Kapitel 32
Brüder und Schwestern
An einem kühlen Sonntagabend im August 1946 waren Ezra Taft Benson und seine beiden Mitreisenden in einem Militärjeep durch die geradezu unheimlich ruhigen Straßen von Zełwągi in Polen unterwegs. Holprige Straßen und heftige Regenfälle hatten den Reisenden den ganzen Tag lang übel mitgespielt, doch als sich die Männer ihrem Ziel näherten, besserte sich endlich das raue Wetter.
Zełwągi hatte früher zu Deutschland gehört und hatte Selbongen geheißen. Nach dem Krieg hatten sich allerdings viele Landesgrenzen verschoben, und ein Großteil Mittel- und Osteuropas war unter den Einfluss der Sowjetunion geraten. Im Jahr 1929 hatte der blühende Zweig Selbongen das erste Gemeindehaus der Heiligen der Letzten Tage in Deutschland errichtet. Doch nach sechs Jahren Krieg hatten die Heiligen dort nun kaum genug zum Überleben.1
Elder Benson war eigens aus den Vereinigten Staaten gekommen, um in der gesamten Europäischen Mission die Verteilung von Hilfsgütern durch die Kirche zu beaufsichtigen. Er gehörte erst seit weniger als drei Jahren dem Kollegium der Zwölf Apostel an, doch er hatte umfangreiche Erfahrung in Führungsämtern in der Kirche und in der Politik. Mit seinen siebenundvierzig Jahren war er jung und kräftig genug, um die anstrengenden Fahrten durch mehrere europäische Länder zu bewältigen.2
Aber auf das Fürchterliche, was ihn jetzt umgab, hatte ihn all seine Erfahrung doch nicht vorbereitet. In Europa hatte er von London bis Frankfurt und von Wien bis Stockholm nur die Trümmer des Krieges vor Augen.3 Er konnte aber auch sehen, wie sich die europäischen Heiligen zusammenschlossen und einander dabei unterstützten, in ihrer Heimat wieder die Kirche aufzubauen. Bei einem Besuch im Missionsheim in Berlin war er beeindruckt gewesen von den Bergen an genealogischen Aufzeichnungen, die Paul Langheinrich und andere geborgen hatten, während sie ja zugleich damit befasst waren, die mehr als tausend Heiligen in ihrer Obhut mit Nahrung, Kleidung, Brennmaterial und einem Dach über dem Kopf zu versorgen.4
Zudem sah er, was die Hilfe der Kirche in ganz Westeuropa bewirkte. Unter Belle Spafford, der neu berufenen Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, hatten die Frauen in den Gemeinden und Pfählen in den Vereinigten Staaten sowie in Kanada und Mexiko gemeinsam große Anstrengungen unternommen, um Kleidung, Bettzeug und Seife für die europäischen Mitglieder zu sammeln.5 Eine Frauenhilfsvereinigung aus Hamilton im kanadischen Ontario spendete ein ganzes Bündel an Kinderpullovern, Anzügen und Unterwäsche, die allesamt aus ausgemusterten Stoffen und Wolle einer Kleiderfabrik angefertigt worden waren. Eine Frauenhilfsvereinigung in Los Angeles nähte mehr als zwölfhundert Kleidungsstücke und leistete zudem fast viertausend Stunden ehrenamtlicher Arbeit für das Rote Kreuz.6
Doch in weiten Teilen Deutschlands und in osteuropäischen Ländern wie Polen, wo die von der Sowjetunion gelenkten Regierungen jegliche westliche Hilfe ablehnten, entbehrten die Heiligen weiterhin selbst das Allernötigste.7 Allein die Tatsache, dass Elder Benson nun überhaupt in Polen war, grenzte an ein Wunder. Da ja keine Telefonleitungen funktionierten, hatten er und seine Mitarbeiter Mühe, Beamte zu kontaktieren, die ihnen bei der Beschaffung von Einreisepapieren behilflich sein konnten. Erst nach viel Gebet und wiederholter Vorsprache bei der polnischen Regierung gelang es dem Apostel, die notwendigen Visa zu erhalten.8
Als sich der Jeep dem alten Gemeindehaus in Zełwągi näherte, verschwanden die meisten Menschen flugs von der Straße und versteckten sich. Elder Benson und seine Begleiter hielten vor dem Gebäude an und stiegen aus dem Wagen. Sie stellten sich einer Frau in der Nähe vor und fragten, ob dies das Gemeindehaus der Heiligen der Letzten Tage sei. Vor Erleichterung kamen der Frau die Tränen. „Die Brüder sind da!“, rief sie auf Deutsch.
