Kapitel 18
Alle Segnungen des Evangeliums
Am Nachmittag des 9. März 1977 stand Helvécio Martins mit Nachrichtenreportern auf der Tempelbaustelle in São Paulo in Brasilien. Präsident Spencer W. Kimball war zur Grundsteinlegung des Tempels gekommen. Etwa dreitausend Menschen waren da, um der Zeremonie beizuwohnen, einige mit Schirmen, um sich vor der prallen Sonne zu schützen. Als Leiter der Öffentlichkeitsarbeit für die Region Brasilien Nord war Helvécio für die Kirche vor Ort, um den Reportern, die über das Ereignis berichteten, bei Bedarf weitere Auskünfte zu erteilen.
Helvécio hatte drei Jahre zuvor die Berufung angenommen, für die Öffentlichkeitsarbeit der Kirche tätig zu sein. Er hatte das als außergewöhnlichen Vertrauensbeweis gegenüber einem neuen Mitglied empfunden. Doch er ließ sich ganz auf die Berufung ein und nutzte seine Bekanntheit als Geschäftsmann, um wichtige Kontakte zu den Medien zu knüpfen und der Kirche Türen zu öffnen.
Zu Helvécios neuen Aufgaben gehörte es auch, den Tempel publik zu machen. Das Gebäude war zu etwa einem Drittel fertiggestellt, die Mauern ragten bereits hoch über den Boden hinaus. Emil Fetzer, der leitende Architekt der Kirche, hatte sich für die Außenfassade des Tempels weißen italienischen Marmor gewünscht. Das stellte sich jedoch – ebenso wie andere Optionen – als nicht durchführbar heraus. Schließlich holte er einen Handwerker herzu, der den einheimischen Mitgliedern beibrachte, wie man direkt auf dem Tempelgelände Kunststeinblöcke herstellte.
Die brasilianischen Heiligen hatten, zusammen mit Mitgliedern aus anderen Teilen Südamerikas und ebenso aus Südafrika, unzählige Opfer gebracht, um den Tempelbau mitzufinanzieren. In Brasilien übernahmen die Heiligen fünfzehn Prozent der Gesamtkosten. Helvécios Frau Rudá hatte dem Fonds Schmuckstücke gespendet, die sie von ihren Eltern bekommen hatte.
Helvécio und Rudá freuten sich zwar auf die Fertigstellung des Tempels, aber es schmerzte sie, dass sie nicht an Endowments und Siegelungen teilnehmen konnten, weil sie Schwarze waren. Bei einem Spaziergang durch die Stahlgerüste und die unfertigen Stockwerke des Tempels blieben sie plötzlich stehen. Der Heilige Geist hatte ihr Herz berührt. Sie standen an der Stelle, wo sich der celestiale Saal befinden sollte.
Sie umarmten einander und weinten. „Mach dir keine Sorgen“, sagte Helvécio, „der Herr weiß alles.“
Während Helvécio auf den Beginn der Zeremonie wartete, fiel sein Blick auf Präsident Kimball, der neben den Mauern des Tempels auf einer kleinen Tribüne saß. Der Prophet schien ihn heranzuwinken, aber Helvécio war sich nicht sicher. Er sah, wie Präsident Kimball Elder James E. Faust etwas zuflüsterte, einem neu berufenen Mitglied des Ersten Kollegiums der Siebziger, der in den 1940er Jahren auf Mission in Brasilien gewesen war. Elder Faust sah Helvécio an. „Kommen Sie“, bedeutete er ihm. „Er möchte mit Ihnen sprechen.“
Helvécio entschuldigte sich rasch bei seinem Sitznachbarn und bahnte sich einen Weg zur Tribüne. Präsident Kimball erhob sich und umarmte ihn. Dann legte er den Arm um ihn und sah zu ihm auf. „Bruder, die Devise für Sie lautet Glaubenstreue“, sagte er. „Bleiben Sie dem Glauben treu, dann werden Sie alle Segnungen des Evangeliums erlangen.“
Helvécio empfand das als nette Geste, aber er war verwirrt. Was hatte Präsident Kimball gemeint?
