Kapitel 16
Bloß diesen einen Tag
Nach einem Studienjahr an der Brigham-Young-Universität beschloss Maeta Holiday, abzugehen und sich einen Job zu suchen. Sie hatte zwar mit großer Freude etliche Tanzkurse absolviert und sang und tanzte in der Lamanite Generation, einer beliebten indigenen Tanzgruppe, doch andere Studienfächer, wie beispielsweise Physik, hatte sie als zu schwierig empfunden. Anfang 1974 lebte Maeta also in Salt Lake City und arbeitete als Empfangsdame bei KSL, dem kircheneigenen Radio- und Fernsehsender.
Sie verabredete sich auch öfter mit einem zurückgekehrten Missionar namens Dennis Beck. Die beiden hatten sich im September 1973 bei einem Ball in Provo kennengelernt und den ganzen Abend miteinander getanzt. Anschließend hatte Dennis sie gefragt, ob sie nicht mit ihm in die Kirche gehen wolle.
Damit hatte Maeta überhaupt nicht gerechnet. Seit sie die Brigham-Young-Universität verlassen hatte, war sie in der Kirche nicht mehr so engagiert wie früher in Kalifornien. Dennoch folgte sie Dennisʼ Einladung und fand es mit ihm in der Gemeinde sehr angenehm. Auch in der darauffolgenden Woche ging sie gern zu den Versammlungen mit. Schon bald trafen die beiden einander regelmäßig.
So lernte Maeta Dennis besser kennen und bewunderte an ihm seine Güte und Aufrichtigkeit. Er war in der Kirche aktiv, hielt die Gebote und ging regelmäßig in den Tempel. Der in Utah geborene Dennis hatte im Norden der Vereinigten Staaten eine Mission unter der indigenen Bevölkerung erfüllt und die Menschen dort kennen und schätzen gelernt. Dort war er sich auch des Wertes seiner eigenen mexikanisch-amerikanischen Wurzeln bewusstgeworden. In seiner Gegenwart fühlte sich Maeta wohl und beschwingt.
Eines Tages, etwa sechs Monate nach ihrer ersten Begegnung, kam Dennis mit seinem alten, roten Pritschenwagen vorbei, den er selbst repariert und restauriert hatte. Sie fuhren ein wenig spazieren, und dann parkte Dennis vor dem neuen Provo-Tempel. Dort machte er Maeta einen Heiratsantrag.
Als Teenager hatte Maeta sich geschworen, niemals zu heiraten. Doch als Dennis ihr den Heiratsantrag machte, dachte sie nicht an die Scheidung ihrer Eltern oder die zahlreichen Ehen ihrer Mutter. Stattdessen kamen ihr Venna und Spencer Black in den Sinn – als Vorbild dafür, wie eine glückliche Ehe aussehen könnte. „Auch ich kann glücklich sein“, dachte sie. Und so gab sie Dennis das Jawort.
Später im Sommer, am 27. Juni, kniete Maeta im Salt-Lake-Tempel Dennis gegenüber. Sie trug ein selbstgenähtes Kleid mit hoch geschnittener Taille und Spitze als oberster Stofflage. Die Spiegelbilder des Paares in den parallel hängenden Wandspiegeln schienen sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Maetas Pflegeeltern Venna und Spencer und deren Tochter Lucy saßen mit ihnen im Siegelungsraum.
„Ich bin stolz auf dich“, hatte Venna gesagt, als sie von Maetas Verlobung erfuhr. „Wir haben viel Zeit auf den Knien verbracht und dafür gebetet, dass du die richtigen Entscheidungen triffst.“
Als Maeta mit Dennis am Altar kniete, war sie dankbar dafür, dass Venna so eifrig gebetet hatte. Sie war von Freude erfüllt. Dennis zu heiraten war die richtige Entscheidung, das wusste sie.
Später fuhr das junge Paar nach Arizona, wo Maeta Dennis ihrer Mutter vorstellen wollte. Evelyn war von Dennis beeindruckt. Sie mochte seinen Sinn für Humor, seine Ehrlichkeit und sein konsequentes Befolgen des Wortes der Weisheit.
„Er ist ein guter Mann“, sagte sie zu Maeta. Sie war mit der Wahl ihrer Tochter einverstanden.
„Wie müde ich doch bin! Wirklich ausgelaugt heute Abend“, dachte Belle Spafford, als sie am 5. Oktober 1974 im Bett lag. Kurz zuvor in derselben Woche hatte Präsident Spencer W. Kimball sie bei der jährlich stattfindenden Konferenz der Frauenhilfsvereinigung aus ihrer Berufung als Präsidentin entlassen. Diese Nachricht hatte die anwesenden Schwestern so bestürzt und enttäuscht, dass ein lautes Aufseufzen durch das gesamte Tabernakel in Salt Lake City ging. Aber Belle hatte gewusst, dass die Entlassung bevorstand. Sie begrüßte sie als den Willen des Herrn.
