Geschichte der Kirche
Kapitel 15: In der Freude eines ewigen Bundes


Kapitel 15

In der Freude eines ewigen Bundes

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Gruppe von Menschen in einem Krankenzimmer

Präsident Harold B. Lee hatte in Salt Lake City so viel für die Kirche zu tun, dass er später als geplant zur Gebietskonferenz in Mexiko-Stadt eintraf. Sein Flugzeug war am frühen Nachmittag des 26. August 1972 gelandet, und bereits am Abend wurde er von einem Veranstaltungsort zum anderen gebracht, um bei der jeweiligen Versammlung – der Frauenhilfsvereinigung, der Träger des Aaronischen und Melchisedekischen Priestertums und der Jungen Damen – zu sprechen. Am nächsten Vormittag bestätigten ihn die Heiligen auf der Konferenz als neuen Präsidenten der Kirche – und waren somit die ersten in aller Welt, die diesen Vorzug genossen.

Der Prophet kehrte einige Tage später nach Utah zurück. Kaum gelandet, erfuhr er, dass ein Mitglied einer abtrünnigen Gruppe angeblich Morddrohungen gegen ihn ausgestoßen habe.

Jetzt begleitete die Polizei Präsident Lee auf Schritt und Tritt, um seine Sicherheit zu gewährleisten. Er war dankbar für ihren Schutz, aber die Anwesenheit der Beamten störte ihn. Die letzten Präsidenten der Kirche hatten grundsätzlich keine Leibwächter gehabt. Jedes Mal, wenn Präsident Lee nun hinausging, sorgte seine Polizeieskorte für einige Unruhe.

Bald darauf schlossen sich seine Frau Joan und er Elder Gordon B. Hinckley und dessen Frau Marjorie an, die die Heiligen in Europa und in Israel besuchen wollten.

Die Reise barg wiederum ihre ganz eigenen Risiken – sie würden ohne Sicherheitsbeamte in einer Krisenregion unterwegs sein. Eine Gruppe Palästinenser hatte bei der Sommerolympiade 1972 in München elf Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft entführt und ermordet. Der Anschlag hatte die Welt in Aufruhr versetzt, und Präsident Lee befürchtete, in Israel könne ein bewaffneter Konflikt ausbrechen. Dennoch begleiteten seine Frau und er wie geplant das Ehepaar Hinckley.

Die Reisenden kamen am Abend des 19. September auf dem Flughafen in Tel Aviv an. David Galbraith, ein Mitglied der Kirche aus Kanada und Student an der Hebräischen Universität Jerusalem, holte sie ab und fuhr sie die sechzig Kilometer bis ins südöstlich gelegene Jerusalem. Bei ihrer Ankunft war es bereits dunkel und sie konnten sich daher kaum einen Eindruck verschaffen. Aber es war etwas Wunderbares, in der alten, heiligen Stadt unterwegs zu sein.

In den folgenden drei Tagen trafen die Lees und die Hinckleys mit israelischen Würdenträgern zusammen und besuchten heilige Stätten. Teddy Kollek, der Bürgermeister von Jerusalem, erzählte Präsident Lee, ihm sei die Geschichte von Apostel Orson Hyde zu Ohren gekommen, der 1841 ein Gebet auf dem Ölberg gesprochen hatte. Präsident Lee erklärte ihm, dass die Kirche eines Tages ein Denkmal oder ein Besucherzentrum in der Stadt errichten wolle, um an jenes Gebet zu erinnern.

„Wir bemühen uns um den Erwerb eines Grundstücks auf dem Ölberg, um dort einen Park anzulegen, der zum stillen Verweilen einlädt“, informierte ihn Bürgermeister Kollek. „Es wäre vielleicht ja möglich, im Park ein Denkmal mit einer entsprechenden Inschrift aufzustellen.“

Am Abend des 20. September trafen sich David und eine kleine Gruppe in Israel lebender Heiliger mit den Ehepaaren Lee und Hinckley an einem Gartengrab, von dem viele annahmen, dies sei der Ort gewesen, wo Jesus nach der Kreuzigung ins Grab gelegt worden war. Die Anwesenden waren von Ehrfurcht ergriffen. Vor ihrem inneren Auge sahen sie, wie der Leichnam des Erretters zu Grabe getragen wurde und wie Maria aus Magdala am dritten Tag in den Garten zurückkehrte und den auferstandenen Herrn erblickte.

