Kapitel 31
Auf dem richtigen Weg
Als auf der Generalkonferenz am Nachmittag des 7. Oktober 1945 George Albert Smith ans Podium trat, herrschte im Tabernakel in Salt Lake City absolute Stille. Im Laufe seiner vierzig Jahre als Apostel hatte George Albert Smith viele Male im Tabernakel gesprochen, doch bei dieser Konferenz richtete er das erste Mal als Prophet des Herrn das Wort an die gesamte Kirche.
Soeben war er von der Weihung des Idaho-Falls-Tempels im Südosten Idahos zurückgekehrt. Solche Meilensteine bewiesen den Mitgliedern immer wieder, dass das Werk der Letzten Tage voranschritt. Doch war ihm bewusst, wie sehr die Heiligen in aller Welt nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren zu leiden hatten und dass sie nun um Führung und Trost zu ihm aufblickten.
„Schon lange hätte sich die Welt viel Kummer ersparen können“, legte Präsident Smith den Zuhörern dar, „hätten die Menschenkinder den Rat dessen angenommen, der für sie alles hingegeben hat.“ Er erinnerte die Heiligen an die Aufforderung des Erretters, den Nächsten zu lieben und ihren Feinden zu vergeben. „Dies ist der Geist des Erlösers“, bekräftigte er, „um den sich alle Heiligen der Letzten Tage bemühen müssen, wenn sie hoffen, eines Tages in der Gegenwart des Herrn zu stehen und von ihm auf herrliche Weise willkommen geheißen zu werden.“1
Präsident Smith war den Mitgliedern als freundliche, friedliebende Führungspersönlichkeit bekannt. Als junger Mann hatte er sich ein persönliches Glaubensbekenntnis zugelegt, nach dem er sein Leben ausrichten wollte. „Ich möchte die Menschen nicht zwingen, nach meinen Idealen zu leben, sondern sie vielmehr so lieben, dass sie schließlich das tun, was recht ist“, hatte er sich vorgenommen. „Ich möchte nicht absichtlich die Gefühle eines Menschen verletzten, nicht einmal, wenn er mir vielleicht Unrecht getan hat, sondern will ihm Gutes tun und ihn mir zum Freund machen.“2
Präsident Smith war es mit Blick auf die Zukunft nun ein besonderes Anliegen, die Heiligen aufzurichten, deren Leben durch den Krieg zerrüttet worden war. Bereits Monate zuvor hatte er das Wohlfahrtskomitee der Kirche gebeten, einen Plan zu erstellen, wie Lebensmittel und Kleidung nach Europa geschickt werden könnten. Kurz nach der Oktoberkonferenz beriet er nun mit mehreren Aposteln, wie sich die Güter so rasch wie möglich versenden ließen.3
Hilfsgüter nach Europa zu verschiffen war allerdings kein einfaches Unterfangen. Die Kirche benötigte die Absprache mit der Regierung der Vereinigten Staaten, um die Hilfsmaßnahmen mit den unterschiedlichen Ländern zu koordinieren. Um alles im Einzelnen festlegen zu können, begab sich Präsident Smith mit einer kleinen Gruppe von Führen der Kirche nach Washington.4
An einem bewölkten Morgen Anfang November kamen sie in der Hauptstadt an. Zu den zahlreichen Treffen mit Vertretern der Regierung und Botschaftern europäischer Länder zählte auch ein Termin mit Harry S. Truman, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Präsident Truman empfing die Delegation der Kirche freundlich, wies jedoch darauf hin, dass es aus finanzieller Sicht keineswegs sinnvoll sei, Lebensmittel und Kleidung nach Europa zu schicken, wo doch die Wirtschaft dort so darniederliege und die Währungen nicht stabil seien. „Das Geld dort ist ja so gut wie nichts wert“, meinte er.5
Der Prophet erklärte, die Kirche wolle gar nicht bezahlt werden. „Unsere Mitglieder drüben brauchen Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs“, erklärte er. „Wir wollen ihnen helfen, ehe der Winter beginnt.“6
„Wie lange brauchen Sie, um die Sachen bereitzustellen?“, erkundigte sich Präsident Truman.
„Alles steht derzeit schon bereit“, erwiderte der Prophet und schilderte, welche Vorräte an Lebensmitteln und sonstigen Bedarfsgütern die Heiligen bereits zusammengetragen hatten – zusätzlich zu den über zweitausend Steppdecken, die die Frauenhilfsvereinigungen in den Kriegsjahren genäht hatten. Die Kirche brauche lediglich Hilfe, um die Sachen nach Europa zu schaffen.