Doch ihre Gedanken rasten. „Denk an dies! Denk an das!“, klang es in ihrem Kopf. Sie wollte ihre Gedanken zu Papier bringen, also stieg sie aus dem Bett und begann zu schreiben. „Warum sollte ich schlafen“, fragte sie sich, „wo es doch für mich so viel Herrliches gegeben hat, was ich in Erinnerung behalten sollte?“
Sie dachte aber auch an das Gefühl der Unzulänglichkeit, das über sie gekommen war, als die Erste Präsidentschaft sie im April 1945 berufen hatte, Amy Brown Lyman abzulösen. Jetzt, neunundzwanzig Jahre später, war sie länger im Amt gewesen als jede andere Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung der Kirche zuvor.
In diesen Jahren hatte sie viele persönliche Probleme bewältigen müssen. Sie hatte gegen ihren Brustkrebs gekämpft und den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter verkraften müssen. Doch unter ihrer Leitung kümmerte sich die Organisation um die Opfer des Zweiten Weltkriegs, errichtete das FHV-Gebäude, führte abendliche FHV-Treffen für berufstätige Frauen ein, förderte Programme zur Missbrauchsprävention und zur Adoption von Kindern und leistete durch weitere soziale Dienste zusätzliche Hilfe im Gemeinwesen.
In jüngster Zeit hatten Belle und der Hauptausschuss die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Frauenhilfsvereinigung geändert, um mehr Frauen zur Teilnahme zu bewegen. Zuvor hatten sich die Frauen bei der Organisation anmelden und einen jährlichen Mitgliedsbeitrag entrichten müssen. Diese Gebühren waren nun abgeschafft: Jede Frau in der Kirche wurde automatisch in die Frauenhilfsvereinigung aufgenommen, sobald sie achtzehn Jahre alt wurde.
„Es waren arbeitsreiche, anstrengende und schwierige Jahre, die aber auch unermesslich lohnend waren“, schrieb Belle. Der Herr war gut zu ihr gewesen. „Viele, viele Male hat er mir Ideen eingegeben und sogar Worte in den Mund gelegt, die es mir ermöglicht haben, schwierige Situationen zu meistern oder hartnäckige Hindernisse zu beseitigen.“
Ihre Nachfolgerin, Barbara B. Smith, würde die gleiche göttliche Hilfe benötigen, um die Frauenhilfsvereinigung in die sich ständig verändernde Zukunft zu führen. Während der letzten Jahre von Belles Amtszeit als Präsidentin hatte in den Vereinigten Staaten die Frauenrechtsbewegung Fahrt aufgenommen. Viele Frauen, junge wie alte, stellten die traditionellen Geschlechterrollen in Frage und wandten sich gegen die ungerechte und ungleiche Behandlung von Frauen.
1972 hatte der Kongress der Vereinigten Staaten einem Zusatzartikel zur Verfassung zugestimmt, in dem man für die Gleichberechtigung der Frau plädierte und damit ähnlichen Gesetzesinitiativen in anderen Ländern gefolgt war. Ziel des Zusatzartikels war es, letztlich die Verfassung der Vereinigten Staaten dahingehend anzupassen, dass sie Frauen explizit die gleichen Rechte wie Männern gewährleistete. Nun diskutierte die amerikanische Öffentlichkeit über die Zukunft des Verfassungszusatzes. Bei Zustimmung von drei Viertel der Bundesstaaten würde er in den gesamten Vereinigten Staaten zu einer Gesetzesänderung führen.
Einigen schien das eine gute Lösung für die seit langem bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten im Rechtssystem zu sein. Andere, darunter viele Mitglieder der Kirche, waren sich da nicht so sicher.
Belle hatte kürzlich in einer Rede vor einer Gruppe von Geschäftsleuten in New York ihre Ansichten über den Verfassungszusatz und die aufkommende Frauenbewegung dargelegt. „Es gibt einige Punkte, für die sich Frauen einsetzen und die Unterstützung verdienen“, sagte sie. Darunter seien gleicher Lohn für gleiche Arbeit und faire Einstellungspraktiken. Sie befürchtete jedoch, dass die Frauenbewegung zu einer Schwächung der Rolle der Frau als Ehefrau, Mutter und Hausfrau führen werde. Belle vertrat die Ansicht, dass Frauenrechte auf kommunaler, bundesstaatlicher und Bundesebene Eingang finden sollten, nicht jedoch durch eine Verfassungsänderung.