Am Grab gründete Präsident Lee einen Zweig für die Mitglieder vor Ort und berief David zum Präsidenten. Zwar lebten nicht mehr als dreißig Heilige dauerhaft im Land, doch seit kurzem kamen Studenten der Brigham-Young-Universität ins Heilige Land und studierten dort jeweils einige Monate lang. Das führte zu einer Verdopplung der Anwesenheitszahl bei den Versammlungen. Präsident Lee war davon überzeugt, der Zweig werde den Grundstein für ein großes Werk in der Region legen.

„Wenn man Sie fragt, wer Sie sind“, lautete sein Rat, „sagen Sie nicht, Sie seien Mormonen oder würden der HLT-Kirche angehören, sondern sagen Sie, dass Sie Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sind.“

Nach dem Treffen kehrte Präsident Lee erschöpft in sein Hotelzimmer zurück. Er hatte seit einigen Tagen starke Schmerzen im unteren Rückenbereich und litt unter schmerzhaften Hustenanfällen und Kurzatmigkeit. Als ihn nun die Müdigkeit überfiel, machte er sich Sorgen, dass etwas nicht stimme.

Auf Schwester Lees Drängen hin kam später am Abend Elder Hinckley auf Präsident Lees Hotelzimmer und gab ihm einen Segen. Am nächsten Morgen hustete Präsident Lee zwar etwas Blut, aber er spürte sofort, dass er leichter atmen konnte. Bald ging es ihm so gut, dass er David und das Ehepaar Hinckley zu einer Besichtigungstour nach Betanien, Jericho, Kafarnaum, Nazaret und weiteren heiligen Stätten begleiten konnte.

Beim Frühstück am nächsten Tag berichtete er Elder Hinckley, er habe ein Wunder erlebt. Er habe sich gefühlt, als stünde er mit einem Bein bereits im Grab, doch dank des Segens durch Elder Hinckley hatte der Herr ihn gesunden lassen.

„Wir mussten in das Land der Wunder kommen, um ein Wunder an uns selbst zu erleben“, sagte er dankbar.

Da die Besucher Jerusalem bereits am selben Abend verlassen wollten, verbrachten sie die restliche Zeit damit, auf den Wegen zu gehen, wo Jesus einst gewandelt war. Sie besuchten Getsemani, das Grab des Lazarus, Betlehem und die Überreste der Mauer, die einst den Tempel umgeben hatte. David brachte sie dann zum Flughafen, und sie flogen weiter nach Rom. Alles, was sie im Heiligen Land gesehen und erlebt hatten, hatte ihren Glauben gestärkt.


Ardeth Kapp betrat gerade ihre Wohnung in Bountiful im Bundesstaat Utah, als sie das Telefon klingeln hörte. Es war der 7. November 1972. Am anderen Ende der Leitung war Francis Gibbons, Sekretär der Ersten Präsidentschaft. „Könnten Sie und Ihr Mann morgen um 11:35 Uhr Präsident Harold B. Lee in seinem Büro aufsuchen?“, fragte er.

Ardeth holte tief Luft und sagte: „Wir werden da sein.“ Sogleich fragte sie sich, weshalb Präsident Lee wohl mit ihnen sprechen wolle.

Sie und ihr Mann Heber waren beide Lehrer von Beruf. Obwohl beide noch relativ jung waren – Ardeth war einundvierzig Jahre alt –, hatten sie sich bereits viele Jahre lang in der Kirche engagiert. Ardeth gehörte der pädagogischen Fakultät der Brigham-Young-Universität an und saß im Korrelationskomitee der Kirche für die Jugendlichen. Heber war Bischof gewesen und diente derzeit als Ratgeber in der Pfahlpräsidentschaft.