„Sie sind auf dem richtigen Weg“, bekräftigte Präsident Truman, sichtlich verblüfft wegen der bereits getroffenen Maßnahmen der Heiligen. „Wir unterstützen Sie gern nach besten Kräften.“7
Bevor sich Präsident Smith zum Gehen wandte, sagte er Präsident Truman noch, dass die Heiligen für ihn beteten. Der Prophet überreichte ihm auch ein in Leder gebundenes Exemplar des Buches Eine Stimme der Warnung, das Apostel Parley P. Pratt im Jahre 1837 zur Evangeliumsverkündigung verfasst hatte.
Präsident Smith musste daran denken, dass die Heiligen damals – zu Lebzeiten von Elder Pratt – gerade mal irgendwie überlebt hatten. Nie hätten sie es damals geschafft, für tausende Notleidende Hilfsgüter über den Ozean zu schicken! Doch in den vergangenen hundert Jahren hatte der Herr die Heiligen angewiesen, sich auf Notzeiten vorzubereiten, und Präsident Smith war froh, dass sie nun in der Lage waren, so zügig zu handeln.8
Während sich die Kirche also darauf vorbereitete, Hilfe nach Europa zu schicken, setzte Helga Birth in Berlin ihren Missionsdienst fort. In Deutschland herrschte Monate nach dem Krieg noch immer heilloses Chaos. Sowohl Berlin als auch das Land als Ganzes waren in vier Zonen aufgeteilt, die jeweils einer der vier Besatzungsmächte unterstanden. Da die meisten deutschen Mitglieder durch den Krieg obdachlos geworden waren, wandten sich viele hilfesuchend an Helga und die anderen Missionare im Missionsheim. Herbert Klopfer, der amtierende Missionspräsident im östlichen Teil Deutschlands, war in einem sowjetischen Gefangenenlager ums Leben gekommen, sodass sich nunmehr seine beiden Ratgeber Paul Langheinrich und Richard Ranglack um die Flüchtlinge kümmerten.
Die beiden Männer erhielten von der Militärführung die Genehmigung, das Missionsheim in eine verlassene Villa in der von den Amerikanern kontrollierten Zone im Westen Berlins zu verlegen, wo für obdachlose Mitglieder mehr Platz war. Helgas Heimatstadt Tilsit lag unterdessen in jenem Teil Deutschlands, der der Sowjetunion unterstand, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihren Vater, ihre Mutter oder ihren Bruder Henry, der als verschollen galt, wiederfinden könnte. Auch der Aufenthaltsort von Freunden und Mitgliedern des ehemaligen Zweiges dort ließ sich kaum feststellen.9
Im Herbst 1945 erhielt Helga einen Brief von ihrer Tante Lusche. Vor mehr als einem Jahr hatten sie beide ja den Luftangriff überlebt, bei dem Helgas Großeltern und Tante Nita ums Leben gekommen waren. Derzeit, so erfuhr Helga, hielt die Sowjetarmee Tante Lusche und weitere deutsche Flüchtlinge in einem verlassenen Schloss nahe der polnischen Grenze fest. Die sowjetischen Behörden wollten sie freilassen, doch nur, wenn Verwandte sie aufnehmen könnten. Helga schrieb umgehend zurück und lud ihre Tante zu sich ins Missionsheim ein.
Bald darauf traf Lusche mit einer Frau namens Eva, einer entfernten Verwandten, die mit ihr inhaftiert gewesen war, in Berlin ein. Beide Frauen sahen ausgemergelt und abgezehrt aus. Helga hatte während des Krieges viel Hunger und Leid erlebt, doch die Erzählungen ihrer Tante über Folter und Entbehrungen erschütterten sie zutiefst. Evas kleines Mädchen war an Kälte und Hunger gestorben, und Lusche hatte schon überlegt, sich das Leben zu nehmen.10
Weitere Heilige der Letzten Tage fanden sich im Missionsheim ein, und für jeden Flüchtling fand Paul Langheinrich doch noch einen Schlafplatz. Bald waren mehr als einhundert Menschen unter einem Dach untergebracht und sollten auch alle verköstigt werden. Doch Helgas Vater, ihre Mutter und ihr Bruder waren nirgends zu finden.