Als Belle in jener Nacht wach blieb und über ihre lange Amtszeit als Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung nachdachte, empfand sie Dankbarkeit, gemischt mit einem Gefühl der Erleichterung und Freude darüber, dass ihre zahlreichen Zuständigkeiten nun auf neuen Schultern ruhten. „In meiner Seele“, schrieb sie, „spüre ich ein Gefühl des Friedens und eine positive Verheißung für die Zukunft – für meine persönliche Zukunft und die meiner geliebten Frauenhilfsvereinigung.“
Erfüllt von diesem Gefühl des Friedens konnte sie nun endlich schlafen. „Heute Nacht werde ich mich ausruhen“, schrieb sie, „denn ich habe im Herzen die Gewissheit, dass alles wohl ist.“
Billy Johnson entdeckte in Cape Coast in Ghana etwa um diese Zeit die Bilder und Namen früherer Präsidenten der Kirche auf der Titelseite einer lokalen, religiös geprägten Zeitung. Zusätzlich dazu enthielt die Zeitung Artikel, welche die Kirche und ihre Führer verunglimpften. Das Ziel war eindeutig, Zweifel unter den Mitgliedern von Billys wachsender Gemeinde zu säen.
Billy und die der Kirche gewogenen Gläubigen waren schon oft wegen ihres Glaubens an das wiederhergestellte Evangelium kritisiert worden. Einige beschimpften Billy, weil er die Religion, mit der er aufgewachsen war, aufgegeben hatte. Sie behaupteten, die Heiligen verehrten Joseph Smith und glaubten nicht an Gott. Andere prangerten an, dass Schwarze in der Kirche ja nicht das Priestertum trugen. Sie verspotteten Billy und seine Gemeinde und meinten, sie würden nur ihre Zeit verschwenden.
Es war schwer, inmitten solcher Angriffe treu zu bleiben. Ein Jahr zuvor waren die Mitglieder der Gemeinde enttäuscht und entmutigt gewesen, weil nach so vielen Jahren noch immer niemand gekommen war, um sie zu taufen. Billy hatte sie sofort aufgefordert, gemeinsam mit ihm zu fasten und zu beten. Dabei hatten einige die starke Eingebung erhalten, dass sehr bald Missionare nach Ghana kommen würden.
Obwohl das die Gemeinde beruhigt hatte, hörten die Anfeindungen nicht auf. Einige Mitglieder waren besorgt, weil nun auch die Zeitung die Propheten kritisierte und sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten. Billy betete mit ihnen und mahnte sie, solchen Zeitungen keinerlei Beachtung zu schenken. „Werft sie einfach weg“, forderte er sie auf.
Aber insgeheim fühlte sich auch Billy verunsichert. Eines Abends ging er ins Versammlungsgebäude, um dort zu beten. „Vater, auch wenn ich glaube, dass dies heute die wahre Kirche auf Erden ist“, sprach er, „brauche ich mehr Kraft und mehr Bestätigung, um dafür Zeugnis zu geben.“
Er flehte den Herrn an, sich zu offenbaren. Dann schlief er ein und träumte, der von Licht erfüllte Salt-Lake-Tempel komme vom Himmel herabgeschwebt und umgebe ihn. „Johnson, verliere nicht den Glauben an meine Kirche“, hörte er die Stimme des Herrn sagen. „Ob du es glaubst oder nicht, dies ist heute meine wahre Kirche auf Erden.“
Als Billy erwachte, tangierten ihn die Anfeindungen nicht länger. „Der Vater hat gesprochen“, sagte er. „Ich werde keine Angst mehr haben.“
In den darauffolgenden Tagen fühlte sich Billy jedes Mal im Glauben gestärkt, wenn er hörte, dass jemand die Kirche kritisierte, und er setzte alles daran, seine Glaubensgenossen zu stärken. „Es wird eine Zeit geben, in der die Kirche emporkommen wird“, bezeugte er. „Wir werden die Schönheit der Kirche erleben.“
1974, fünf Jahre nach dem Ende ihrer Tätigkeit als Leiterin des Songjuk-Waisenhauses, eröffnete Hwang Keun Ok in Seoul in Südkorea ein neues Heim für Mädchen. Sie kümmerte sich nun um siebzehn Mädchen, von denen einige der Kirche angehörten, und war bestrebt, mit Hilfe der Stiftung Tender Apples für weitere Mädchen Adoptivfamilien zu finden. Die Stiftung unterstützte auch andere Organisationen für Kinder, darunter ein Waisenhaus für Jungen. Keun Ok wollte auch den jüngsten Kindern, die in Korea in prekären Verhältnissen lebten, Bildung zukommen lassen und eröffnete daher eine Vorschule.