Sofort kamen hinter zuvor verschlossenen Türen Menschen hervor und weinten und lachten vor Freude. Drei Jahre lang hatten die Heiligen in Zełwągi keinerlei Kontakt zu den Führern der Kirche gehabt, und an diesem Vormittag hatten viele Mitglieder gefastet und gebetet, dass sie endlich ein Missionar oder ein Führer der Kirche besuchen kommen würde.9 Innerhalb weniger Stunden strömten etwa hundert Heilige herbei, die den Apostel sprechen hören wollten.
Viele Männer aus dem Zweig waren gefallen oder als Kriegsgefangene deportiert worden, und die verbliebenen Heiligen hatten den Lebensmut verloren. Seit Kriegsende hatten sowohl sowjetische als auch polnische Soldaten hin und wieder die Stadt terrorisiert, Häuser geplündert und sich an den Bewohnern vergriffen. Die Lebensmittel waren rationiert, und für das, was auf dem Schwarzmarkt zu bekommen war, musste man häufig unverschämt hohe Preise bezahlen.10
Als Elder Benson am Abend zu den Heiligen sprach, betraten zwei bewaffnete polnische Soldaten das Gemeindehaus. Die Gemeinde erstarrte vor Angst, doch der Apostel deutete den Soldaten, sie sollten sich doch ganz vorne hinsetzen. In seiner Rede betonte er die Wichtigkeit der Freiheit. Die Soldaten hörten aufmerksam zu, blieben bis zum Schlusslied und verließen die Kapelle sodann ohne weitere Zwischenfälle. Danach führte Elder Benson ein Gespräch mit dem Zweigpräsidenten, ließ Lebensmittel und Geld für die Heiligen da und sicherte ihnen zu, dass weitere Hilfslieferungen unterwegs seien.11
Bald darauf schrieb Elder Benson an die Erste Präsidentschaft. Es sei schön zu sehen, dass die Hilfsmaßnahmen der Kirche die Mitglieder in Europa erreichten, aber er mache sich dennoch Sorgen, denn die Heiligen steckten noch in großen Schwierigkeiten.
„Der umfassende Nutzen des Wohlfahrtsprogramms der Kirche für diese und weitere Heilige in Europa wird vielleicht nie zur Gänze bekannt“, schrieb er, „doch zweifellos sind dadurch viele Menschenleben bewahrt worden, und der Glaube und Lebensmut vieler treuer Mitglieder wurde immens gestärkt.“12
Etwa zur gleichen Zeit wachte die achtzehnjährige Emmy Cziep in Österreich um fünf Uhr dreißig auf, frühstückte eine Scheibe Schwarzbrot und machte sich dann zu Fuß auf den einstündigen Weg zum Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Sieben Jahre waren seit jener schlimmen Bahnfahrt aus der Tschechoslowakei schon vergangen, und nun machte sie gerade eine Ausbildung zur Röntgentechnikerin. Da Wien, wie auch Berlin, von den Alliierten besetzt war, kam Emmy auf ihrem Weg zum Krankenhaus oft an sowjetischen Soldaten vorbei. Medizinisches Personal wurde jedoch im Allgemeinen mit Respekt behandelt, und Emmy ging davon aus, dass ihr die Armbinde des Roten Kreuzes, die sie trug, Schutz vor jeglicher Belästigung bot.13
Wien war im Krieg Schauplatz von allerhand Übergriffen und Gewalttaten gewesen, dennoch hatten Emmys Eltern Alois und Hermine weiterhin die Versammlungen des Zweiges und der Frauenhilfsvereinigung geleitet. Alois war nun als Distriktspräsident für die fünf Zweige der Kirche in Österreich zuständig, und er und Hermine setzten sich tatkräftig für ihre Glaubensbrüder- und schwestern ein. Die meisten Wiener waren – so wie Emmy – von den Schrecken des Krieges traumatisiert und dem Verhungern nahe. Emmys Bruder Josef war eine Zeit lang bei der Wehrmacht gewesen, kam nach dem Krieg in Gefangenschaft und wurde von sowjetischen Soldaten gefoltert.14