Nachdem der Grundstein gelegt und die Zeremonie beendet worden war, ging Präsident Kimball auf Helvécio zu und reichte ihm die Hand. Die andere Hand legte er auf Helvécios Arm.
„Vergessen Sie es nicht, Bruder Martins“, beschwor er ihn. „Vergessen Sie es nicht!“
Etwas später im selben Jahr sah Henry Burkhardt in der DDR bei einer Sonderversammlung der Kirche in Dresden eine Staatsbeamtin in der ersten Reihe sitzen. Sie hieß Frau Fischer, und sie beaufsichtigte die religiösen Aktivitäten in der Gegend. Über zwei Jahre lang hatte Henry keine große Mühe darauf verwendet, sich mit den lokalen Behörden auf guten Fuß zu stellen. Er hatte Frau Fischer rein aus Pflichtgefühl benachrichtigt.
Die Versammlung war deshalb etwas Besonderes, weil Präsident Kimball ihr beiwohnte. Er beendete gerade eine Reise durch sieben europäische Länder und hatte nur wenige Stunden Zeit, um die Heiligen in der DDR zu besuchen. Die Veranstaltung fand an einem Nachmittag unter der Woche statt – eine ungünstige Zeit für eine Versammlung –, aber gut zwölfhundert Heilige belegten sämtliche Sitz- und Stehplätze.
Henry hatte keine Ahnung, worüber Präsident Kimball sprechen wollte. Die DDR-Regierung nahm stets alles unter die Lupe, was Führer der Kirche äußerten. Henry und andere ostdeutsche Heilige waren oftmals besorgt, wenn eine Generalautorität öffentlich den Kommunismus verurteilte. Solche Aussagen stellten einen Angriff auf die Regierung dar und bargen für die Heiligen in der DDR die Gefahr negativer Konsequenzen.
Als Präsident Kimball in Dresden am Pult stand, hatte Henry wenig zu befürchten. Der Prophet sprach über den 12. Glaubensartikel der Kirche: „Wir glauben, dass es recht ist, einem König, Präsidenten, Herrscher oder Vertreter der Staatsmacht untertan zu sein und das Gesetz zu beachten, zu ehren und für es einzutreten.“ Seiner Meinung nach handelte die Kirche gut, wenn sie sich an diese Weisung hielt.
Die Ansprache beeindruckte sowohl Henry als auch Frau Fischer. „Herr Burkhardt“, sagte sie nach der Versammlung, „hat Ihr Präsident wegen meiner Anwesenheit über diesen Artikel gesprochen?“
„Keineswegs“, antwortete Henry. „Das ist eine Botschaft, die zurzeit alle Heiligen brauchen.“
Nicht lange nach Präsident Kimballs Besuch sprach Erich Honecker, als Staatsratsvorsitzender der maßgebliche Politiker der DDR, öffentlich über seinen Wunsch, zum Nutzen der Menschheit mit religiösen Gruppierungen zusammenzuarbeiten. Obwohl seine Worte vielen Ostdeutschen Hoffnung für die Zukunft gaben, verweigerten die DDR-Beamten den Heiligen, die zum Schweizer Tempel reisen wollten, weiterhin ein Visum. Die Regierung verstand nicht, wieso ein Mitglied in die Schweiz fahren müsse, wo es doch in der DDR in den Gemeindehäusern ebenfalls Gott verehren könne. Außerdem befürchtete sie, dass die Heiligen die Gelegenheit nutzen würden, aus dem Land zu fliehen.
Kurze Zeit später kam Bischof H. Burke Peterson, Erster Ratgeber in der Präsidierenden Bischofschaft, in die DDR. Während der Diskussion über die Schwierigkeiten, ein Visum für den Besuch des Schweizer Tempels zu bekommen, fragte Bischof Peterson Henry: „Weshalb sollte es nicht möglich sein, hier einen Raum zu weihen, in dem die Mitglieder das Endowment empfangen können?“
Die Idee faszinierte Henry, aber er hielt sie nicht für umsetzbar. Drei Wochen später hatte er eine Besprechung mit einigen DDR-Funktionären, als das Thema Tempel und Reisevisum erneut aufkam. Noch immer weigerten sich die Staatsbeamten, in dieser Frage nachzugeben. Sie stellten aber in Aussicht, dass mit den Heiligen eine Einigung erzielt werden könne.
