritäten über ihren politischen Einfluss auf die Heiligen und die Fortführung der Mehrehe nach dem Manifest zu befragen.
„Senator Smoot, Sie stehen nicht auf dem Prüfstand“, sagte der Ausschussvorsitzende zu ihm. „Es ist die Mormonenkirche, gegen die wir ermitteln wollen, und wir werden dafür sorgen, dass sich diese Männer an das Gesetz halten.“25
Am 25. Februar 1904 wurde Joseph F. Smith vorgeladen, vor dem Senatsausschuss zu Reed Smoot auszusagen. Zwei Tage später reiste er nach Washington – zuversichtlich, dass die Kirche der kommenden Prüfung werde standhalten können. Reed hatte ihn jedoch gewarnt, dass die Senatoren nach jedem Aspekt seines Familienlebens fragen und Einzelheiten über seine Mehrehen fordern würden. Als Präsident der Kirche würde er auch zu seiner Rolle als Prophet, Seher und Offenbarer für die Heiligen befragt werden. Der Ausschuss würde wissen wollen, welchen Einfluss er und seine Offenbarungen auf Reed und dessen Abstimmungsverhalten im Senat hätten.26
Am ersten Tag der Befragung, dem 2. März, war der Sitzungssaal übervoll – Senatoren, Anwälte und Zeugen waren anwesend. Auch Vertreterinnen von Frauenorganisationen, die sich gegen Reeds Wahl ausgesprochen hatten, waren dabei. Auf die Bitte des Vorsitzenden hin nahm Präsident Smith ihm gegenüber an einem langen Tisch Platz. Sein graues Haar und sein langer Bart waren ordentlich gekämmt, und er trug ein schlichtes schwarzes Jackett und eine goldgerahmte Brille. An seinem Revers steckte ein kleines Porträt von Hyrum Smith – seinem Vater, der den Märtyrertod erlitten hatte.27
Robert Tayler, der Anwalt des Kirchenverbands, eröffnete die Anhörung mit Fragen zum Leben von Präsident Smith. Der Anwalt wandte sein Augenmerk auf die Offenbarungen und deren Einfluss auf die privaten Entscheidungen der Mitglieder der Kirche und bat den Propheten, zu erklären, wann die Mitglieder verpflichtet sein könnten, einer Offenbarung des Präsidenten der Kirche zu gehorchen. Wenn er den Propheten dazu bringen könne, einzuräumen, dass alle Mitglieder seinen Offenbarungen gehorchen müssten, könnte Tayler damit beweisen, dass Reed Smoot im Senat nicht wirklich frei sei, nach eigenem Gewissen zu entscheiden.
„Eine Offenbarung, die durch das Oberhaupt der Kirche gegeben wird, wird erst dann zum bindenden Maßstab“, erklärte ihm Präsident Smith, „wenn sie der Kirche vorgelegt worden ist und von ihr angenommen wird.“
„Meinen Sie damit“, erkundigte sich Tayler, „dass die Kirche in der Konferenz zu Ihnen, Joseph F. Smith, dem Präsidenten der Kirche, sagen könnte: ,Wir glauben nicht, dass Gott Ihnen aufgetragen hat, uns dies zu sagen‘?“28
„Das können sie, wenn sie wollen“, antwortete der Prophet. „Jeder Mensch hat ein Recht auf seine eigene Meinung, seine eigenen Ansichten und seine eigenen Vorstellungen von Recht und Unrecht, solange diese nicht den allgemeinen Grundsätzen der Kirche entgegenstehen.“29
Als Beispiel führte er an, dass nur ein Teil der Heiligen die Mehrehe praktiziert habe. „Alle übrigen Mitglieder übernahmen diesen Grundsatz nicht und lebten auch nicht danach, und viele Tausende haben ihn nie angenommen und nie daran geglaubt“, erläuterte er, „aber sie wurden nicht aus der Kirche ausgeschlossen.“30
„Sie bekommen Offenbarungen, nicht wahr?“, fragte der Vorsitzende des Ausschusses. Er wollte wissen, wann eine Offenbarung des Propheten des Herrn als grundlegende Lehre der Kirche gelte – also als etwas, dem sich ein treuer Heiliger der Letzten Tage wie Reed Smoot verpflichtet fühlen würde, zu gehorchen.