Emmys Ausbildung im Krankenhaus bot ihrem Alltag wenigstens einen Hoffnungsschimmer. Ein weiterer Lichtblick war der kürzlich erfolgte Besuch von Elder Benson in Wien gewesen, der den Heiligen in Österreich so dringend benötigten Auftrieb gegeben hatte. Emmys Familie hatte die Ehre gehabt, Elder Benson bei sich daheim übernachten zu lassen. Am Abend hatte der Apostel Emmy gebeten, ein paar Kirchenlieder auf dem Klavier zu spielen, und seine Gegenwart hatte sie sehr aufgemuntert.15
Einige Monate nach Elder Bensons Besuch trafen dann auch die Hilfslieferungen der Kirche in Österreich ein, und ab 1947 beaufsichtigte Alois die Verteilung von hunderten Kisten mit Kleidung, Weizenschrot, Bohnen, Erbsen, Zucker, Öl, Vitaminen und weiteren Gütern des täglichen Bedarfs. Emmy selbst erhielt unter anderem wunderhübsche Kleider, an die die Geberinnen extra noch Zettelchen mit ein paar lieben Worten geheftet hatten.16
Auch anderswo in Europa halfen sich die Heiligen der Letzten Tage gegenseitig. In Finnland, das Elder Benson erst vor kurzem für die Missionsarbeit geweiht hatte, gab es drei Zweige der Kirche. Als die Mitglieder im benachbarten Schweden erfuhren, dass diese Zweige Not litten, schickten sie Kisten mit Lebensmitteln, Kleidung und Bettzeug.17
Einige wenige Tage vor Emmys Abschlussprüfung im Krankenhaus bat ihr Vater sie um ihre Mithilfe bei einem Kindertransport. Viele österreichische Kinder waren unterernährt und brauchten medizinische Betreuung, wie sie in Wien damals kaum zu bekommen war. In der Schweiz, die sich ja als neutraler Staat aus dem Krieg herausgehalten hatte, verfügten die Mitglieder indes über mehr Mittel. Sie boten daher an, einige kleinere Kinder der Heiligen der Letzten Tage aus Österreich drei Monate lang bei sich aufzunehmen und wieder aufzupäppeln.
Alois hatte also eine Gruppe von einundzwanzig Kindern zusammengestellt, die solcherart Fürsorge brauchten, und er bat Emmy, ihn dabei zu unterstützen, die Kinder in die Schweiz zu bringen. Emmy war gern dazu bereit, denn sie wusste ja, dass sie nur wenige Tage weg sein und rechtzeitig zur Abschlussprüfung wieder in Wien sein werde.
Der Zug in die Schweiz war so überfüllt, dass ein paar Kinder auf dem Boden oder im Gepäckaufbewahrungsteil oberhalb der Sitze hocken mussten. Und als es dann auch noch zu regnen begann, konnte der Pappkarton, der notdürftig vor die Fenster geklebt war, kaum verhindern, dass Wasser in die Zugabteile drang. Viele Kinder fühlten sich überhaupt nicht wohl und vermissten ihre Eltern. Also versuchte Emmy nach Kräften, sie zu beruhigen.
Nach einer langen Nacht mit wenig Schlaf kamen Emmy, ihr Vater und die Kinder schließlich in Basel an. Der Missionspräsident Scott Taggart und seine Frau Nida erwarteten die Gruppe schon – ebenso Schwestern der Frauenhilfsvereinigung, die den Jungen und Mädchen sogleich Orangen und Bananen in die Hand drückten.
Am nächsten Tag holten die Schweizer Familien die Kinder zu sich, und Emmy verabschiedete sich.18 Doch noch bevor sie nach Wien zurückkehren konnte, forderte Präsident Taggart Emmy auf, als Missionarin in Basel zu bleiben. „Der Herr braucht dich hier“, erklärte er.