Die Tender Apples traten noch immer im Fernsehen auf und gaben Konzerte, wenn auch in kleinerer Besetzung als die damalige Gesangsgruppe im Waisenhaus. Die Mädchen hatten viel zu tun, und Keun Ok sorgte dafür, dass sie sich bei ihr heimisch fühlten. Jeden Montag versammelte sie alle zu einem Familienabend.
Wenn Keun Ok nicht gerade für ihre Mädchen sorgte, kümmerte sie sich als FHV-Präsidentin um die Frauen in ihrem Distrikt. Ihre Berufung brachte sie mit Eugene Till, dem neu berufenen Präsidenten der Korea-Mission, in Kontakt. Präsident Till beunruhigte die Tatsache, dass viele Koreaner immer noch nichts über die Kirche wussten, obwohl in Seoul ein blühender Pfahl und ein Religionsinstitut existierten. Weniger als 10 Prozent der Koreaner, so hatte Präsident Till erfahren, kannten den vollständigen Namen der Kirche. Und diejenigen, die von der Kirche wussten, hatten nicht immer eine gute Meinung von ihr. Zudem beschränkte die Regierung die Zahl der im Land zugelassenen amerikanischen Missionare.
Aber Präsident Till hoffte, die Regierung wäre vielleicht bereit, die Beschränkungen bei der Missionsarbeit zu lockern, wenn er den koreanischen Beamten beweisen könnte, dass die Kirche auf die Familie ausgerichtet ist.
Eines Tages wandte er sich hilfesuchend an Keun Ok. Einige Missionare bauten in ihre Unterweisungen Musik ein. Wie die Osmonds glaubten sie, dass populäre Musik, gekoppelt mit Botschaften über das wiederhergestellte Evangelium, die Menschen inspirieren könne. Ein Jahr zuvor hatten die Osmonds das anspruchsvolle Rockalbum The Plan veröffentlicht, an dem sie mehrere Jahre gearbeitet hatten. Musikalisch gesehen klang das Album so ähnlich wie das, was auch andere Popbands herausbrachten. Aber die Brüder hatten den besonderen Schwerpunkt darauf gelegt, Songs über die einzelnen Stufen des Erlösungsplans zu schreiben, vom vorirdischen Dasein bis zur Erhöhung. Obwohl Kritiker das Album aufgrund der Thematik rund um die Kirche Jesu Christi bemäkelten, erreichte seine am Evangelium ausgerichtete Botschaft zahlreiche junge Menschen in Nordamerika, Europa und Australien.
Die musikalischen Bemühungen der Missionare in Südkorea waren im Vergleich dazu bescheiden, aber ihre Ziele waren die gleichen. Der Leiter der Gruppe, Elder Randy Davenport, textete die meisten Songs für die Gruppe, und Elder Mack Wilberg schrieb die Arrangements. Das Ensemble nannte sich New Horizon.
Präsident Till erkannte das Potenzial und fragte Keun Ok, ob die Tender Apples bei einem Weihnachtskonzert neben New Horizon auftreten würden. Keun Ok schätzte die Chance für die Tender Apples, das wiederhergestellte Evangelium zu verbreiten, und nach Rücksprache mit Stan Bronson, dem Mitbegründer der Gruppe, stimmte sie dem gemeinsamen Konzert zu.
Das Weihnachtskonzert war ein großer Erfolg, und alle waren sich einig, dass New Horizon und die Tender Apples gut zusammenpassten. Sie begannen, gemeinsam durchs Land zu touren, und fanden in Fernseh- und Radiosendungen ein breites Publikum. Besonders beliebt waren die Tender Apples auf Militärstützpunkten, wo sich viele Zuhörer an ihre eigenen Kinder in den Vereinigten Staaten erinnert fühlten. Die Missionare der Gruppe New Horizon waren wiederum beim koreanischen Publikum beliebt, das es toll fand, wenn amerikanische Künstler auf Koreanisch sprachen und sangen. Die beiden Ensembles nahmen schließlich sogar gemeinsame Platten auf.
Keun Ok hatte früher ihren Glauben geheim halten müssen. Nun nannten die Tender Apples und New Horizon den Namen der Kirche bei jedem Auftritt und jedem Interview. Bei Konzerten waren Vollzeitmissionare anwesend, um den Besuchern mehr über die Kirche zu erzählen. Das führte dazu, dass Missionare, die von Tür zu Tür gingen, nun häufiger eingelassen wurden – die Leute sagten, dass sie den Namen der Kirche von einem Konzert oder einem Album her kannten. Mitunter arrangierten die Missionare ein Konzert eigens an einem bestimmten Veranstaltungsort, um dadurch in der dortigen Gegend die Anzahl an interessierten Menschen zu erhöhen.