Amerikanische Soldaten, die als Missionare in Deutschland tätig gewesen waren, besuchten das Missionsheim häufig. Einmal brachte ein Soldat belegte Brote mit, Sandwiches aus weichem Weißbrot aus den Vereinigten Staaten. Helga verschlang gierig ein Sandwich, doch das linderte kaum den nagenden Hunger, der sie und ihre Mitbewohner quälte. Bisweilen hatten sie tagelang überhaupt nichts zu essen. Und wenn es Helga mal gelang, Lebensmittel zu erstehen oder irgendwo etwas aufzutreiben, dann waren es alte Kartoffeln oder verwässerte Milch, die kaum Nährwert besaßen. Helga war so schwach, dass sie an manchen Tagen nicht einmal aufstehen konnte.11
Eine gute Nachricht erreichte sie jedoch im Januar 1946. Da traf nämlich ein Brief von ihrem Vater Martin Meiszus ein. Bei einem Luftangriff hatte er gegen Ende des Krieges das linke Auge verloren, und einige Zeit hatte er in einem Flüchtlingslager in Dänemark verbracht. Nun war er wieder in Deutschland und wohnte in Schwerin, etwa zweihundert Kilometer nordwestlich von Berlin.12 Paul und weitere Missionsführer waren monatelang in Deutschland unterwegs gewesen und hatten nach vertriebenen Mitgliedern gesucht und ihnen geholfen, sich zusammenzuschließen, um ihr Überleben zu sichern. Da sie ohnedies bereits vorhatten, nach Schwerin zu fahren, fragten sie Helga, ob sie nicht mitkommen wolle.13
Helga konnte sich in dem überfüllten Eisenbahnwaggon kaum warmhalten, blies doch durch die zerbrochenen Fensterscheiben eisige Winterluft herein. Eine kleine Schachtel mit ein paar Stückchen amerikanischer Schokolade hielt sie fest in beiden Händen, denn Süßigkeiten waren damals so rar, dass sie sie unbedingt für ihren Vater aufbewahren wollte. Dennoch hielt sie sich die Schokolade mitunter an die Nase, um wenigstens den köstlichen Duft einzuatmen.
Helga war überglücklich, als sie in Schwerin ihren Vater wiedersah. Er freute sich über die Schokolade und wollte sie gern mit ihr teilen. „Kindchen“, wiederholte er immer wieder, „mein liebes Kind“.
„Danke, Papa“, entgegnete Helga, „nimm sie nur, ich habe genug gegessen.“ Und es stimmte ja auch – im Moment verspürte sie keinerlei Hunger. Sie war einfach nur überglücklich.14
Auf einem anderen Erdteil war Neal Maxwells Division indes Teil der amerikanischen Besatzungstruppen in Japan. Das Land war im Krieg durch abertausende Luftangriffe sowie die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verwüstet worden. Eigentlich hatte Neal anfangs gedacht, die Japaner würden in ihm einen siegreichen Helden sehen. Doch über dreihunderttausend japanische Zivilisten waren bei den Kriegshandlungen ums Leben gekommen, und der Gedanke daran, was dieser Krieg den Menschen abgefordert hatte, zerriss ihm das Herz.15
Neal stand als Unteroffizier derzeit einer Kompanie von etwa dreihundert ungebärdigen und demoralisierten Soldaten vor, von denen viele nichts anderes wollten, als endlich nach Hause zurückzukehren. Neal war zwar erst neunzehn, doch seine Vorgesetzten trauten ihm zu, dass er in der Truppe für Ordnung sorge. Neal war sich da allerdings nicht so sicher.16
„Ich habe hier so manches zu tun, was ein reiferes Urteilsvermögen erfordert, und ich schaudere bei dem Gedanken an die Verantwortung“, schrieb er an seine Eltern. „Tief drinnen bin ich ja schließlich nur ein Kind, das großes Heimweh hat und oft gar nicht weiß, wie es was angehen soll.“17
Und doch gelang es ihm, seinen Trupp zu führen, und bei einigen verschaffte er sich sogar Respekt. Häufig wandte er sich an den Vater im Himmel und flehte ihn um Hilfe an. An vielen Abenden ging er spät allein nach draußen, um zu beten und unter dem Sternenhimmel Gott nahe zu sein.18
Auch das Zusammensein mit Soldaten seines Glaubens schenkte ihm Kraft. Die Führer der Kirche hatten die Mitglieder, die beim Militär waren, stets ermutigt, sich zu versammeln, vom Abendmahl zu nehmen und einander geistig Beistand zu leisten. Sowohl im Japan der Nachkriegszeit als auch in Guam, in den Philippinen und an anderen Orten kamen hunderte Militärangehörige, die Heilige der Letzten Tage waren, zusammen.