„Warum bauen Sie nicht einfach hier einen Tempel?“, fragte ein Funktionär.
„Das ist nicht möglich“, erklärte Henry. In der DDR gab es nur etwa viertausendzweihundert Mitglieder – nicht annähernd genug für einen Tempel. „Außerdem“, fügte er hinzu, „müssen die Verordnungen im Tempel heiliggehalten werden.“ Die Regierung würde sie nicht auf dieselbe Weise überwachen können wie sonstige kirchliche Veranstaltungen.
„Kein Problem“, meinten die Funktionäre. „Wenn Ihre Mitglieder hier das Gleiche machen können wie in der Schweiz, dann müssen sie ja nicht in die Schweiz reisen.“
Das zu hören hatte Henry nie und nimmer erwartet. Er hatte es auch gar nicht für möglich gehalten, dass die Kirche in der DDR einen Tempel errichten dürfe. Was für eine Veränderung hatte sich doch vollzogen! Er konnte nun die Weisheit in Präsident Kimballs Ratschlag, er solle seine Beziehungen zur Regierung verbessern, erkennen. „Wenn der Prophet dir einen Auftrag gibt“, folgerte er, „dann solltest du ihn auf jeden Fall erfüllen.“
Natürlich wusste er nicht, ob die Erste Präsidentschaft überhaupt einen Tempel in der DDR genehmigen würde. Aber fragen würde er.
Zu Beginn des Jahres 1977 spaltete der vorgeschlagene Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zur Gleichberechtigung der Frau die Meinungen. Nur vier weitere Bundesstaaten mussten noch zustimmen, ehe er landesweit in Kraft treten konnte. Im Sommer wurden auf den Frauenkongressen der einzelnen Bundesstaaten, die im Vorfeld des nationalen Kongresses im November stattfanden, der Änderungsantrag und weitere damit zusammenhängende Themen diskutiert und hinterfragt.
Barbara B. Smith, Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung der Kirche, und andere führende Amtsträger der Kirche sprachen sich häufig gegen die Gesetzesänderung aus. Sie befassten sich intensiv mit dem Vorschlag und hatten Bedenken, dass die breite Auslegung der Rechte die Unterschiede zwischen Frau und Mann nicht berücksichtigte. Zudem befürchteten sie, dass Gesetze zum Schutz der Interessen von Frauen in Fragen wie Scheidung, Ehegatten- und Kindesunterhalt, Militärdienst und sonstigen Bereichen des täglichen Lebens durch die neue Verfassungsergänzung ausgehebelt werden könnten.
Die Führer der Kirche waren außerdem beunruhigt darüber, dass viele Verfechter der Gesetzesänderung Gepflogenheiten befürworteten, welche die Kirche verurteilte. Unter anderem betraf dies Abtreibungen, gegen die sich die Kirche entschieden aussprach – außer im Falle von Vergewaltigung oder Lebensgefahr für die Mutter. Die Kirche befürwortete hingegen eine Gesetzgebung, die durch gezielte Bekämpfung konkreter Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen eine Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft bewirken sollte.
In den Monaten vor dem Nationalkongress hielten die Führer der Kirche die Heiligen dazu an, sich an den politischen Prozessen zu beteiligen. Den meisten Mitgliedern war klar, dass die Führer der Kirche Gesetze zugunsten von Frauen prinzipiell unterstützten, dennoch hatten einige Heilige Fragen zur Haltung der Kirche bezüglich der Verfassungsänderung.
Am 25. Oktober erhielt Ellie Colton, eine Pfahl-FHV-Präsidentin in Washington, einen Anruf von Don Ladd, einem Regionalrepräsentanten, der früher Ellies Pfahlpräsident gewesen war. Er wandte sich mit einer besonderen Bitte vom Hauptsitz der Kirche an sie.