Als die Tender Apples und New Horizon immer bekannter wurden, führte Präsident Till eine Umfrage durch und stellte fest, dass nunmehr bereits acht von zehn Einwohnern in und um Seoul von der Kirche gehört hatten. Noch wichtiger war, dass der Eindruck, den die meisten Menschen von der Kirche hatten, sehr positiv war.
Obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen und Kulturen stammten, hatten New Horizon und die Tender Apples gemeinsam dazu beigetragen, das Evangelium zu verbreiten – mit einem Lied nach dem anderen.
Henry und Inge Burkhardt waren im April 1975 tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Auf Einladung der Ersten Präsidentschaft waren sie von der DDR nach Utah gereist, um an der Generalkonferenz teilzunehmen. Diese Reise stellte für das Ehepaar eine ganz seltene Gelegenheit dar – lebte es doch in einem Land, das seine Grenzen und seine Bürger streng überwachte.
Henry war allerdings nicht zum ersten Mal in Salt Lake City. Präsident Joseph Fielding Smith und seine Ratgeber hatten Inge und ihn bereits vier Jahre zuvor zur Generalkonferenz eingeladen. In dem Wissen, dass die DDR-Behörden die Einladung lesen würden, hatte die Erste Präsidentschaft in einem respektvollen Schreiben ihre Hoffnung auf Weltfrieden, universelle Brüderlichkeit und andere Ideale, zu denen sich die DDR bekannte, zum Ausdruck gebracht. Die Regierung hatte Henrys Reiseantrag genehmigt, und so hatte er 1972 an der Generalkonferenz teilnehmen können.
Damals hatten die DDR-Behörden Inge jedoch nicht gestattet, mitzufahren, weil sie befürchteten, das Paar werde nicht zurückkehren, wenn es das Land gemeinsam verlassen dürfe. In den beiden darauffolgenden Jahren hatten jedoch beide Ratgeber Henrys in der Präsidentschaft der Mission Dresden die Erlaubnis erhalten, gemeinsam mit ihrer Ehefrau zur Generalkonferenz zu reisen, was die Burkhardts hoffen ließ, dass Inges nächster Antrag ebenfalls genehmigt werden würde. Als sie jedoch die Genehmigung für die Teilnahme an der Konferenz 1975 beantragten, wurde Inges Antrag erneut abgewiesen.
Die Führer der Kirche in Salt Lake City erfuhren von Inges Problemen und sprachen im Tempel ein Gebet eigens für sie. Und als dann Henry und Inge gegen die Ablehnung des Antrags Berufung einlegten, wurde das Visum nun doch offenbar problemlos erteilt.
Die Teilnahme an der Konferenz war bewegend. Spencer W. Kimball eröffnete zum dritten Mal als Präsident der Kirche die Generalkonferenz. Seine Botschaft richtete sich an Heilige in aller Welt. Es existierten ja weltweit nahezu 700 Pfähle und 150 Missionen, und im vergangenen Jahr hatte Präsident Kimball sogar die Möglichkeit gehabt, auf Gebietskonferenzen in Südamerika und Europa mit den dortigen Heiligen zusammenzukommen. Er hatte einen Tempel in Washington geweiht, kündigte nunmehr einen neuen in São Paulo an und begann mit der Planung eines Tempels in Mexiko-Stadt. Bei seinen Zusammenkünften mit den Heiligen spornte er sie oft an, „größere Schritte zu machen“, also ihre Bemühungen bei der Verbreitung des Evangeliums zu verstärken.
Als er nun auf der Generalkonferenz sprach, forderte er die Mitglieder auf, ein sittlich einwandfreies Leben zu führen. Er verurteilte Pornografie und Abtreibung, die vor kurzem in den Vereinigten Staaten legalisiert worden war. Er hielt die Heiligen auch dazu an, sich einen Garten anzulegen, das Evangelium weiterzutragen und in ihrem Heimatland die Kirche aufzubauen. „Die Sammlung Israels“, so erklärte er, „erfolgt dadurch, dass in fernen Ländern Menschen das Evangelium annehmen und in ihrem Heimatland bleiben.“
Es war eine Botschaft, die Henrys und Inges Erfahrungen in der Kirche vollkommen widerspiegelte. Als sie zwanzig Jahre zuvor beschlossen hatten, in die DDR zurückzukehren, nachdem sie im Schweizer Tempel gesiegelt worden waren, hatten sie der Möglichkeit, ihre Religion frei auszuüben und regelmäßig den Tempel zu besuchen, eine Absage erteilt. Aber ihr Beispiel und ihre Führungsqualitäten hatten dazu beigetragen, die Heiligen nicht nur in der DDR zu sammeln, sondern auch in den Nachbarländern Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei, wohin Henry und weitere Führer der Kirche aus der DDR immer wieder fuhren.