Als Heber nach Hause kam, erzählte ihm Ardeth von dem Anruf. Sie nahm an, Präsident Lee könnte Heber als Missionspräsidenten berufen. Heber glaubte das zwar nicht, befürchtete aber doch, mit seiner Frau vielleicht umziehen zu müssen. Sie waren gerade dabei, ein Haus zu bauen, und würden dieses Projekt aufgeben müssen, falls sie auf Mission berufen würden. Den größten Teil der Bauarbeiten führte Heber nämlich in Eigenleistung aus, und er konnte es sich nicht leisten, jemanden für die Fertigstellung zu bezahlen.

Ardeth verbrachte eine schlaflose Nacht und dachte über ihr Leben nach. Der Herr hatte ihr immer geholfen, ihre Prüfungen zu bestehen. Sie war in Kanada – in der Nähe der Kleinstadt Cardston bei Alberta – aufgewachsen. Als Mädchen war sie in der Schule zweimal sitzengeblieben. Kaum jemand hatte ihr zugetraut, dass sie im Studium überragende Leistungen erbringen würde, aber mit Gottes Hilfe hatte sie vor kurzem den Master-Abschluss in Lehrplanentwicklung gemacht.

Doch das war nicht ihr größter Kampf gewesen. Obwohl sie sich immer eine große Familie gewünscht hatte, hatten Heber und sie keine Kinder bekommen können, obwohl sie oft um ein Wunder gebetet hatten. Eine Zeit lang hatten sie über eine Adoption nachgedacht, aber jedes Mal, wenn sie den Herrn in dieser Angelegenheit um Rat fragten, verfielen sie in eine „Gedankenstarre“. Sie fühlten sich von Nachbarn, Freunden und Verwandten abgeurteilt, die sie als egoistisch bezeichneten, weil sie keine Kinder hatten. Nur die ewige Sichtweise auf Gottes Plan hatte ihnen den Frieden und die Fähigkeiten geschenkt, all das hinzunehmen und mit dem Schmerz fertigzuwerden.

Als Ardeth und Heber am Tag des Termins mit Präsident Lee beim Verwaltungsgebäude der Kirche ankamen, waren sie zwar nervös, aber bereit, jeden Auftrag des Herrn anzunehmen. Präsident Lee begrüßte sie herzlich und bat sie in sein Büro. „Entspannen Sie sich doch bitte“, sagte er. „Bestimmt ist Ihnen klar, dass es sich nicht einfach um ein belangloses Gespräch handelt.“

Dann sprach er über die Notwendigkeit häufiger organisatorischer Veränderungen in der Kirche, um mit dem raschen Wachstum Schritt zu halten. Das Jugendprogramm der Kirche bereitete ihm besondere Sorgen. Er war der Meinung, dass die Kirche mehr tun müsse, um die jungen Leute zu stärken und sie darauf vorzubereiten, im Reich Gottes zu dienen. Aus diesem Grund wurden die Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen umstrukturiert und unter die direkte Aufsicht der Priestertumsführer im Aaronischen und Melchisedekischen Priestertum gestellt.

Während Ardeth Präsident Lee zuhörte, fragte sie sich, was er wohl mit Heber vorhabe. „Was auch immer es ist“, dachte sie, „ich bin sicher, dass Heber gute Arbeit leisten wird, und ich bin bereit, ihn zu unterstützen.“

Doch Präsident Lee berief daraufhin Ardeth – was sie völlig aus dem Gleichgewicht brachte. Sie war also der Grund dafür, dass er die beiden zu sich ins Büro bestellt hatte?

Präsident Lee erläuterte, dass Ruth Funk sich vor kurzem bereiterklärt hatte, das Amt der Präsidentin der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen zu übernehmen. Ruth hatte mit Ardeth im Korrelationskomitee zusammengearbeitet und schlug sie nun als Zweite Ratgeberin vor. Die neue Präsidentschaft sollte ihre Büros im neunzehnten Stock des Bürogebäudes der Kirche beziehen, einem kürzlich fertiggestellten Wolkenkratzer in der Innenstadt von Salt Lake City.