Eine prominente Befürworterin der Verfassungsänderung veranstaltete eine Dinnerparty in Washington, um über den Zusatzartikel zu diskutieren. Sie beabsichtigte, Frauen zusammenzubringen, die das Thema aus unterschiedlichen Lagern betrachteten. Darunter sollten auch Frauen sein, die der Kirche angehörten. Die Führer der Kirche meinten, dass Ellie dafür die Richtige sei.
„Wenn Sie die Gelegenheit dazu haben“, riet Elder Ladd Ellie, „erläutern Sie bitte den Standpunkt der Kirche, die sich ja gegen den Zusatzartikel ausspricht.“
„Bruder Ladd“, erwiderte Ellie, „ich bin mir nicht sicher, ob ich das Thema selbst verstehe.“
„Nun ja, Sie haben drei Tage Zeit, um sich einzuarbeiten“, ermutigte er sie.
Nachdem Ellie den Hörer aufgelegt hatte, war sie fassungslos, wozu sie sich da bereiterklärt hatte. Sie war immer eine Friedensstifterin gewesen und Konfrontationen aus dem Weg gegangen. Wie sollte sie sich bei dieser Veranstaltung gegen all die gut informierten Frauen behaupten? Es ging nicht alleine darum, dass sie weder vom Zusatzartikel noch vom Standpunkt der Kirche besonders viel Ahnung hatte. Ihr Gehör war beeinträchtigt und sie befürchtete, dass sie aufgrund ihrer Behinderung nicht richtig verstehen würde, was auf der Veranstaltung gesagt wurde.
Ellie zog sich sofort in den Wald hinter ihrem Haus zurück und betete. Sie erzählte dem Herrn von ihren vielen Unzulänglichkeiten und Ängsten. Dann ließ sie die Segnungen auf ihrem Lebensweg Revue passieren und versprach, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Position der Kirche zu verstehen und zu erklären.
Wieder zuhause, rief sie Marilyn Rolapp an, die in der Pfahl-FHV für den Bereich Sozialbeziehungen zuständig war, und bat sie, mit ihr auf die Dinnerparty zu gehen. Außerdem rief sie eine Freundin in Utah an und bat sie, ihr weitere Informationen zu schicken.
Sie erhielt diese bereits am nächsten Tag, und Ellie und Marilyn arbeiteten sich in das Thema ein. Als sie zur Dinnerparty aufbrachen, fühlten sie sich dafür gerüstet, mit jedem über die Gesetzesänderung zu diskutieren. Am Abend zuvor hatte sich Ellie noch unsicher und mental erschöpft gefühlt, aber ihre Tochter hatte sie aufgemuntert. „Halte dich an die Punkte, die du verstehst“, hatte sie ihr geraten, „und bevor du ins Bett gehst, lies Lehre und Bündnisse 100, Vers 5.“
Diese Schriftstelle war genau das, was Ellie brauchte: „Erhebt eure Stimme gegenüber diesem Volk; sprecht die Gedanken aus, die ich euch ins Herz geben werde, dann werdet ihr vor den Menschen nicht zuschanden werden.“
Als Ellie und Marilyn jedoch am Veranstaltungsort eintrafen, erfuhren sie, dass die Organisatoren die Dinnerparty abgesagt hatten, weil sie der Meinung waren, sie werde zu nichts führen. Zudem hatte die Vorsitzende der nationalen Frauenkonferenz soeben eine Presseerklärung abgegeben, bei der sie die Kirche zusammen mit „subversiven“ Gruppen nannte, die angeblich die Fachtagung stören wollten.
Beunruhigt über diese Kommentare beschloss Ellie, ihre Sichtweise in einem Leitartikel in der Washington Post zu veröffentlichen, einer Zeitung mit einer großen, bundesweiten Leserschaft. „Die Kirche ist nicht gegen Frauenrechte“, schrieb sie. „Es ist unwürdig, wenn die Verantwortlichen der Konferenz behaupten, dass unsere Kirche eine Bedrohung für die Veranstaltung darstelle, nur weil unsere offizielle Position von ihrer abweicht.“
Sie erläuterte die Bedenken der Kirche bezüglich der Gesetzesänderung und ihrer Auswirkungen auf die Familie. Außerdem sprach sie sich für Maßnahmen wie gleiche Bezahlung und berufliche Chancen für Frauen aus und nannte als Beispiel ihre Tochter, die Jura studieren wollte.