Bevor Henry nach Hause zurückkehrte, sprach er mit Präsident Kimball über das Abmühen der Kirche mit der DDR-Regierung. Präsident Kimball bezweifelte, dass die Kirche ihr Ansehen dort durch politische Verhandlungen verbessern könne. „Wenn Sie wollen, dass sich die Dinge in der DDR ändern, dann muss das bei Ihnen persönlich beginnen“, erklärte er Henry. „Sie müssen sich zwingen, mit den Kommunisten warm zu werden. Sie dürfen ihnen gegenüber keinen Groll hegen. Sie müssen Ihre gesamte Einstellung und Haltung ändern.“
Was der Prophet vorschlug, überraschte Henry. „Sie kennen die Kommunisten nicht“, wollte er eigentlich erwidern. „Man kann keine gute Beziehung zu ihnen aufbauen. Sie sind gegen Religion.“ Er erinnerte sich an die vielen Fälle, in denen die Behörden ihn schikaniert und sogar damit gedroht hatten, ihn ins Gefängnis zu werfen.
Der Gedanke, mit ihnen warm werden zu wollen, war abstoßend.
Im vom Krieg erschütterten Vietnam trat an einem strahlend schönen Sonntag Nguyen Van The, der Präsident des Zweiges Saigon, durch das äußere Tor einer Villa im französischen Stil, die als Gemeindehaus diente. Sofort umringten ihn die Mitglieder des Zweiges. Ihre Gesichter spiegelten Enttäuschung wider – doch zugleich Hoffnung. „Präsident The! Präsident The!“, riefen sie. „Haben Sie Neuigkeiten?“
Es gab zwar Neuigkeiten, aber er war sich nicht sicher, wie die Mitglieder des Zweiges darauf reagieren würden. Er ging zur Tür der Kapelle. Die Heiligen folgten ihm und riefen ihm weitere Fragen zu. Ohne zu antworten, schüttelte er Hände und klopfte den Leuten auf die Schulter. Cong Ton Nu Tuong-Vy, die Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung und Hauptübersetzerin des Buches Mormon ins Vietnamesische, berührte ihn am Arm.
„Was raten Sie mir, Präsident The?“, fragte sie. „Was soll ich den Schwestern sagen?“
„Kommen Sie herein, Schwester Vy“, sagte er. „Ich werde Ihnen alles, was ich weiß, nach der Abendmahlsversammlung erzählen.“ Anschließend forderte er alle Anwesenden auf, Ruhe zu bewahren. „Alle Ihre Fragen werden beantwortet.“
Vietnam war jahrzehntelang ein geteiltes Land gewesen. Der Konflikt war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ausgebrochen, als vietnamesische Streitkräfte die französischen Kolonialherren vertrieben, die Vietnam seit dem späten neunzehnten Jahrhundert regiert hatten. Als sich rivalisierende Parteien in Südvietnam der kommunistischen Herrschaft widersetzten, war in der Region ein heftiger Guerillakrieg ausgebrochen. Amerikanische Streitkräfte hatten fast ein Jahrzehnt lang an der Seite der Südvietnamesen gekämpft. Aber in den Vereinigten Staaten hatten die hohen Verluste dazu geführt, dass sich die öffentliche Meinung gegen eine weitere amerikanische Beteiligung wandte, was zu einem sukzessiven Rückzug aus dem Krieg führte. Die nordvietnamesischen Streitkräfte näherten sich nun der im Süden gelegenen Hauptstadt Saigon. Alle noch verbliebenen Amerikaner verließen die Stadt.
Mit dem Eintreffen der nordvietnamesischen Streitkräfte drohte nunmehr dem Zweig Saigon das Aus. Diesem hatten sich jeden Monat neue Mitglieder angeschlossen – bis eine Woche zuvor der letzte Missionar das Land verlassen hatte. Mehr als zweihundert vietnamesische Heilige hatten regelmäßig gemeinsam mit ihren Schwestern und Brüdern aus den Vereinigten Staaten Gottesdienste abgehalten. Nun fürchteten die vietnamesischen Heiligen, die Nordvietnamesen würden sie wegen dieser Verbindung bestrafen. Einige Mitglieder hatten sich bereits auf den Weg gemacht, viele von ihnen schlossen sich den Menschenmengen auf dem Luftwaffenstützpunkt an in der Hoffnung, aus dem Land fliehen zu können.