Emmy verschlug es die Sprache. Eine Mission hatte sie bislang nie in Betracht gezogen. Und was war mit ihrer Abschlussprüfung am Röntgeninstitut? Wenn sie bliebe, könnte sie weder ihre Ausbildung abschließen noch sich von ihren Lieben zuhause verabschieden. In der Schweiz wäre sie von Fremden umgeben, die die Bombenangriffe, den Hunger, das Herzeleid und den Tod miterlebt hatten. Würden die Schweizer sie denn überhaupt verstehen?
Trotz all dieser Bedenken spürte Emmy im Herzen schon, wie die Antwort an Präsident Taggart lauten solle. „Wenn der Herr will, dass ich bleibe“, meinte sie, „so bleibe ich.“
An jenem Abend, etwa einen Monat vor ihrem neunzehnten Geburtstag, wurde Emmy Cziep als Missionarin der Schweizerisch-Österreichischen Mission eingesetzt.19
Im Frühjahr 1947, also etwa anderthalb Jahre nach dem Wiedersehen mit ihrem Vater, war Helga Birth nicht mehr in Berlin als Missionarin tätig. Und sie hieß auch nicht mehr Birth. Sie war jetzt Helga Meyer, die Frau eines deutschen Mitglieds namens Kurt Meyer. Das Paar wohnte in Cammin, einer Ortschaft etwa hundertdreißig Kilometer nördlich von Berlin. Die beiden hatten einen kleinen Jungen, den sie nach Helgas im Krieg gefallenen Bruder Siegfried nannten.
Helga hatte Kurt Anfang 1946 kennengelernt, als er das Missionsheim der Ostdeutschen Mission besuchte. Als Soldat der deutschen Wehrmacht hatte er bei seiner Rückkehr nach Kriegsende erfahren müssen, dass sich seine Eltern aus Angst davor, gefangen genommen oder gar umgebracht zu werden, ertränkt hatten, als die Rote Armee in seine Heimatstadt eingezogen war.20
Als Kurt dem Missionsheim einen Besuch abstattete, war er zwar nicht aktiv in der Kirche, doch er wollte es gerne wieder werden. Es dauerte nicht lange, bis er Helga einen Heiratsantrag machte.
Helga wusste nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. Nach dem Tod Gerhards, ihres ersten Mannes, war sie immer wieder gefragt worden, ob sie denn nicht wieder heiraten wolle. Sie war jedoch keineswegs erpicht darauf, sich Hals über Kopf in eine neue Ehe zu stürzen. Sie war nicht in Kurt verliebt und ihr lag auch nicht viel daran, in seine Heimatstadt Cammin ziehen, wo sie mit dem Zug fahren musste, um zur Kirche zu kommen. Sie spielte mit dem Gedanken, nach Utah auszuwandern.
Andererseits hielt es sie noch in Deutschland – zumindest wollte sie bleiben, bis sie und ihr Vater ihre Mutter wiedergefunden hätten. Die Heirat mit Kurt würde es ihr ermöglichen, in Deutschland zu bleiben und ein halbwegs gesichertes Leben zu führen. Kurt besaß ja ein Haus in Cammin, das unweit eines Fischweihers lag. Heiratete sie ihn, würde es weder ihr noch ihrem Vater an einem Dach über dem Kopf und genügend Essen mangeln.21
Da Helga kaum eine andere Wahl blieb, nahm sie also Kurts Heiratsantrag und die damit verbundene Sicherheit an. Die beiden heirateten im April 1946, und annähernd ein Jahr später kam ihr Sohn zur Welt.
Im Frühsommer 1947 erhielten Helga und ihr Vater endlich die Nachricht, dass ihre Mutter noch am Leben war. Nach der Vertreibung aus Tilsit war Bertha Meiszus der Gefangennahme durch die vorrückenden sowjetischen Truppen dadurch entgangen, dass sie tagelang zu Fuß gewandert war, bis sie, halb erfroren, auf ein Boot traf, das sie in ein Flüchtlingslager in Dänemark brachte. Erst nach zwei Jahren konnte sie endlich Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen. Bald lebte auch sie in Cammin.22
Damals standen auch einmal Soldaten der Sowjetarmee vor Helgas Tür. Da der Fischteich ja in der Nähe war, kamen jede Woche ein bis zwei Mal Soldaten bei ihr vorbei und verlangten frische Fische. Die Soldaten waren für ihre Rohheit bekannt, und Helga hatte schon von Vergewaltigungen und anderen Gewalttaten in Cammin gehört. Wenn sie nur das Fahrzeug der Soldaten vorfahren hörte, hatte sie schon Angst.23
Wie gewöhnlich ließ Helga die Soldaten auch diesmal herein. Sie hatten Wodka dabei, und der Befehlshaber war eindeutig betrunken. Er nahm an ihrem Tisch Platz und sagte: „Frau – kommen und sitzen!“ Auch Kurt musste sich auf Befehl der Soldaten zu ihnen setzen, doch dann ließen sie ihn weitgehend links liegen.