„Ich bin für Frauenrechte. Ich bin dafür, alle Ungerechtigkeit auszumerzen“, erklärte sie in ihrem Leitartikel. „Ich mag es nicht, wenn man mir sagt, ich sei gegen Frauenrechte, nur weil ich nicht für diesen Zusatzartikel zur Verfassung bin.“
An einem kühlen, wolkenverhangenen Abend im Januar 1978 saß Le My Lien nervös in einem Auto auf dem Weg zum internationalen Flughafen von Salt Lake City. Sie war auf dem Weg zu ihrem Mann, Nguyen Van The. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren würde sie ihn wiedersehen. Sie machte sich Sorgen, was er von dem Leben halten würde, das sie in seiner Abwesenheit für ihre Familie aufgebaut hatte.
Im Rahmen des Fürsorgeauftrags für Familien hatte der Sozialdienst der Kirche bereitwillige Mitglieder in den Vereinigten Staaten damit beauftragt, sich um etwa 550 vietnamesische Flüchtlinge zu kümmern, von denen die meisten nicht der Kirche angehörten. Lien und ihre Familie wurden von Philip Flammer, einem Professor an der Brigham-Young-Universität, und seiner Frau Mildred unterstützt. Das Ehepaar half der Familie, nach Provo in Utah umzuziehen, wo Lien zunächst ein Wohnmobil eines ortsansässigen Mitglieds mieten und später kaufen konnte.
Zunächst hatte Lien Schwierigkeiten, in Utah Arbeit zu finden. Philip nahm sie in einen Secondhand-Laden mit, wo sie sich für eine Stelle als Hausmeisterin bewarb. Doch während des Vorstellungsgesprächs riss der Ladenleiter ihr Oberschulzeugnis mittendurch und sagte: „Das gilt hier nicht.“ Lien weinte, als sie es aufhob, doch später klebte sie das Zeugnis wieder zusammen und hängte es gerahmt an die Wand, um ihre Kinder zu einer weiterführenden Ausbildung zu motivieren.
Schon bald fand Lien in einer nahegelegenen Obstplantage Saisonarbeit als Kirschenpflückerin. Dann fand sie einen Job als Näherin und verdiente sich mit dem Backen von Hochzeitstorten etwas dazu. Mit Philips Hilfe verdiente sie auch Geld mit dem Tippen von Referaten für BYU-Studenten.
Während Lien darum rang, ihre Familie zu versorgen, hatten ihre Kinder Probleme, sich an das neue Leben in Amerika zu gewöhnen. Die Jüngste, Linh, war untergewichtig und häufig krank. Die Jungen, Vu und Huy, hatten aufgrund der Sprachbarriere und der kulturellen Unterschiede Schwierigkeiten, in der Schule Freunde zu finden. Sie beklagten sich bei Lien oft über die Hänseleien ihrer Mitschüler.
So schwierig die familiäre Situation auch war: Lien blieb dem Herrn treu. Sie besuchte regelmäßig die Versammlungen der Kirche und betete weiterhin für ihre Familie und ihren Mann. „Gib mir Kraft“, flehte sie den Vater im Himmel beständig an. Sie lehrte ihre Kinder die Macht des Gebets, weil sie wusste, dass es sie durch Prüfungen hindurchtragen konnte.
Ende 1977 erfuhr Lien dann, dass sich ihr Mann in einem Flüchtlingslager in Malaysia befand. Ihm war es gelungen, Vietnam auf einem alten Fischerboot zu verlassen, nachdem er endlich aus dem Lager in Thành Ông Năm freigelassen worden war. Jetzt wollte er sich endlich mit seiner Familie vereinen. Doch er brauchte einen Geldgeber.
Lien arbeitete noch mehr, um das Geld zusammenzubekommen, damit The in die Vereinigten Staaten reisen konnte. Das Rote Kreuz gab ihr eine Liste mit allem, was sie zu seiner finanziellen Unterstützung tun musste, und sie befolgte die Anweisungen auf das Genaueste. Sie sprach auch mit den Kindern über die Rückkehr ihres Vaters. Ihre Tochter konnte sich nicht mehr an The erinnern, und die Erinnerungen der Jungen war nur noch verschwommen. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie es sein würde, einen Vater zu haben.