Als Präsident The die Kapelle betrat und vorne im Raum Platz nahm, konnte er das Grollen von Artilleriefeuer hören. Einige Detonationen klangen erschreckend nah. Die bittere Ironie des Augenblicks war ihm nicht entgangen. Der Krieg hatte die amerikanischen Soldaten gebracht, die ihn und so viele vietnamesische Heilige mit dem wiederhergestellten Evangelium bekanntgemacht hatten. Nun zerriss derselbe Krieg den Zweig. Ihm war, als sei er bei der Beerdigung seiner kleinen Gemeinde.
Präsident The stand auf und ging zum Pult. Etwa 125 Mitglieder blickten ihn an. Sie sahen besorgt aus, viele weinten. Auch er war aufgewühlt, doch er blieb gefasst, als er die Abendmahlsversammlung eröffnete. Die Gläubigen sangen „Kommt, Heilge, kommt!“ und nahmen vom Abendmahl. Dann gab Präsident The Zeugnis und forderte die Heiligen auf, dasselbe zu tun. Aber als die Mitglieder aufstanden und Zeugnis ablegten, konnte er sich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Die Heiligen blickten in dieser Zeit der Krise auf ihn – doch er fühlte sich unzulänglich.
Nach der Versammlung teilte The den Heiligen mit, dass die US-Botschaft bereit sei, Mitglieder sowie alle, die sich auf die Taufe vorbereiteten, zu evakuieren. Heilige mit Familienangehörigen, die nicht der Kirche angehörten, mussten jedoch entweder ihre Angehörigen zurücklassen oder im Land bleiben. Diese Nachricht löste bei einigen einen Aufschrei des Entsetzens aus. „Was ist mit meiner Familie?“, riefen sie. „Ich kann doch nicht ohne meine Familie weggehen!“
Mit Hilfe der Mitglieder des Zweiges wurde eine Evakuierungsliste erstellt, in der festgelegt wurde, wer zuerst das Land verlassen durfte. Trotz der Weisung der Botschaft enthielt die Liste Dutzende Namen von Familienangehörigen und Freunden, die nicht der Kirche angehörten. Thes Frau Lien und ihre drei kleinen Kinder waren unter den Heiligen auf der Liste. Die Mitglieder des Zweiges bestanden darauf, dass Thes Familie sofort ausreise, damit er sich voll und ganz auf die Evakuierung der anderen konzentrieren könne. Als Zweigpräsident sah The es als seine Pflicht an, als Letzter zu gehen.
Einige Stunden später flogen Lien und die Kinder zusammen mit Liens Mutter und ihren Schwestern aus Saigon ab.
Am folgenden Tag beschossen die Nordvietnamesen den Flughafen Saigons, beschädigten die Landebahn und verhinderten die Landung von Militärtransportflugzeugen. In den folgenden achtundvierzig Stunden evakuierten Hubschrauber die verbliebenen Amerikaner und alle vietnamesischen Flüchtlinge, die hineinpassten. The eilte zur US-Botschaft in der Hoffnung, für sich und die anderen noch in der Stadt befindlichen Heiligen eine Möglichkeit zur Ausreise zu finden. Als er dort ankam, stand das Botschaftsgebäude in Flammen und beißender Rauch verdunkelte den Himmel. Vor dem Gebäude hatten sich Feuerwehrleute und Menschenmassen versammelt, aber die Botschaft selbst war leer. Die Amerikaner hatten die Stadt bereits verlassen.
In dem verzweifelten Versuch, den verbliebenen Mitgliedern des Zweiges zur Flucht zu verhelfen, schwangen sich The und ein weiterer Heiliger namens Tran Van Nghia auf ein Motorrad, um zum Internationalen Roten Kreuz zu fahren und dort um Hilfe zu bitten. Doch schon bald kam ihnen eine Menschentraube entgegen, die in Panik eine Einbahnstraße hinunterrannte. Ein Panzer mit einer großen Kanone rollte rasch auf sie zu.
Nghia fuhr von der Straße ab, und The und er sprangen in einen Graben, wo sie sich versteckten. Der Panzer rumpelte an ihnen vorbei und ließ den Boden erzittern.
Saigon war nun in nordvietnamesischer Hand.