Überwältigt nahm Ardeth die Berufung an, dankbar für das Vertrauen, das Präsident Lee damit zum Ausdruck brachte. Kurze Zeit später gab die Kirche offiziell die Umstrukturierung ihrer Jugendprogramme bekannt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Aufsicht über die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Junger Damen bei der Ersten Präsidentschaft gelegen. Als Teil der Korrelationsbestrebungen in der Kirche sollten die Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen der Jungen Damen und der Jungen Männer sich fortan unter der Leitung der Präsidierenden Bischofschaft und der Priestertumsführer von Gemeinde und Pfahl miteinander absprechen. Die neue Struktur unterschied auch zwischen der GFV für das Melchisedekische Priestertum – den Alleinstehenden über achtzehn Jahren – und der GFV für das Aaronische Priestertum – den Jungen Männern und Jungen Damen im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren.

Die GFV für das Aaronische Priestertum sollte von Priestertumsführern beaufsichtigt werden und weiterhin geschlechts- und altersgerechte Kurse und Aktivitäten für Jungen und Mädchen anbieten. In Anlehnung an die Ämter im Priestertum – Diakon, Lehrer und Priester – wurden die Jungen Damen in Bienenkorbmädchen (12- und 13-Jährige), Rosenmädchen (14- und 15-Jährige) und Lorbeermädchen (16- bis 18-Jährige) eingeteilt. Diese Bezeichnungen gab es in der Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigung Junger Damen schon länger. Einige Jahre zuvor hatten die Führer der Kirche jede Gemeinde aufgefordert, einen Jugendrat des Bischofs zu etablieren, der den Jugendlichen neue Gelegenheiten bieten sollte, andere anzuleiten. Mit der neuen Struktur für die Gemeinschaftlichen Fortbildungsvereinigungen wollte die Erste Präsidentschaft nun für die Jugendlichen noch weitere Möglichkeiten schaffen, Führungsaufgaben zu übernehmen.

Präsidentin Funk unterstützte die Ziele des Programms. Als Lehrerin an der Highschool hatte sie ihren Schülern im Laufe der Jahre viele Chancen aufgetan, Führungsqualitäten zu entwickeln, und sie hatten Großartiges geleistet. „Man wird nichts, wenn man nur davon hört“, erklärte sie. „Man wird etwas, indem man es tut.“

Diesen Grundsatz hatte sich auch Ardeth zu eigen gemacht. Kurz nach Erhalt ihrer Berufung nahm sie den Auftrag an, in Großbritannien an mehreren Regionalkonferenzen teilzunehmen. Sie sah der Reise angespannt entgegen, da sie ja in ihrer Berufung noch keinerlei Erfahrung hatte. Aber dann dachte sie an die Worte Nephis im Buch Mormon: „Der Herr gibt den Menschenkindern keine Gebote, ohne ihnen einen Weg zu bereiten, damit sie das vollbringen können, was er ihnen gebietet.“

Ardeth sagte sich: „Das habe ich zwar mein ganzes Leben lang gewusst, aber jetzt muss ich es selbst erfahren.“


Helvécio und Rudá Martins stellten nach ihrer Taufe fest, dass andere brasilianische Heilige oft mit ihnen über die Einschränkung bei Priestertum und Tempel sprechen wollten. Einige fragten sich, wie die Familie denn der Kirche treu bleiben könne, wo doch weder Helvécio noch sein Sohn Marcus zum Priestertum ordiniert werden konnten. Andere, die sich darüber ärgerten, dass Familie Martins sich der Kirche voll und ganz verschrieben hatte, kritisierten oder verspotteten sie.

„Wenn ich in deiner Situation wäre“, sagte ein Bekannter zu Helvécio, „würde ich bestimmt nicht in der Kirche bleiben.“

Auf der anderen Seite bewunderten viele Heilige die Familie wegen ihres starken Zeugnisses und ihres Engagements in ihren Berufungen. Vier Monate nachdem die Martinsʼ der Kirche beigetreten waren, kam Elder Bruce R. McConkie – neuestes Mitglied des Kollegiums der Zwölf Apostel – nach Rio de Janeiro, um den fünften Pfahl in Brasilien zu gründen. Zwar verstand Helvécio den Unterschied zwischen einem Distrikt und einem Pfahl noch nicht so recht, aber er erklärte sich bereit, Ratgeber in der Pfahl-Sonntagsschulpräsidentschaft zu werden. Rudá nahm eine Berufung in die Pfahl-PV-Präsidentschaft an.