Präsident Smith wählte seine Worte mit Bedacht. Schon oft hatte er durch den Heiligen Geist persönliche Offenbarung empfangen. Als Prophet hatte er auch inspirierte Weisung für die Heiligen erhalten. Aber er hatte nie durch die Stimme des Herrn selbst eine Offenbarung für die gesamte Kirche empfangen, also jene Art von Offenbarung, wie sie im Buch Lehre und Bündnisse zu finden ist.
„Ich habe nie gesagt, dass ich eine Offenbarung hatte“, erklärte er dem Vorsitzenden, „außer insoweit, als Gott mir gezeigt hat, dass der sogenannte ,Mormonismus‘ Gottes erhabene Wahrheit ist. Das ist alles.“31
Präsident Smith beantwortete dann weitere Fragen, bis die Untersuchung am späten Nachmittag vertagt wurde. Bei der Anhörung am nächsten Tag konzentrierten sich die Fragen vermehrt auf die Mehrehe und das Manifest. Präsident Smith bemühte sich zwar, die Fragen genau zu beantworten, vermied es aber, offenzulegen, was er und andere Führer der Kirche über neue Mehrehen wussten. Ihm war klar, dass der Kongress ihn und die Kirche verurteilen würde, wenn solche Informationen bei den Ermittlungen ans Licht kämen.32
Außerdem beruhten seine zurückhaltenden Antworten auf die Fragen des Ausschusses auf seinem Verständnis, dass die Heiligen, die auch nach dem Manifest noch die Mehrehe praktizierten, dies auf eigenes Risiko taten. Aus diesem Grund glaubte er, dass das Manifest ihm und seinen Frauen oder anderen, die in Mehrehe lebten, nicht untersagte, ihre heiligen Bündnisse der Tempelehe weiterhin diskret auszuüben.33
Als Robert Tayler ihn fragte, ob er es für falsch halte, weiterhin mit mehreren Ehefrauen zusammenzuleben, sagte Präsident Smith: „Das ist gegen die Regeln der Kirche und auch gegen das Gesetz des Landes.“ Aber dann sprach er offen über seine Weigerung, seine Frauen und seine vielen Kinder zu verlassen. „Ich führe eine Lebensgemeinschaft mit meinen Frauen“, sagte er. „Sie haben mir seit 1890 Kinder geboren.“34
„Da dies ein Verstoß gegen das Gesetz ist“, fragte Tayler, „wieso tun Sie das?“
„Ich habe es vorgezogen, mich der Strafe des Gesetzes zu stellen, statt meine Familie im Stich zu lassen“, erwiderte der Prophet.35
Bei dem Versuch, die Namen von Männern herauszufinden, die auch nach dem Manifest noch weitere Ehefrauen geheiratet hatten, fragten die Senatoren ihn nach den Ehen der Apostel und einiger anderer Mitglieder. Der Vorsitzende fragte Präsident Smith auch, ob er selbst nach dem Manifest irgendwelche Mehrehen geschlossen habe.
„Nein, das habe ich nicht“, antwortete der Prophet. Dann folgte eine sorgfältig formulierte Erklärung, die darauf ausgelegt war, weitere Nachfragen zu verhindern. „Es gibt keine Mehrehen, die von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und mit deren Zustimmung oder Wissen geschlossen wurden“, erklärte er.
„Seit dem Manifest?“, fragte ein Senator.
„Das meine ich natürlich“, stellte Präsident Smith klar. Mit dieser Aussage leugnete er nicht, dass es nach dem Manifest weitere Mehrehen gegeben habe. Aber er machte einen feinen Unterschied zwischen einem Vorgehen, das von der Kirche und ihren Ratsgremien gebilligt wurde, und dem, wofür sich einzelne Mitglieder aus Gewissensgründen entschieden hatten. Die Heiligen hatten das Manifest von 1890 in der Tat bestätigt, folglich waren die von Führern der Kirche geschlossenen Mehrehen ohne Zustimmung der Kirche als Ganzes durchgeführt worden.
