Kapitel 20
Auf wunderbare Weise
Nach fünf Jahren Amtszeit machte Präsident Spencer W. Kimball langsam sein Alter zu schaffen. Im März 1979 hatte er seinen vierundachtzigsten Geburtstag gefeiert. Sein Arzt riet ihm, seine Kräfte zu schonen und sich mehr auszuruhen, was seine Frau Camilla und ihn jedoch nicht davon abhielt, weiterhin viel unterwegs zu sein. Um alles zu erledigen, was er sich vorgenommen hatte, stand er jeden Tag früh auf und ging spät ins Bett, gestattete sich jedoch immerhin einen kurzen Mittagsschlaf.
„In dieser Welt will ich ja nicht errettet werden“, meinte er zu seinem Arzt. „Im Jenseits will ich erhöht werden.“
Doch im Sommer forderte das Alter schließlich seinen Tribut. Unterhalb von Präsident Kimballs Schädeldecke entdeckten Ärzte eine Blutansammlung und veranlassten sofort eine Operation, um den Druck aufs Gehirn zu verringern. Der Eingriff war erfolgreich, und bereits einen Monat darauf waren Präsident Kimball und seine Frau erneut unterwegs – diesmal nach Jerusalem.
Der Prophet reiste ins Heilige Land, um den Orson Hyde Memorial Garden zu weihen – einen wunderschönen, zwei Hektar großen Park, den die Kirche kurz zuvor auf dem Ölberg angelegt hatte. Der Park war auf Anregung des Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek angelegt und von dreißigtausend privaten Spendern finanziert worden. Er war nach jenem neuzeitlichen Apostel benannt, der 1841 in die Stadt gekommen war und das Land für die Sammlung des Volkes Juda und für Abrahams Nachkommen als Land der Verheißung geweiht hatte. Bürgermeister Kollek wünschte sich um Jerusalem herum mehr Grünflächen und arbeitete bei der Entstehung der Parkanlage eng mit Elder Howard W. Hunter zusammen.
Ebenso wie die Gedenkstätte selbst spiegelte auch der Besuch des Propheten in Jerusalem den Wunsch der Kirche wider, dem Licht und der Wahrheit, die Menschen überall auf der Welt so sehr schätzen, noch etwas hinzuzufügen. Präsident Kimball hatte großen Respekt vor den religiösen Traditionen anderer – nicht nur im Heiligen Land. Er bezeugte, dass Errettung und dauerhaftes Glück nur durch Jesus Christus zustande kommen, doch auch Mohammed, Konfuzius, die protestantischen Reformatoren und weitere Religionsführer seien, so Präsident Kimball, vom Licht Gottes inspiriert worden. Desgleichen vertrat er die Ansicht, dass Sokrates, Plato und weitere große Denker von Gott erleuchtet worden waren.
„Unsere Botschaft“, so hatte die Erste Präsidentschaft erst kurz zuvor erklärt, „zeugt von der besonderen Liebe und der Sorge um das ewige Wohlergehen aller Männer und Frauen, ungeachtet ihrer Religion, ethnischen Herkunft oder Nationalität.“
Am 24. Oktober 1979, dem Jahrestag des Weihungsgebets von Elder Hyde, hakte sich Präsident Kimball bei Bürgermeister Kollek unter, und die beiden Männer gingen einen der gewundenen Pfade durch den Garten hinab. Der Prophet war zwar nicht mehr gut auf den Beinen, fühlte sich im Park jedoch überaus wohl, denn von dort hatte man einen Blick auf viele Stätten, wo der Erretter einst gewandelt war und gelehrt hatte.
Am Fuße des Hügels hatte man für die Weihung ein Podium errichtet. Elder Hunter eröffnete die Feierlichkeiten, und ein Chor aus fast dreihundert Mitgliedern der Kirche, darunter auch Studenten der Brigham-Young-Universität, die in Jerusalem studierten, sang das Lied „Der Morgen naht“. Als erster Redner sprach Bürgermeister Kollek sodann über das geschichtsträchtige Jerusalem.