Helga setzte sich also neben den Kommandanten, und der bot ihr Wodka an.
„Ich trinke keinen Alkohol“, lehnte Helga ab.
„Sie muss aber“, drängte sein deutscher Fahrer mit herzloser Miene.
Helga hatte furchtbare Angst. Betrunkene konnten ja unberechenbar sein. Dennoch lehnte sie abermals ab und sagte: „Nein, ich trinke nicht.“
„Du nicht trinken“, drohte der Kommandant, „dann ich dich erschießen!“
„Bitte“, sagte Helga und streckte die Arme weit aus, „dann schießen Sie eben!“
Ein paar Sekunden verstrichen. „Du irgendeine Religion?“, wollte der Kommandant wissen.
„Ich bin Mormonin“, entgegnete Helga.
Daraufhin hörten der Kommandant und seine Soldaten auf, sie zu bedrängen. Als der Kommandant das nächste Mal bei ihr vorsprach, klopfte er ihr auf die Schulter und nannte sie eine „gute Frau“, doch er drängte sie nicht mehr, sich zu ihnen zu setzen. Offenbar bewunderte er ihre Entschlossenheit und achtete sie dafür, dass sie zu ihrem Glauben gestanden hatte.
Schon bald waren sie und die Soldaten recht gute Freunde.24
Ein paar Monate später, im Juli 1947, kamen in Haag am Hausruck, einer Stadt gut zweihundert Kilometer westlich von Wien, Heilige aus ganz Österreich zusammen. Da sich im Juli die Ankunft der Pioniere im Salzseetal zum hundertsten Mal jährte, wollte Distriktspräsident Alois Cziep, dass auch die österreichischen Heiligen – wie auch andere Mitglieder in aller Welt – zu diesem Anlass eine Feier abhielten. Haag am Hausruck lag in der Nähe jenes Ortes, an dem 1902 der erste Zweig der Kirche in Österreich gegründet worden war, und bot für eine derartige Feier den idealen Rahmen.
Mehr als 180 Heilige erschienen denn auch tatsächlich – zu viele, als dass sie im Gemeindehaus des Zweiges Platz gefunden hätten. Die Führer der Kirche mieteten daher einen Saal in einem Hotel und errichteten dort eine provisorische Bühne. Die Feierlichkeiten dauerten insgesamt drei Tage. Es gab Ansprachen, musikalische Darbietungen und ein Theaterstück, bei dem Szenen aus den Anfängen der Geschichte der Kirche sowie der Einzug der Pioniere in das Salzseetal dargestellt wurden.
Am Sonntag versammelten sich die Mitglieder in einem Steinbruch, wo sie eigens für die Redner ein Podium errichtet und zur Gesangsbegleitung sogar eine Orgel aufstellt hatten. Auf einem Felsvorsprung hinter dem Podium stand eine mehr als zwei Meter hohe Nachbildung des Salt-Lake-Tempels. Kurt Hirschmann aus dem Zweig Frankenburg hatte in mehrmonatiger Arbeit diese komplizierte Nachbildung aus Pappkartons gebaut, in denen ursprünglich die Hilfslieferungen aus Salt Lake City verpackt gewesen waren.