Oftmals gab es in diesen Gruppen auch unerwarteterweise die Gelegenheit, jemandem vom Evangelium zu erzählen. So wurde etwa in Italien bald nach Kriegsende den Soldaten, die der Kirche angehörten, eine Audienz bei Papst Pius XII. gewährt. Die Militärangehörigen erwähnten dem Papst gegenüber die Begebenheit vom Erscheinen des Erretters auf dem amerikanischen Kontinent und überreichten ihm ein Buch Mormon.19
In Japan kamen indes einheimische Heilige, die seit Jahren nicht mehr zur Kirche gegangen waren, zu den Gottesdiensten der Soldaten. Unter den Besatzern stand es jedem Japaner frei, sich ausführlich mit seinen eigenen Glaubensansichten zu befassen, und einige Soldaten der Heiligen der Letzten Tage brachten ihren japanischen Freunden also auch die Kirche näher. Bald saßen amerikanische Militärangehörige wie Neal Seite an Seite mit ihren ehemaligen Feinden, nahmen gemeinsam vom Abendmahl und lernten zusammen mehr über das Evangelium Jesu Christi.20
Ehe Neal nach Hause durfte, hatte er noch viele Monate Militärdienst abzuleisten. Doch das, was er auf Okinawa und jetzt auf der Hauptinsel, dem sogenannten japanischen Kernland, erlebt hatte, bestärkte ihn in dem Wunsch, so bald wie möglich auf Mission zu gehen.21
„Es gibt da so manches Feld, das reif fürs Evangelium ist – Menschen, die ebenso Christen sind wie wir“, schrieb er nach Hause, „die jedoch unbedingt das Evangelium als Richtschnur brauchen.“22
In Deutschland nahm Paul Langheinrich Kontakt mit dem Befehlshaber der Roten Armee in Berlin auf. Tausende Flüchtlinge der Heiligen der Letzten Tage lebten jetzt in den von der Sowjetunion besetzten Gebieten, und Paul war in großer Sorge um ihr Wohlergehen. „Wegen Hitlers unfassbarer Taten“, so schrieb er, „sind viele unserer Mitglieder nun heimatlos auf den Straßen unterwegs, ohne Dach über dem Kopf – verbannt und verstoßen.“
Paul bat den Kommandanten um die Erlaubnis, Lebensmittel anzukaufen und sie diesen Leuten zu bringen. Als ehemaliger Ahnenforscher für die deutsche Regierung fühlte er sich auch veranlasst zu fragen, ob er sich zudem auch nach wichtigen Unterlagen umsehen dürfe, die die Nazis als Vorsichtsmaßnahme vor Beschädigung oder Diebstahl in abgelegenen Gegenden versteckt hatten. Da die deutschen Mitglieder diese Aufzeichnungen eines Tages ja brauchen würden, um für ihre Vorfahren die Tempelarbeit zu vollziehen, wollte Paul solche Aufzeichnungen bewahren.
„Für Sie haben diese Unterlagen keinerlei Wert“, schrieb er an den Kommandanten. „Für uns jedoch sind sie unbezahlbar.“23
Eine Woche später erhielt Paul die Genehmigung, Lebensmittel aller Art für die Mitglieder einzukaufen. Und was die genealogischen Aufzeichnungen betraf, so durften die Heiligen die behalten, die sie ausfindig machen konnten.24
Irgendwann hörte Paul schließlich von einer Urkundensammlung, die angeblich auf Burg Rothenburg südwestlich von Berlin gelagert war. An einem bitterkalten Februartag im Jahr 1946 stiegen sechzehn einheimische Missionare und er auf einer vereisten Straße hinauf zu der alten Burg, die auf einem steilen Hügel gelegen war. Dort fanden die Männer in der Tat stapelweise kirchliche Aufzeichnungen, Mikrofilme und Bücher mit deutschen Ahnentafeln.25
Einige Aufzeichnungen waren viele Jahrhunderte alt und enthielten tausende Namen und Daten. Etliche Bücher waren in wunderschöner deutscher Schreibschrift verfasst. Auf langen Schriftrollen waren farbige Stammbäume eingetragen. Ein Großteil der Unterlagen befand sich in gutem Zustand, doch einige Aufzeichnungen waren mit Schnee und Eis bedeckt und kaum zu retten.26
Nachdem Paul und die Missionare die Aufzeichnungen durchgesehen hatten, mussten sie sie nur noch unversehrt den Hügel hinunterschaffen. Paul hatte einen Lastwagen samt Anhänger gemietet, der die Aufzeichnungen abholen und zur Bahnstation transportieren sollte, von wo aus sie mit einem Güterwaggon nach Berlin gebracht werden sollten. Doch der Lastwagen kam und kam nicht an.27
Schließlich stapfte ein Missionar den Hügel herauf. Der Lastwagen war auf halbem Weg steckengeblieben, die Räder fanden auf der vereisten Straße keinen Halt.28
Paul beschloss, dass es an der Zeit sei, zu beten. Mit drei Missionaren ging er in den Wald, und sie flehten den Herrn um Hilfe an. Genau in dem Moment, als sie „Amen“ sagten, hörten sie Motorengeräusche und sahen den Lastwagen um die Kurve biegen.