Der neue Pfahl umfasste ein riesiges Gebiet, das sich über tausende von Quadratkilometern erstreckte. Ihre Berufungen gaben Helvécio und Rudá die Möglichkeit, die vielen weit verstreuten Gemeinden und Zweige des Pfahles zu besuchen. Oft holte Helvécio Rudá spätabends von der Bushaltestelle ab, wenn sie nach einem erfüllten Auftrag zurückkehrte. Obwohl ihnen die neuen Aufgaben viel abverlangten, waren die Martinsʼ gern und mit Hingabe bei der Sache.

Ihre Taufe hatte auch die Beziehung innerhalb der Familie verändert. Rudás Angehörigen hatten es nicht gebilligt, dass sie sich der Kirche anschloss. Sie versuchten, Rudá und Helvécio zu überreden, ihren neuen Glauben aufzugeben, und warnten sie, dass ihnen ansonsten Unheil drohe. Einige Familienmitglieder unkten sogar, Gott werde das Leben ihres Sohnes Marcus nehmen.

Aber Familie Martins fühlte sich in der Kirche wohl. Die Mitglieder des Zweiges nahmen sie so herzlich auf, dass Helvécio sich zunächst fragte, ob seine Familie etwa aufgrund seiner herausragenden beruflichen Stellung eine Sonderbehandlung erfuhr. Nachdem ihm jedoch bei einer Zweigaktivität eine ziemlich unwesentliche Aufgabe übertragen worden war, stellte er fest, dass seine Familie nicht anders behandelt wurde als jede andere auch.

Eines Tages sagte ein Freund in der Kirche zu Helvécio: „Treue Mitglieder wie du beweisen dem Herrn, dass sie Anspruch auf das Priestertum haben. Ich bin mir sicher, dass du eines Tages das Priestertum empfangen wirst.“

Helvécio und Rudá waren zwar dankbar für die Unterstützung durch ihre Freunde und die Mitglieder der Kirche, doch sie zogen es vor, sich nicht mit der Frage zu befassen, wann oder wie Schwarze die Segnungen des Priestertums erhalten würden. Sie glaubten, dass Gott eines Tages alle seine Verheißungen erfüllen werde. Um sich vor Enttäuschungen und Schmerz zu schützen, erwarteten sie daher nicht allzu viel. Sie waren überzeugt, im Millennium die vollen Segnungen des Priestertums und des Tempels zu erlangen. Bis dahin beteten sie einfach um mehr Glauben und die Kraft zum Dienst in der Kirche.

Nach der Gründung des Pfahles in Rio de Janeiro vereinbarten Helvécio und Rudá einen Termin, um ihren Patriarchalischen Segen zu erhalten. Als Pfahlpatriarch Walmir Silva dann Helvécio und Rudá den Segen gab, verhieß er ihnen, sie würden „auf Erden in der Freude eines ewigen Bundes“ zusammenleben. Das war eine schöne Verheißung, doch Familie Martins kehrte eher verwirrt nach Hause zurück. Aufgrund der Einschränkung beim Priestertum konnten Helvécio und Rudá ja den Tempel nicht betreten und rechneten nicht damit, dass sie zu Lebzeiten in den Genuss der Tempelbündnisse kommen würden. Was hatte der Patriarch wohl gemeint?

Sieben Wochen darauf besuchte der vierzehnjährige Marcus den Patriarchen zuhause, um seinen eigenen Segen zu erhalten. Als der Patriarch ihm den Segen gab, verhieß er Marcus, er werde die Möglichkeit haben, das Evangelium zu predigen und für die Wahrheit Zeugnis zu geben. Helvécio und Rudá interpretierten das dahingehend, dass Marcus eine Mission erfüllen werde. Aber auch das schien unmöglich. Marcus konnte ja nur auf Mission gehen, wenn er das Priestertum trug.