„Ich wünsche mir, dass von Ihnen ebenso viele Generationen wie von uns Bestand haben werden“, sagte er den Heiligen. „Mögen die guten Beziehungen zwischen Ihnen und uns durch alle kommenden Jahrhunderte hindurch fortbestehen.“
Als Präsident Kimball ans Rednerpult trat, war er von der heiligen, rund um ihn spürbaren Geschichte ganz ergriffen. „Jesus Christus hat diesen Berg zu mehreren Gelegenheiten beschritten“, führte er aus. „In einem Garten namens Getsemani, nur wenig unterhalb von unserem jetzigen Standort gelegen, vollbrachte er jenen Teil seines Sühnopfers, der es uns ermöglicht, dass wir wieder zu unserem Vater im Himmel zurückkehren können.“
Dann neigte er den Kopf und weihte in seinem Gebet den Garten Gott und dessen Herrlichkeit. „Möge dies ein Rückzugsort sein“, betete er, „an dem alle, die herkommen, über die Herrlichkeit nachsinnen können, mit der du Jerusalem in vergangenen Tagen bedacht hast, und über die bevorstehende, noch größere Herrlichkeit.“
David Galbraith, der Distriktspräsident der Kirche in Israel, beendete die Versammlung mit einem Schlussgebet. „Möge dieser geistige Garten mit seinem überwältigenden Ausblick eine Quelle der Inspiration und ein Ort der Meditation gleichermaßen für Muslime, Christen und Juden sein“, lauteten seine Worte. „Möge er dazu dienen, dass wir alle im Geist des Friedens und der Brüderlichkeit eins werden.“
Bevor Präsident Kimball und seine Frau die Stadt verließen, zeigte ihnen David noch ein Grundstück unweit der Gedenkstätte. Die Kirche hatte bereits seit einigen Jahren ins Auge gefasst, in Jerusalem einen Campus zu errichten, wo die Austauschstudenten der Brigham-Young-Universität studieren konnten und wo gleichzeitig auch ein Gemeindehaus für den dortigen Zweig sowie ein Besucherzentrum entstehen sollten. Dieses Grundstück bot eine beeindruckende Sicht auf den Tempelberg, doch die strengen Bebauungsvorschriften verhinderten, dass es durch eine private Organisation erschlossen werden durfte. Dessen ungeachtet hielt Präsident Kimball das Grundstück für das angedachte Zentrum als besser geeignet als jedes andere, das er bislang besichtigt hatte.
Am 26. Oktober kehrte das Ehepaar Kimball – müde, aber glücklich – nach Salt Lake City zurück. Kurze Zeit später, als Präsident Kimball sich auf den Besuch von Gebietskonferenzen in Australien und Neuseeland vorbereitete, war seine linke Hand taub. Er begab sich ins Krankenhaus, wo die Ärzte unterhalb der Schädeldecke eine weitere Blutansammlung entdeckten.
Gleich am nächsten Vormittag lag der Prophet also ein weiteres Mal im Operationssaal.
Etwa zur gleichen Zeit übersiedelte die fünfunddreißigjährige Silvia Allred mit ihrer Familie von Costa Rica nach Guatemala. Silvia war eine Bekehrte aus El Salvador. Fünfzehn Jahre zuvor hatte sie in Guatemala ihren Missionsdienst erfüllt. Nun freute sie sich darauf, dorthin mit ihrem Mann Jeff und ihren sechs Kindern zurückzukehren.
Jeff war im Gebiet Mittelamerika als Verwaltungsdirektor der Kirche tätig. Diese Stelle war – wie vergleichbare Stellen weltweit – 1979 geschaffen worden, um das Büro der Präsidierenden Bischofschaft bei Aufgaben wie der Ausgabe von Lehrplänen, der Instandhaltung von Immobilien und dem Ankauf von Grundstücken für neue Gemeindehäuser zu unterstützen.
Der Umzug der Familie Allred nach Guatemala-Stadt fiel mit dem Beginn des Schuljahres zusammen. Die Kinder kamen in eine englischsprachige Schule, die sowohl von einheimischen als auch von internationalen Schülern besucht wurde. Sonntags ging die Familie in eine große spanischsprachige Gemeinde.
Als Silvia in den 1960er Jahren auf Mission gewesen war, hatte es in Mittelamerika etwa elftausend Mitglieder der Kirche gegeben – und keinen Pfahl. Einen Großteil ihrer Zeit hatte sie in kleinen, um ihren Fortbestand ringenden Zweigen verbracht, in denen der Großteil der Führungsämter in den Händen der Missionare gelegen hatte. Obwohl es in Guatemala viele Sprachen und Dialekte gab, war die Unterweisung durch Silvia und die übrigen Missionare ausschließlich auf Spanisch erfolgt.
Seit damals war die Zahl der Mitglieder in ganz Lateinamerika explosionsartig angewachsen. 1980 gab es allein in Guatemala bereits fünf Pfähle und rund achtzehntausend Mitglieder. Und bei den Führungsverantwortlichen handelte es sich um fest im Glauben verwurzelte Einheimische. Auch in den Nachbarländern El Salvador, Costa Rica, Honduras und Panama gab es zu dieser Zeit bereits Pfähle. Annähernd eintausend Frauen und Männer aus Mittelamerika waren nun auf Vollzeitmission.