Nach ihrer Ankunft am Flughafen gesellte sich Lien zu anderen Freunden und Mitgliedern, die gekommen waren, um The zu begrüßen. Einige hielten Luftballons in der Hand, die im Abendlicht glänzen.
Kurz darauf entdeckte Lien ihren Mann. The kam gerade die Rolltreppe herunter. Er sah blass aus und blickte unsicher umher, als sei er verloren. Doch als er Lien sah, rief er nach ihr. Gleichzeitig streckten sie die Arme aus und fassten sich an den Händen. Starke Gefühle überwältigten Lien.
Sie umarmte The fest. „Gott im Himmel sei Dank“, flüsterte sie, „endlich bist du zuhause!“
In den ersten Monaten des Jahres 1978 machte sich Präsident Spencer W. Kimball so viele Gedanken über die Einschränkung bei Priestertum und Tempel, dass er oft schlaflose Nächte hatte. Der öffentliche Aufschrei war weitgehend verstummt, aber er dachte weiterhin an die zahllosen würdigen Heiligen und weitere gute Menschen, die von den Einschränkungen betroffen waren. Seine kürzlich erfolgte Reise nach Brasilien hatte ihm die vielen Herausforderungen vor Augen geführt, die sich für die Heiligen in aller Welt daraus ergaben.
Präsident Kimball war sein ganzes Leben lang für die Gepflogenheit der Kirche eingetreten, Menschen schwarzafrikanischer Abstammung das Priestertum vorzuenthalten, und er war bereit, auch den Rest seines Lebens daran festzuhalten. Doch er wusste, dass das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi dazu bestimmt war, die Erde zu überfluten, und er hatte die Heiligen aufgefordert, dafür zu beten, dass die Nationen ihre Tore für die Missionsarbeit öffnen mögen.
Immer mehr Zeit verbrachte er im Allerheiligsten des Salt-Lake-Tempels, einem abgesonderten Raum, der an den celestialen Saal angrenzte. Dort zog er sich die Schuhe aus, kniete zum Gebet nieder und flehte demütig zum Himmel.
Am 9. März sprach er mit seinen Ratgebern und dem Kollegium der Zwölf Apostel über ethnische Diskriminierung und das Priestertum. Es war eine äußerst lange Sitzung. Die Brüder analysierten Aussagen der Präsidenten David O. McKay und Harold B. Lee, aus denen hervorging, dass die Einschränkung beim Priestertum eines Tages fallen werde. Aber die Apostel waren sich einig, dass sie die Gepflogenheit erst dann ändern würden, wenn der Herr dem Propheten seinen Willen offenbart hatte.
Vor dem Sitzungsende bat Präsident Kimball die Apostel inständig, in dieser Angelegenheit zu fasten und zu beten. Auch bat er sie, sich in den folgenden Wochen mit dem Thema zu befassen und ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Er beauftragte Elder Howard W. Hunter und Elder Boyd K. Packer, die geschichtliche Entwicklung der Einschränkung beim Priestertum zu dokumentieren und alles zusammenzutragen, was in den Besprechungen der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel zu diesem Thema gesagt worden war. Im Jahr zuvor hatte er schon Elder Bruce R. McConkie gebeten, die heiligen Schriften auf eine Grundlage für diese Praxis hin zu überprüfen.
Unterdessen betete Präsident Kimball weiterhin wegen der Einschränkung. Zwar plagten ihn immer noch Fragen, doch mit der Zeit wurden sie belangloser. Er spürte wachsend, tief und anhaltend in sich die geistige Eingebung, weiterzumachen. Als Elder McConkie seinen Bericht vorlegte, war sein Fazit, dass nichts in den heiligen Schriften die Kirche daran hindere, die Einschränkung aufzuheben.
Am Dienstag, dem 30. Mai, zeigte Präsident Kimball seinen Ratgebern den Rohentwurf einer Erklärung, die besagte, das Priestertum werde auf alle würdigen Männer – ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft – ausgedehnt.