Familie Martins wollte nicht, dass die Worte des Patriarchen den gleichmäßigen, friedlichen Rhythmus ihres Alltags durcheinanderbrachten. Also lebten sie einfach weiter wie bisher und dachten nicht allzu viel über den Segen nach.

Andererseits wollten Helvécio und Rudá die an sie ergangenen Verheißungen nicht ignorieren. Für den Fall der Fälle eröffneten sie daher heimlich ein neues Sparkonto – einen Missionsfonds für Marcus.


Spencer W. Kimball verbrachte den Weihnachtstag 1973 friedvoll. Camilla und er überreichten einander und Camillas Schwester Mary Geschenke. Mary, die taub geboren worden war, lebte nun bei ihnen. Camilla schob einen Truthahn in den Backofen, und Spencer half ihr, einen zusätzlichen Tisch für die Gäste zu decken, die sie zum Abendessen erwarteten.

Den Rest des Vormittags verbrachte Elder Kimball an der Schreibmaschine und versuchte, einen Stapel Post aufzuarbeiten. Er hatte Weihnachtsmusik aufgelegt und machte ab und zu eine Pause beim Tippen, um die Platte umzudrehen.

Im Laufe des Nachmittags fanden sich einige Kinder, Enkel und Urenkel der Familie Kimball zum Weihnachtsessen ein. Unter den Gästen waren auch Mangal Dan Dipty, ein Mann, den Elder Kimball zwölf Jahre zuvor in Delhi in Indien getauft hatte, und ein Zuni-Mädchen namens Arlene, das im Rahmen des Vermittlungsprogramms für indigene Schüler bei Olive Beth, einer Tochter des Ehepaars Kimball, wohnte. Alle aßen und sangen, und Elder Kimball ging mit dem Gefühl zu Bett, dass der Tag angenehm verlaufen war.

Am nächsten Abend um kurz nach acht nahm Elder Kimball einen Telefonanruf entgegen. „Hier ist Arthur“, meldete sich der Anrufer. Elder Kimball wusste sofort, dass es sich um Arthur Haycock, den Sekretär von Präsident Lee, handelte.

„Und, Arthur“, erkundigte sich Elder Kimball freundlich, „wie geht es Ihnen so?“

„Nicht so gut“, sagte Arthur. „Ich bin bei Präsident Lee im Krankenhaus, er ist sehr krank. Ich denke, Sie sollten sofort kommen.“

Elder Kimball legte den Hörer auf und fuhr direkt zum Krankenhaus. Er traf Arthur auf dem Flur. Dieser erklärte, dass Präsident Lee ins Krankenhaus gegangen sei, um eine Pause einzulegen und sich untersuchen zu lassen. Er hatte auf dem Bett gesessen, als er plötzlich einen Herzstillstand erlitt. Arthur rief um Hilfe, und im Handumdrehen war das Zimmer mit Ärzten, Krankenschwestern und medizinischen Geräten gefüllt. Noch immer herrschte dort hektische Betriebsamkeit.

Joan, die Frau von Präsident Lee, begab sich in Begleitung ihrer Tochter Helen und ihres Schwiegersohns Brent ebenfalls eiligst ins Krankenhaus. Arthur wies sie an, das Zimmer von Präsident Lee nicht zu betreten. Die kleine Gruppe fand einen leeren Warteraum am Ende des Flurs, wo die Versammelten zusammen beteten und den Herrn baten, das Leben des Propheten zu erhalten. Während sie warteten, traf Marion G. Romney ein, Präsident Lees Zweiter Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft.

Da sie nicht wussten, was sie sonst tun sollten, sprach Präsident Romney ein weiteres Gebet. Dann betrat ein Arzt den Raum.

„Wir tun, was wir können“, sagte er, „aber es sieht nicht gut aus.“

Elder Kimball war erschüttert. Präsident Lee, der ihn während seiner eigenen Krankheiten beständig unterstützt hatte, war vierundsiebzig Jahre alt – jünger als er selbst. Und er hatte viel gesünder gewirkt. Viele in der Kirche waren davon ausgegangen, dass er noch lange nach Elder Kimballs Tod da sein werde. Und niemand hatte intensiver als die Kimballs dafür gebetet, dass Präsident Lees gute Gesundheit anhielt.