Der Fahrer hatte den Anhänger abgekoppelt und so den Weg hinauf geschafft. Er wollte eigentlich bloß oben umdrehen und wieder wegfahren, aber Paul überredete ihn, zu bleiben und ihnen zu helfen, so viele Dokumente wie möglich die rutschige Straße hinunterzuschaffen. Ohne Anhänger war der Lastwagen natürlich nicht geräumig genug für sämtliche Unterlagen. Wenn sie alles bis zum nächsten Tag rechtzeitig zum Güterwaggon schaffen wollten, musste das Eis schmelzen. Wieder einmal wandten sich Paul und die Missionare im Gebet an Gott.29
In der Nacht fiel warmer Regen, und als Paul am Morgen erwachte, war die Straße komplett eisfrei. Außerdem erfuhr er, dass sich der Güterzug um einige Tage verspäten werde, sodass den Missionaren genügend Zeit zur Verfügung stand, alle Unterlagen, die noch in halbwegs brauchbarem Zustand waren, zu verladen. Paul erkannte an diesen wundersamen Ereignissen deutlich Gottes Hand und war dankbar dafür, ein Werkzeug Gottes gewesen zu sein.
Als die letzte Ladung beim Bahnhof angekommen war, sprachen Paul und die Männer nochmals ein Gebet. „Wir haben unseren Teil getan“, sagten sie. „Und nun, lieber Gott, liegt es an dir, dass dieser Güterzug auch wohlbehalten in Berlin ankommt.“30
Am 22. Mai 1946 stand Arwell Pierce, der Präsident der Mexikanischen Mission, mit Präsident George Albert Smith ganz oben auf der berühmten Sonnenpyramide nordöstlich von Mexiko-Stadt. Diese etwa sechzig Meter hohe Steinpyramide war einst das Zentrum einer antiken Stadt gewesen, die später unter dem Namen Teotihuacán bekannt wurde. Von oben eröffnete sich dem Betrachter ein herrlicher Blick auf die Umgebung. Obwohl Präsident Smith bereits Ende siebzig war, hatte er die vielen Stufen der Pyramide mit relativer Leichtigkeit erklommen und scherzte mit Arwell und den Missionaren, die sie begleiteten.31
Arwell war froh, dass der Prophet nach Mexiko gekommen war. Es war das erste Mal, dass ein Präsident der Kirche die Mission besuchte, und sein Besuch bedeutete den Heiligen dort ungemein viel. Zehn Jahre lang bestand bereits die Spaltung zwischen der Hauptgruppe der Heiligen in Mexiko und jenen zwölfhundert Menschen, die sich dem Dritten Konvent angeschlossen hatten. Der Besuch von Präsident Smith bot eine echte Chance auf Aussöhnung und war somit etwas, worauf Arwell in den vergangenen vier Jahren eifrig hingearbeitet hatte.32
Als Arwell 1942 Präsident der Mexikanischen Mission wurde, schien die Spaltung zwischen der Konventsgruppe und den übrigen Heiligen in Mexiko noch ziemlich unüberwindbar. J. Reuben Clark hatte Arwell, als dieser von der Ersten Präsidentschaft eingesetzt wurde, den Auftrag erteilt, den Bruch möglichst zu heilen.33
Zuerst standen die Anhänger des Dritten Konvents dem neuen Missionspräsidenten eher skeptisch gegenüber. Arwell war ja – wie seine Vorgänger auch – amerikanischer Staatsbürger, und daher wurde er von der Konventsgruppe nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Doch statt den Leuten vorzuhalten, dass sie falsch lagen, war Arwell darangegangen, ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu gewinnen.