Weder Alois noch die meisten anderen anwesenden Heiligen waren je in einem Tempel gewesen. Nach all den Kriegswirren und da ja der nächste Tempel tausende Kilometer entfernt war, konnten sich die Mitglieder in Europa höchstens vorstellen, wie es sein mochte, das Endowment zu empfangen und an die eigene Familie gesiegelt zu werden. Doch dies hielt Alois nicht davon ab, die Bedeutung der Tempelbündnisse zu erkennen und den Heiligen Geist zu verspüren, als die Heiligen dort Ansprachen hielten, Lieder sangen und Zeugnis gaben.25
Bei Einbruch der Dunkelheit zündete die Gruppe ein Lagerfeuer an, das die Tempeltürme aus Pappe in ein warmes, flackerndes Licht tauchte. Am Ende der Versammlung sprach Alois über den Glauben der ersten Missionare, die nach Österreich gekommen waren, und verglich sie mit den Pionieren aus dem Jahr 1847. „Wie dankbar müssen wir doch für das Evangelium, das Priestertum und all die großartigen Möglichkeiten in dieser Kirche sein, durch die wir unsere Errettung erarbeiten und sogar in die Erhöhung eingehen können“, bekräftigte er.
Gegen Ende der Versammlung, als der Schein des Lagerfeuers bereits erloschen war, schwang sich ein amerikanischer Soldat, der der Kirche angehörte, in seinen Jeep und schaltete die Scheinwerfer ein, die den Tempel vor dem Hintergrund des Nachthimmels erneut beleuchteten.
Die österreichischen Heiligen stimmten sodann gemeinsam das Pionierlied „Kommt, Heilge, kommt“ an:
Die Lenden schürzt, fasst frischen Mut,
wir stehn in Gottes treuer Hut!
In Wahrheit bald es heißen soll:
Alles wohl, alles wohl!
Inmitten seiner Brüder und Schwestern im Evangelium war sich Alois sicher, dass dieses Lied niemals mit größerer Überzeugung gesungen worden war.26
Während Heilige in aller Welt die Einhundertjahrfeier der Ankunft der Pioniere begingen, diente der ehemalige Kriegsgefangene Pieter Vlam als Vollzeitmissionar in der Niederländischen Mission. Seine neue Berufung hatte es mit sich gebracht, dass Pieter derzeit etwa fünfzig Kilometer von seinem Zuhause entfernt wohnte und den Zweig in Amsterdam leitete. Seine Frau Hanna und die drei Kinder wohnten derweil weiterhin an ihrem Heimatort.
Der Zweig Amsterdam hatte unter der NS-Besatzung schrecklich gelitten. Kurz vor der Befreiung waren die Einwohner der Stadt bereits nahe am Verhungern gewesen. Wäre da nicht Pieters Vorgänger Ruurd Hut gewesen, wären viele Mitglieder des Zweiges schlichtweg an Hunger gestorben. Ruurd hatte sich geschworen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, die ihm anvertrauten Heiligen am Leben zu erhalten. Er hatte von den Mitgliedern des Zweiges Geld gesammelt und Lebensmittel gekauft, die die Schwestern der Frauenhilfsvereinigung dann verkochten und unter den darbenden Heiligen verteilten.27
Nach fünf Jahren Besatzung befanden sich die Niederlande insgesamt in einem beklagenswerten Zustand. Mehr als zweihunderttausend Niederländer hatten im Krieg das Leben verloren, und hunderttausende Häuser waren beschädigt worden oder lagen in Trümmern. Viele Heilige in Amsterdam sowie weiteren Städten empfanden Groll den Deutschen gegenüber – und ebenso auch jenen Mitgliedern gegenüber, die mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet hatten.28
Um die Heiligen wieder mehr zusammenzubringen, rief Missionspräsident Cornelius Zappey die Zweige dazu auf, ihre Lebensmittelvorräte aufzustocken und zu diesem Zweck Kartoffeln anzubauen mit Saatkartoffeln, die die niederländische Regierung ausgab.29 Pieter und sein Zweig pachteten daher alsbald ein Grundstück in Amsterdam, wo Männer, Frauen und Kinder gemeinsam darangingen, Kartoffeln sowie sonstiges Gemüse anzubauen. Weitere Zweige in den Niederlanden legten ebenfalls Kartoffelbeete an, wo immer sich dafür Platz fand, und so wuchsen denn Kartoffeln in Hinterhöfen, in Blumenbeeten, auf unbebauten Grundstücken und selbst am Straßenrand.30
Kurz vor der Erntezeit hielt Cornelius in Rotterdam eine Missionskonferenz ab. Aus einem Gespräch mit Walter Stover, dem Präsidenten der Ostdeutschen Mission, war Cornelius bekannt, dass auch viele Mitglieder in Deutschland kaum etwas zu essen hatten. Er wollte etwas tun, um dem Mangel abzuhelfen, und fragte daher die Führer vor Ort, ob sie bereit seien, einen Teil ihrer Kartoffeln an die Heiligen in Deutschland abzugeben.