Zehn Minuten vergingen. Elder Kimball verließ den Raum und ging den Korridor hinunter zum Zimmer von Präsident Lee. Da trat gerade ein Arzt heraus.

Er sagte: „Wir haben die Behandlung eingestellt.“ Präsident Lee war tot.

  1. Lee, Tagebuch, 26. und 27. August 1972; First Mexico and Central America Area General Conference, Seite 110–115; Holzapfel und Lambert, „Photographs of the First Mexico and Central America Area Conference“, Seite 70; J M. Heslop, „Spirituality Themes Conference“, Church News, 2. September 1972, Seite 3; Themen: Allgemeine Zustimmung, Harold B. Lee

  2. Lee, Tagebuch, 29. August 1972; Goates, Harold B. Lee, Seite 475ff.; Tanner, Tagebuch, 12. Sept. 1972; „7 Sought in Slaying of Cult Leader in Mexico“, Los Angeles Times, 2. September 1972, Abschnitt 3, Seite 8

  3. Lee, Tagebuch, 29. August 1972, 5., 7., 9. und 10. September 1972; Goates, Harold B. Lee, Seite 476–479; Dew, Go Forward with Faith, Seite 319; „Olympic Day of Terror Ends with 16 Dead in Gun Battles“, Salt Lake Tribune, 6. September 1972, Seite 1; Hack Miller, „Terror – And Now the World Weeps“, Deseret News, 6. September 1972, Seite A1

  4. Gordon B. Hinckley, „Holy Land Tour Thrills Pres. Lee, Elder Hinckley“, Church News, 16. Dezember 1972, Seite 5; Hinckley, Tagebuch, 19. bis 22. September 1972; Lee, Tagebuch, 20. bis 22. September 1972; Galbraith, Erinnerungsinterview, 11. Oktober 2021, Seite 12f.; Heilige, Band 1, Kapitel 35 und 36; Thema: Weihung des Heiligen Landes

  5. Hinckley, Tagebuch, 20. September 1972; John A. Tvedtnes, „A Visit with President Lee“, New Era, April 1973, Seite 6f.; Gordon B. Hinckley, „Holy Land Tour Thrills Pres. Lee, Elder Hinckley“, Church News, 16. Dezember 1972, Seite 12; David Galbraith an E. Q. Cannon Jr., 15. Januar 1972, Schweiz-Mission Zürich, Akten des Präsidenten, HAK; Taylor, „Contest and Controversy“, Seite 54ff.

  6. Lee, Tagebuch, 16. und 17. sowie 21. bis 24. September 1972; Hinckley, Tagebuch, 20. bis 22. September 1972; Dew, Go Forward with Faith, Seite 321; Goates, Harold B. Lee, Seite 486f.

  7. Thompson, Stand as a Witness, Seite 211; Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 80; Kapp, Tagebuch, 7. November 1972; Thema: Ardeth G. Kapp

  8. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 80; Thompson, Stand as a Witness, Seite 204–211

  9. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 80f.; Thompson, Stand as a Witness, Seite 211; Kapp, Tagebuch, 7. November 1972

  10. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 81; Thompson, Stand as a Witness, Seite 43–46, 64–67, 70f., 127–131, 153–157, 167–171; Karen Thomas Arnesen, „Ardeth Greene Kapp: A Prairie Girl, a Young Woman Still“, Ensign, September 1985, Seite 35, 38; Kapp, My Neighbor, My Sister, My Friend, 122f.; Lehre und Bündnisse 9:9

  11. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 81; Thompson, Stand as a Witness, Seite 211; Funk, „Ruth, Come Walk with Me“, Seite 122; „2 Priesthood-Oriented MIAs“, Church News, 11. November 1972, Seite 3, 8f.; Themen: Organisationen für Junge Männer, Organisationen für Junge Damen

  12. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 81; Thompson, Stand as a Witness, Seite 211f.