Er begann, an den Treffen des Dritten Konvents teilzunehmen, und freundete sich mit Abel Páez, dem Anführer, sowie mit weiteren Mitgliedern der Gruppe an. Je mehr Zeit er mit ihnen verbrachte, desto mehr gelangte er zu der Ansicht, dass eine Wiedervereinigung möglich sei. Die Konventsanhänger hielten ja am Glauben an die Kernlehren des wiederhergestellten Evangeliums fest. Sie führten weiterhin Programme der Kirche durch und glaubten an das Buch Mormon. Wenn er ihnen doch nur vor Augen führen könnte, was ihnen alles fehlte, weil sie sich von der Hautgruppe der Heiligen abgespalten hatten, würden sie seiner Ansicht nach wohl zurückkehren. Aber er müsste sehr behutsam vorgehen.
„Mit Strenge haben wir in der Vergangenheit nicht viel Gutes erreicht“, teilte er der Ersten Präsidentschaft mit. „Hoffen wir doch, dass Freundlichkeit und vernünftiges, geduldiges Zureden mehr bewirken.“34
Auf Weisung der Ersten Präsidentschaft kümmerte sich Arwell um das Vorhaben, in Mexiko mehrere neue Gemeindehäuser zu errichten beziehungsweise bestehende zu modernisieren. Die unzureichende Zahl an Gemeindehäusern hatte ursprünglich ja erst dazu geführt, dass der Konvent ins Leben gerufen wurde und sich dessen Anhänger von der Kirche abspalteten. Arwell traf sich auch häufig mit Abel und redete ihm gut zu, sich um Aussöhnung zu bemühen. „Was ihr in Mexiko wirklich braucht, ist ein Pfahl“, sagte er zu Abel und der Konventsgruppe. „Aber einen Pfahl kann es in Mexiko erst geben, wenn wir geeinter sind.“35
Er führte Abel vor Augen, dass die Konventsgruppe nicht an den Segnungen des Tempels teilhaben konnte. 1945 fanden im Mesa-Tempel in Arizona die ersten Endowmentsessionen in spanischer Sprache statt. Zwar konnten sich viele mexikanische Heilige die Fahrt zum Mesa-Tempel nicht leisten, doch Arwell war überzeugt, eines Tages werde es in Mexiko Tempel geben, sodass Abel und viele andere Konventsteilnehmer den Tempel besuchen könnten.36
Eines Tages erhielt Arwell einen Anruf von Abel. Er sowie ein paar weitere Anführer des Dritten Konvents wollten sich gern mit ihm treffen und die Möglichkeit einer Aussöhnung besprechen. Nahezu sechs Stunden dauerte das Gespräch. Abel und die anderen sahen letztlich ein, dass sie einem Irrtum unterlegen waren, und sie beschlossen, die Erste Präsidentschaft um die Wiedereinsetzung in ihren Stand als Mitglieder der Kirche zu ersuchen. Präsident Smith und seine Ratgeber prüften das Gesuch und legten fest, dass die Männer wieder als Mitglieder der Kirche Jesu Christi zugelassen werden konnten, so sie die Beziehung zur Konventsgruppe abbrachen und den Präsidenten der Mexikanischen Mission unterstützten.37
Als Arwell nun mit Präsident Smith durch die Mission reiste, sprachen sie mit allen Konventsanhängern, die zurückkehren wollten. „Es hat hier keinen Aufstand gegeben“, bemerkte Präsident Smith, „nur ein Missverständnis.“38
Am 25. Mai 1946 nahm Arwell Präsident Smith mit in den Zweig Ermita in Mexiko-Stadt. Mehr als tausend Menschen, viele von ihnen Mitglieder des Dritten Konvents, drängten sich in das kleine Gemeindehaus oder den angrenzenden Pavillon, um den Propheten sprechen zu hören. Einige ehemalige Konventsanhänger befürchteten, Präsident Smith werde sie verurteilen, doch der sprach stattdessen von Eintracht und Wiedervereinigung. Danach verpflichteten sich die meisten Konventsanhänger, wieder voll und ganz in die Kirche zurückzukehren.39
Einige Tage später dankte Abel auf einer Versammlung von fast fünfhundert Heiligen in der Stadt Tecalco Präsident Smith für dessen Besuch in Mexiko. „Es ist unsere Absicht, der Führung und den Anweisungen der Generalautoritäten unserer Kirche und des Präsidenten der Mexikanischen Mission zu folgen“, bestätigte er den Versammelten. „Wir folgen dem Propheten des Herrn.“40