„Ich weiß, einige der erbittertsten Feinde, denen ihr im Krieg gegenübergestanden habt, waren die Deutschen“, räumte er ein. „Aber ihnen geht es jetzt viel schlechter als euch.“
Zunächst lehnten einige niederländische Mitglieder den Plan ab. Wieso sollten sie denn ihre Kartoffeln mit den Deutschen teilen? Sie waren der Ansicht, Cornelius verstehe wohl nicht, was ihnen die Deutschen im Krieg alles angetan hatten. Ihr Missionspräsident war zwar in den Niederlanden geboren worden, hatte aber doch die meiste Zeit seines Lebens in den Vereinigten Staaten verbracht. Er konnte daher offenbar nicht nachvollziehen, wie es war, durch deutsche Bomben das Zuhause zu verlieren oder zuzusehen, wie nahe Angehörige verhungerten, weil die deutschen Besatzer ihnen alle Lebensmittel weggenommen hatten.31
Cornelius war jedoch nach wie vor der Ansicht, der Herr erwarte, dass die niederländischen Heiligen den Deutschen halfen, und so bat er Pieter, in ganz Holland die Zweige zu besuchen und die Mitglieder aufzufordern, diesen Plan zu unterstützen. Pieter war immerhin ein langjähriger Führer der Kirche, dessen ungerechtfertigte Lagerhaft allseits bekannt war. Wenn die niederländischen Heiligen jemanden in der Mission liebten und ihm vertrauten, dann war es Pieter Vlam.
Pieter erklärte sich bereit, den Missionspräsidenten bei diesem Vorhaben zu unterstützen, und kam in allen Zweigen immer wieder auf seine Kriegsgefangenschaft zu sprechen. „Das alles habe ich durchgemacht“, bestätigte er, „und ihr wisst das.“ Er drängte sie, den Deutschen zu vergeben. „Ich weiß, wie schwer es fällt, sie zu lieben“, bekannte er. „Doch wenn dies unsere Brüder und Schwestern sind, dann müssen wir sie auch wie Brüder und Schwestern behandeln.“
Seine Worte und die anderer Zweigpräsidenten berührten das Herz der Heiligen, und bei vielen verflog der Groll, während sie nun für die deutschen Mitglieder Kartoffeln ernteten. Die unterschiedlichen Anschauungen innerhalb der Zweige lösten sich nicht in Luft auf, doch zumindest wussten die Heiligen nun, dass sie weiterhin zusammenarbeiten und vorwärtsgehen konnten.32
Cornelius bemühte sich unterdessen, für die Kartoffellieferungen eine Transportgenehmigung nach Deutschland zu erhalten. Anfangs wollte die niederländische Regierung keine Genehmigung für die Ausfuhr von Lebensmitteln erteilen. Aber Cornelius gab nicht auf, bis die Beamten schließlich einlenkten. Und als einige Beamte den Transport zu unterbinden suchten, sagte Cornelius ganz offen zu ihnen: „Diese Kartoffeln gehören unserem Herrn und Heiland, und wenn es sein Wille ist, dann wird er auch dafür sorgen, dass sie nach Deutschland gelangen.“
Zu guter Letzt kamen im November 1947 etliche niederländische Mitglieder und Missionare in Den Haag zusammen und beluden zehn Lastwagen mit insgesamt knapp siebzig Tonnen Kartoffeln. Bereits wenig später wurden die Kartoffeln an die Heiligen in Deutschland ausgeteilt. Walter Stover, der Präsident der Ostdeutschen Mission, kaufte zur Versorgung der Heiligen noch zusätzliche Wagenladungen an Kartoffeln.33
Das Kartoffelprojekt kam denn auch bald der Ersten Präsidentschaft zu Ohren. David O. McKay, der Zweite Ratgeber, nannte dies staunend „eine der größten wahrhaft christlichen Taten, die mir je zu Ohren gekommen ist“.34