Doch durch dieses Wachstum waren auch Veränderungen nötig geworden. In Mittelamerika schlossen sich immer mehr Menschen aus indigenen Völkern der Kirche an. Viele von ihnen sprachen kein Spanisch. Auch sonstige Bekehrte brauchten Unterstützung, um mit den Lehren des wiederhergestellten Evangeliums vertraut zu werden und sie zu verstehen.
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, hatte die Kirche die Übersetzung von Teilen des Buches Mormon in einige Sprachen der indigenen Bevölkerung – Quiché, Kekchí, Kaqchikel und Mam – genehmigt. Neubekehrte konnten sich auch mit dem Buch Grundbegriffe des Evangeliums befassen, einem einfachen, leicht verständlichen Leitfaden für die Sonntagsschule, den die Kirche jüngst herausgegeben hatte, um den Mitgliedern überall grundlegende Wahrheiten zu vermitteln.
Das starke Wachstum machte auch eine Anpassung erforderlich, wie und wann die Heiligen in aller Welt wöchentlich zusammenkamen. Ein halbes Jahrhundert lang waren Sonntagsschule sowie Priestertums- und Abendmahlsversammlung immer sonntags zu unterschiedlichen Zeiten abgehalten worden, die Versammlungen der Primarvereinigung, der Frauenhilfsvereinigung und der Jugendlichen fanden hingegen wochentags statt. Doch all den Heiligen, die weit vom Gemeindehaus entfernt wohnten und kein Auto hatten oder nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen konnten, forderte dieser Ablaufplan oftmals sehr viel ab.
Unlängst war Apostel Boyd K. Packer nach Guatemala gereist und hatte neun kleine Gemeindehäuser im Hochland geweiht. Diese Gemeindehäuser verkürzten die Anreisezeit mancher Mitglieder ganz erheblich, und daher empfahl Jeff Allred, dass abseits der Metropolen in ganz Mittelamerika weitere derartige Gemeindehäuser gebaut werden sollten. Des Weiteren hatten die Missionsführer im guatemaltekischen Hochland ein Versammlungsschema eingeführt, nach dem die in ländlichen Gegenden lebenden Heiligen jetzt nur noch einmal pro Woche in der Kirche zusammenkamen. Laut dem neuen Ablaufplan fanden für PV-Kinder sowie für erwachsene Männer und Frauen sonntags zur selben Zeit jeweils getrennte Versammlungen statt. Im Anschluss daran war die für alle Altersgruppen gedachte Abendmahlsversammlung vorgesehen.
Silvias und Jeffs Gemeinde in Guatemala-Stadt blieb beim althergebrachten Ablaufplan. 1980 jedoch, als sich Familie Allred in ihrem neuen Zuhause gerade erst eingelebt hatte, kündigte die Erste Präsidentschaft an, das im ländlichen Guatemala geltende Versammlungsschema solle in ähnlicher Form auf die ganze Kirche ausgeweitet werden. Anstatt wochentags zu unterschiedlichen Zeiten die Versammlungen abzuhalten, würde es in allen Gemeinden und Zweigen nun sonntags einen dreistündigen Versammlungsblock geben.
In Pilotgemeinden mit dem Kompaktversammlungsschema war die Anwesenheit gestiegen, und die Heiligen hatten nun mehr Zeit, zuhause das Evangelium zu lernen und zu lehren. Die Führer der Kirche hofften, dies werde auch weltweit so sein. Sie legten den Familien ans Herz, den Sabbat gemeinsam zu verbringen und ihr Zuhause zu einem Ort zu machen, wo gegenseitige Liebe, Ermutigung, Unterstützung und Wertschätzung gelebt wurden. Angesichts weltweit steigender Ölpreise hofften die Führer der Kirche zudem, das neue Versammlungsschema werde es den Heiligen ermöglichen, Kraftstoff zu sparen und somit die Transportkosten zu senken.
Silvia erkannte, wie vernünftig es war, ein Versammlungsschema einzuführen, das allen Heiligen weltweit entgegenkam. Ihre Töchter würden nun, sobald sie im passenden Alter waren, sonntags die Klassen der Jungen Damen besuchen können, und Jeff und die Jungs würden nicht mehr so früh aufstehen müssen, um morgens in der Priestertumsversammlung zu sein.