Eine Woche später, im Mai 1975, stieg Le My Lien aus einem überfüllten Bus. Sie war in einem Militärlager in der Nähe von San Diego in Kalifornien an der Westküste der Vereinigten Staaten angekommen. Vor ihr erstreckte sich eine weitläufige Zeltstadt, in der achtzehntausend vietnamesische Flüchtlinge untergebracht waren. Gras und Sand bedeckten das Gelände, nur vereinzelt standen Bäume am Horizont. Kinder liefen in viel zu großen Militärjacken herum, und die Erwachsenen gingen mit ausdrucksloser Miene ihrer Alltagsroutine nach.
Obwohl Lien ja ihre Mutter und ihre Schwestern bei sich hatte, fühlte sie sich verloren. Ihr war von der Reise zum Lager übel. Sie hatte kein Geld und sprach kaum Englisch. Und sie musste sich um ihre drei Kinder kümmern, während sie auf Nachrichten von ihrem Mann in Vietnam wartete.
An ihrem ersten Tag im Lager wurden Lien und andere Mitglieder des Zweiges Saigon – zumeist Frauen – von Freiwilligen mit Ansteckern begrüßt, die sie als Mitglieder des örtlichen kalifornischen Pfahles auswiesen. Eine adrett gekleidete Frau stellte sich als Dorothy Hurley vor, Präsidentin der Pfahl-Frauenhilfsvereinigung. Sie und weitere freiwillige Helfer des Pfahles verteilten Lebensmittel, Kleidung und Medikamente an die geflüchteten Heiligen, teilten sie in Heimlehrdistrikte ein und richteten eine Primarvereinigung und eine Frauenhilfsvereinigung ein. Für Lien sahen die FHV-Schwestern wie Engel aus.
Die Mitglieder des Zweiges Saigon verbrachten den Nachmittag mit einer Besichtigung des Lagers. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als Lien und ihrer Familie der Speisesaal, das Häuschen des Roten Kreuzes und die Toiletten gezeigt wurden. Der lange Fußmarsch dauerte den ganzen Nachmittag. Lien war erschöpft. Sie wog nicht einmal vierzig Kilogramm, und ihr Körper war zu schwach, um für ihre kleine Tochter Linh Milch zu produzieren.
In dieser Nacht tat Lien ihr Bestes, um es ihren Kindern bequem zu machen. Das Lager hatte ihr nur ein Feldbett zur Verfügung gestellt, Decken gab es keine. Ihre Söhne Vu und Huy drängten sich auf dem Bett zusammen, während das Baby in einer Hängematte schlief, die Lien aus einem Laken und Gummiriemen gebastelt hatte.
Lien selbst konnte sich nirgends hinlegen, also schlief sie, auf dem Rand des Feldbetts sitzend, an eine Zeltstange gelehnt. Die Nächte waren kalt, und die kühle Luft trug nicht dazu bei, dass sich ihr Gesundheitszustand verbesserte. Bald wurde bei ihr Tuberkulose diagnostiziert.
Trotz ihrer Erkrankung stand Lien jeden Morgen früh auf, um sechs Fläschchen mit Muttermilchersatz für ihr Baby zu holen und den Jungen eine Mahlzeit zu verschaffen. Zur Essenszeit war der Speisesaal überfüllt mit Menschen, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Mit ihrer Tochter auf dem Arm half sie ihren Söhnen beim Auffüllen und Tragen der Teller. Erst wenn die Jungs mit dem Essen fertig waren, ging sie zurück, um sich selbst eine Portion zu holen.
Lien tat das Herz weh, wenn sie andere Kinder sah, die hungrig in der Schlange warteten. Da die Rationen im Speisesaal schnell zur Neige gingen, reichte Lien einen Teil ihrer Mahlzeit oft an diese Kinder weiter, um sicherzustellen, dass auch sie etwas zu essen bekamen. Einige teilten im Gegenzug dann ihre Karotten und Brokkoli mit ihr.
Lien betete unablässig, dass ihr Mann stark bleiben möge. Sie glaubte, wenn sie ihre Tortur überleben könne, werde er auch seine überstehen. Seit dem Abflug aus Saigon hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Aber nach einigen Wochen im Militärlager suchte Elder A. Theodore Tuttle vom Ersten Rat der Siebziger Lien dort auf und übergab ihr eine persönliche Nachricht von Präsident Spencer W. Kimball, der kurz vor Liens Ankunft das Lager besucht hatte und mit den Flüchtlingen zusammengekommen war.
„Ich bezeuge, dass Ihr Mann bewahrt wird“, lautete die Mitteilung des Propheten, „und dass Sie als Familie zu der vom Herrn bestimmten Zeit wieder vereint werden.“
Als Lien nun jeden Morgen ihr weinendes Baby wiegte, weinte auch sie. „Bitte“, flehte sie den Herrn an, „lass mich bloß diesen einen Tag überstehen.“