Zwei Tage später, am 1. Juni, hielt die Erste Präsidentschaft ihre monatliche Versammlung mit allen Generalautoritäten ab. Alle hatten wie üblich vor der Versammlung gefastet. Am Ende der Zusammenkunft entließ die Präsidentschaft alle außer den Aposteln.
„Ich möchte, dass Sie weiterhin mit mir fasten“, sagte er. Dann erzählte er ihnen von den vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, den Herrn um Antworten zu bitten. Eine Änderung würde unzähligen Heiligen – Männern, Frauen und Kindern – weltweit das wiederhergestellte Evangelium und die Segnungen des Tempels bringen.
„Ich habe mich nicht im Voraus festgelegt, wie die Antwort lauten soll“, erklärte er. „Aber ich möchte sie wissen. Wie die Entscheidung des Herrn auch ausfallen mag, ich werde für sie bis an die Grenzen meiner Kräfte eintreten.“
Er forderte alle auf, ihre Gedanken zu äußern, und in den folgenden zwei Stunden sprachen die Apostel reihum. Ein Gefühl der Einigkeit und des Friedens ruhte auf ihnen.
„Ist es in Ordnung, wenn ich das Gebet spreche?“, erkundigte sich Präsident Kimball.
Er kniete am Altar des Tempels nieder, umringt von den Aposteln. Demütig und flehentlich bat er den Vater, sie von Sünde zu reinigen, damit sie das Wort des Herrn empfangen konnten. Er betete darum, Führung zu erhalten, wie sie das Werk der Kirche ausweiten und in der ganzen Welt das Evangelium verbreiten sollten. Er bat den Herrn, seine Absicht und seinen Willen zu offenbaren, ob das Priestertum auf alle würdigen Männer in der Kirche ausgedehnt werden solle.
Nachdem der Prophet sein Gebet beendet hatte, überflutete der Heilige Geist den Raum und berührte das Herz eines jeden Anwesenden im Kreis. Der Geist sprach zu ihrer Seele und verband sie in völliger Harmonie miteinander. Alle Zweifel verflogen.
Präsident Kimball sprang auf. Sein gebrechliches Herz pochte laut. Er schlang die Arme um Elder David B. Haight, den jüngsten Apostel, und umarmte danach die anderen – einen nach dem anderen. Die Apostel hatten Tränen in den Augen. Einige weinten offen.
Sie hatten ihre Antwort vom Herrn erhalten.
„Wir verließen diese Zusammenkunft demütig, ehrfürchtig und voll Freude“, erinnerte sich Elder Gordon B. Hinckley später. „Ein jeder von uns wusste, dass die Zeit für eine Änderung gekommen war und dass diese Entscheidung vom Himmel kam. Die Antwort war unmissverständlich. Es bestand vollkommene Einigkeit unter uns, was unser Erlebnis und unser Verständnis betraf.“
Weiter erklärte er: „Es war ein ruhiges und erhabenes Ereignis. Die Stimme des Geistes flüsterte uns mit Gewissheit in den Sinn und tief in die Seele.“
Elder Ezra Taft Benson schrieb in sein Tagebuch: „Nach dem Gebet erlebten wir den wunderbarsten Geist der Einigkeit und Gewissheit, den ich je erlebt habe. Wir umarmten einander, so beeindruckt waren wir von dem besonderen Geist, der dort herrschte. Unser Herz brannte.“
Elder Marvin J. Ashton berichtete: „Es war das geistigste Ereignis meines ganzen Lebens. Ich hatte weiche Knie.“
„Aus der Mitte der Ewigkeit sprach die Stimme Gottes zu seinem Propheten, übermittelt durch die Macht des Heiligen Geistes“, bezeugte auch Elder Bruce R. McConkie. „Präsident Kimballs Gebet wurde erhört, und unsere Gebete wurden erhört. Er hörte die Stimme und wir hörten dieselbe Stimme. Zweifel und Unsicherheit schwanden. Er kannte die Antwort und wir kannten die Antwort. Und wir alle sind lebendige Zeugen für die Wahrhaftigkeit des Wortes, das so gnädig vom Himmel gesandt wurde.“
„Die Antwort war für uns alle eindeutig“, bekräftigte Präsident N. Eldon Tanner. „Keiner von uns hatte auch nur den geringsten Zweifel daran.“
Acht Tage nach Präsident Kimballs Gebet saß Darius Gray in seinem Büro in einer Papierfabrik in Salt Lake City, als eine Mitarbeiterin den Kopf ins Zimmer steckte. Sie sagte, sie habe gehört, dass die Kirche das Priestertum jetzt auch Männern mit schwarzer Hautfarbe übertrage.