  13. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 81; Thompson, Stand as a Witness, Seite 212f.; „Moving Days Are Near“, Church News, 5. August 1972, Seite 4; Themen: Berufungen in der Kirche, Hauptsitz der Kirche

  14. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 81; Thompson, Stand as a Witness, Seite 212; „2 Priesthood-Oriented MIAs“, Church News, 11. November 1972, Seite 3, 8f.; Romney, „History of the Correlation of L.D.S. Church Auxiliaries“, Seite J3; Erste Präsidentschaft an Regionalrepräsentanten der Zwölf Apostel und andere, 9. November 1972, Erste Präsidentschaft, Rundschreiben, HAK

  15. „2 Priesthood-Oriented MIAs“, Church News, 11. November 1972, Seite 3; Mission MIA Manual, Seite 69, 74, 84; Stephen W. Gibson, „New Bishop’s Youth Council“, Church News, 3. Mai 1969, Seite 4; Victor L. Brown, „The Aaronic Priesthood MIA“, Ensign, Juli 1973, Seite 83; Pulsipher, Ruth Hardy Funk, Seite 137

  16. Peterson und Gaunt, Keepers of the Flame, Seite 112; Pulsipher, Ruth Hardy Funk, Seite 135

  17. Kapp, Erinnerungsinterview, Seite 85; Kapp, Tagebuch, 24. November und 9. Dezember 1972; 1 Nephi 3:7

  18. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 56ff.; Thema: Einschränkung bei Priestertum und Tempel

  19. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 53f., 56f.; Pfahl Rio de Janeiro in Brasilien, Manuskript der Geschichte und historische Berichte, 31. Dezember 1972; Shields, „Rio de Janeiro’s Journey to Become a Center of Strength for the LDS Church“, Seite 108; Deseret News 1989–90 Church Almanac, Seite 227–233; Martins, Martins und Martins, Erinnerungsinterview, Seite 11f.; Thema: Gemeinden und Pfähle

  20. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 54

  21. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 46, 51f.; Martins und Martins, Erinnerungsinterview, Seite 11, 18f.

  22. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 47f.

  23. Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 61

  24. Martins, Martins und Martins, Erinnerungsinterview, Seite 1, 13, 15f.; Pfahl Rio de Janeiro in Brasilien, Manuskript der Geschichte und historische Berichte, 31. Dezember 1972 und 22. Februar 1975; Martins, Autobiography of Elder Helvécio Martins, Seite 63f.; Marcus Martins an Jed Woodworth, E-Mail, 20. Juni 2022, Kopie im Besitz der Redaktion; Thema: Patriarchalischer Segen

  25. Spencer W. Kimball, Tagebuch, 6. und 7. Januar 1961, 28. März 1961, 25. Dezember 1973; Mangal Dan Dipty und John Santosh Murala, „My Journey as a Pioneer from India“, Ensign, Juli 2016, Seite 66–69; Mack, Autobiography of Olive Beth Kimball Mack, Seite 83; Kimball und Kimball, Spencer W. Kimball, Seite 1f.

  26. Haycock, Lebensgeschichte, Seite 67ff.; Spencer W. Kimball, Tagebuch, 26. Dezember 1973; Goates, Harold B. Lee, Seite 581; Themen: Harold B. Lee, Spencer W. Kimball

  27. Haycock, Lebensgeschichte, Seite 68f.; Gerry Avant, „Camilla Kimball Feels Mantle of Responsibility“, Church News, 6. Januar 1979, Seite 6; Spencer W. Kimball, Tagebuch, 26. Dezember 1973; Goates, Harold B. Lee, Seite 579

  28. Haycock, Lebensgeschichte, Seite 69, 71; Spencer W. Kimball, Tagebuch, 26. Dezember 1973; Romney, Tagebuch, 26. und 27. Dezember 1973; Kimball, Lengthen Your Stride, Seite 5; Goates, Harold B. Lee, Seite 576, 580

  29. Kimball, Lengthen Your Stride, Seite 5; Haycock, Lebensgeschichte, Seite 69f.; Spencer W. Kimball, Tagebuch, 26. Dezember 1973; Edward L. Kimball, Notizen, 26. Dezember 1973, Edward L. Kimball Papers, HAK