„Wenn ein Apostel der Kirche eine solche Zeremonie durchgeführt hätte“, fragte ein anderer Senator, „wäre das Ihrer Ansicht nach mit der Vollmacht Ihrer Kirche geschehen?“
„Würde ein Apostel oder sonst ein Mann, der von sich sagt, dass er Vollmacht habe, so etwas tun“, entgegnete Präsident Smith, „würde er nicht nur nach dem staatlichen Gesetz strafrechtlich belangt und zu einer hohen Geld- und Haftstrafe verurteilt werden, sondern er würde auch von den zuständigen Instanzen der Kirche zur Rechenschaft gezogen und aus der Kirche ausgeschlossen.“36
Nach Beendigung seiner Zeugenaussage, die insgesamt fünf Tage dauerte, hatte Präsident Smith das Gefühl, dass er auf dem Zeugenstuhl der göttlichen Führung gefolgt war. „Ich glaube fest daran, dass der Herr das Beste getan hat, was er mit dem Werkzeug, das er in Händen hatte, zu tun vermochte“, erklärte er.37
Dennoch löste seine Aussage, als sie in den Zeitungen veröffentlicht wurde, einen öffentlichen Aufschrei aus. Die Menschen in den Vereinigten Staaten waren schockiert, als sie erfuhren, dass Präsident Smith immer noch mit seinen fünf Ehefrauen zusammenlebte. Sie zweifelten auch an seiner Glaubwürdigkeit und Aufrichtigkeit als Zeuge und bezeichneten die Führer der Kirche als Lügner und Gesetzesbrecher.38
Der Sekretär der Ersten Präsidentschaft vertraute einem Bekannten an: „Eine Lawine wenig schmeichelhafter öffentlicher Aussagen rollt gerade über uns als Gemeinschaft hinweg, und das Einzige, was wir im Moment tun können, ist, den Mantelkragen hochzuschlagen, dem Sturm den Rücken zuzukehren und alles geduldig durchzustehen.“39
Während in Washington die Anhörung durch den Senatsausschuss fortgesetzt wurde, kehrte der Prophet nach Salt Lake City zurück, wo er Schritte unternehmen wollte, um das Vertrauen in ihn und die Kirche wiederherzustellen. Er hatte dem Ausschuss versichert, dass die Kirche jene Heiligen zur Rechenschaft ziehen werde, die sich über das Manifest hinwegsetzten und neue Mehrehen schlossen. Nun musste er dem Senat einen überzeugenden Beweis dafür liefern, dass es ihm und den Heiligen ernst damit war, neue Mehrehen zu verhindern.40
Am 6. April 1904, dem letzten Tag der Generalkonferenz, stand er am Pult des Tabernakels und verlas eine neue amtliche Erklärung zur Mehrehe in der Kirche. „Da zahlreiche Berichte im Umlauf sind, dass entgegen der amtlichen Erklärung von Präsident Woodruff noch immer Mehrehen geschlossen werden“, sagte er, „erkläre ich hiermit, dass solche Ehen verboten sind.“
In der Erklärung wurden weder die etwa zweihundert Paare verurteilt, die nach dem Manifest eine Mehrehe eingegangen waren, noch wurden diejenigen getadelt, die seitdem weiterhin mit ihren Familien in Mehrehe zusammenlebten. Die Erklärung legte jedoch fest, dass jedwede neue Mehrehe von nun an verboten war, auch außerhalb der Vereinigten Staaten. „Wenn ein Beamter oder ein Mitglied der Kirche sich anmaßt, solch eine Ehe zu schließen oder einzugehen, wird ihm das als Übertretung gegen die Kirche angelastet“, verkündete Präsident Smith, „und mit ihm wird gemäß den Richtlinien und Anweisungen der Kirche verfahren, und er wird aus der Kirche ausgeschlossen.“41
Nach dem Verlesen der Erklärung, die das zweite Manifest genannt wurde, forderte Präsident Smith die Heiligen auf, diese neue Erklärung geschlossen zu unterstützen und somit das Vertrauen der Regierung in die Heiligen wiederherzustellen. Im ursprünglichen Manifest war offenbart worden, dass die Kirche nicht mehr dem Gebot unterstand, die Mehrehe zu praktizieren, wohingegen ab dem Zeitpunkt dieser neuen Erklärung an neue Mehrehen verhindert werden sollten.42 Präsident Smith hoffte, dass dies dem Vorwurf ein Ende setzen würde, die Mitglieder seien keine gesetzestreuen Bürger.
„Ich möchte heute sehen“, sagte er, „ob die Heiligen der Letzten Tage, die in dieser feierlichen Versammlung die Kirche vertreten, diese Vorwürfe nicht durch ihr Abstimmungsverhalten widerlegen werden.“
Alle Heiligen im Tabernakel zeigten geschlossen mit erhobenem Arm, dass sie seine Worte annahmen und unterstützten.43