Darius dachte, sie mache einen schlechten Scherz. „Das ist nicht lustig“, rügte er sie.
„Nein, wirklich“, gab sie zurück. Sie hatte gerade mit einem Kunden gesprochen, der im Verwaltungsgebäude der Kirche arbeitete. Es gab Gerüchte, Präsident Kimball habe eine Offenbarung erhalten, wonach die Segnungen des Priestertums und des Tempels auf alle würdigen Mitglieder der Kirche ausgeweitet würden.
Skeptisch griff Darius zum Telefon und wählte die Nummer des Büros von Präsident Kimball. Ein Sekretär sagte ihm, Präsident Kimball sei im Tempel, aber er bestätigte, dass die Gerüchte stimmten. Der Prophet hatte tatsächlich eine Offenbarung über das Priestertum erhalten.
Darius war fassungslos. Er konnte die Nachricht kaum glauben. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet. Die Änderung schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein.
Die Deseret News veröffentlichte später am Tag eine Verlautbarung der Ersten Präsidentschaft. „Wir erleben mit, wie sich das Werk des Herrn über die Erde ausbreitet, und sind sehr dankbar dafür, dass Menschen in vielen Ländern für die Botschaft des wiederhergestellten Evangeliums empfänglich gewesen sind und sich in ständig wachsender Zahl der Kirche angeschlossen haben“, stand dort zu lesen. „Dies wiederum hat in uns den Wunsch geweckt, alle Rechte und Segnungen, die das Evangelium bietet, jedem würdigen Mitglied der Kirche zugänglich zu machen.
[Der Herr] hat unsere Gebete vernommen und hat durch Offenbarung bestätigt, dass der langverheißene Tag gekommen ist“, hieß es in der Mitteilung weiter. „Jeder glaubenstreue, würdige Mann in der Kirche [darf] das heilige Priestertum, samt der Macht, dessen göttliche Vollmacht auszuüben, empfangen und sich mit seiner Familie sämtlicher Segnungen erfreuen …, die sich daraus ergeben, einschließlich der Segnungen des Tempels.“
Nachdem Darius die Nachricht gehört hatte, eilte er zum Tempelplatz. Das ganze Areal quoll über vor begeisterten Menschen. Darius sprach mit einem Nachrichtenreporter über die Offenbarung und ging dann über die Straße zum Büro seines alten Freundes Heber Wolsey, der jetzt Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Kirche war.
Heber war nicht im Büro, aber seine Sekretärin bat Darius zu bleiben. „Ich weiß, dass er Sie sehen möchte“, sagte sie.
Darius wartete. Der Blick von Hebers Büro ging zur Ostseite des Salt-Lake-Tempels. Die Sonne stand hoch und schien hell, und durch das Fenster konnte Darius die Steine des Tempels funkeln sehen.
Wenige Minuten später kehrte Heber in sein Büro zurück. Als er Darius sah, umarmte er ihn unter Tränen.
„Ich hätte nie gedacht …“, hob Heber flüsternd an.
Darius sah seinen Freund an und blickte dann aus dem Fenster auf den Tempel. Er wusste, dass die Offenbarung nicht nur die Gegenwart und die Zukunft beeinflussen würde. Sie würde sich auch auf die Vergangenheit auswirken. Zum ersten Mal in dieser Evangeliumszeit würden Menschen wie er, lebende und tote, die Möglichkeit haben, jede bereitstehende Verordnung des Tempels zu empfangen.
Darius sah Heber an, schloss die Augen und öffnete sie dann langsam wieder.