Gewöhnungsbedürftig war der neue Ablaufplan jedoch allemal.
Am 6. April 1980 kündigte sich für Apostel Gordon B. Hinckley ein herrlicher Ostermorgen an. Die Kirche feierte ihr 150-jähriges Bestehen. Zusammen mit Präsident Spencer W. Kimball war er nach Fayette im Bundesstaat New York gereist, um von der Farm von Peter und Mary Whitmer aus – dem Ort, wo die Heiligen 1830 ihre erste Versammlung abgehalten hatten – einen Teil der Generalkonferenz zu bestreiten.
Anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Kirche gab es viel zu feiern. Das wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi hatte in einundachtzig Ländern – annähernd der Hälfte aller Länder der Welt – Fuß gefasst und brachte all jenen, die sich schon lange nach dieser Botschaft gesehnt hatten, Erfüllung, Hoffnung und Heilung. Die Zahl der Tempel nahm zu: In Argentinien, Australien, Chile, Japan, Mexiko, Samoa, Tahiti, Tonga und den Vereinigten Staaten waren neue Häuser des Herrn angekündigt worden oder befanden sich im Bau. Dank des Umstands, dass die Mitglieder treu ihren Zehnten zahlten und die Kirche ihre Mittel klug investierte, wurden jedes Jahr hunderte von neuen Gemeindehäusern gebaut. Die Heiligen vor Ort trugen zwar weiterhin einen geringen Anteil an den Gesamtkosten für ihre Gebäude bei, die Kirche berief jedoch keine Baumissionare mehr.
Elder Hinckley war sich jedoch auch der Tatsache bewusst, dass die Kirche immer noch auf erheblichen Widerstand stieß. In vielen Teilen der Welt war es für die Gemeinden schwierig, Neubekehrte bei der Stange zu halten, und Elder Hinckley schätzte, dass die Hälfte der 4,5 Millionen Mitglieder ihren Glauben nicht praktizierten. Das rasche weltweite Wachstum, die finanzielle Eigenständigkeit und die charakteristischen Lehren der Kirche wurden vom etablierten Christentum mitunter als Bedrohung empfunden. Kritiker gaben daher Broschüren, Bücher und Filme heraus, in denen die Heiligen der Letzten Tage angegriffen wurden.
Andere hatten etwas dagegen, wenn sich die Erste Präsidentschaft zu aktuellen politischen Themen äußerte. Sie fanden, es sei unangebracht, dass die Kirche öffentlich Stellung bezog. Als Reaktion auf die Kritik, die Kirche stünde dem Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zur Gleichberechtigung der Frau ablehnend gegenüber, hatte Elder Hinckley zuletzt eine wichtige Stellungnahme der Kirche zu diesem Thema verfasst. Die im Februar 1980 veröffentlichte Stellungnahme brachte die Unterstützung der Kirche für die Gleichberechtigung der Frau zum Ausdruck, fasste jedoch auch die Bedenken der Ersten Präsidentschaft gegenüber dem Zusatzartikel zusammen und bekräftigte das Recht der Kirche, sich zu ethischen und moralischen Fragen zu äußern.
Elder Hinckley kannte sich in der Geschichte der Kirche bestens aus und wusste daher, dass die Heiligen immer wieder Phasen guter sowie schlechter Zeit durchlebt hatten. All dies hatte die Kirche letztlich erstarken lassen. „So wird es auch künftig sein“, hatte er unlängst zu seinen Mitaposteln gesagt. „Die Kirche wird wachsen und gedeihen und sich auf wunderbare Weise ausbreiten.“
Da die Kirche noch nie zuvor eine Generalkonferenz von zwei Orten aus übertragen hatte, traf Elder Hinckley sicherheitshalber zwei Stunden vor Sendebeginn auf der Whitmer-Farm ein.
Unter seiner Leitung hatte die Kirche auf dem Grundstück der Whitmers zuletzt ein historisches Blockhaus und auch ein modernes Gemeindehaus errichtet. Präsident Kimball und er wollten aus dem Inneren des Blockhauses zu den Heiligen sprechen. Auf dem Gelände gab es eine große Satellitenantenne, die – wenn alles wie geplant funktionierte – das Geschehen in Echtzeit an das Tabernakel in Salt Lake City und an Gemeindehäuser in aller Welt übertragen sollte.
Nachdem Elder Hinckley und Präsident Kimball das Blockhaus begutachtet hatten, probten sie ihre Ansprachen. Der Prophet hatte sich noch nicht ausreichend von den kurz zuvor durchgeführten Operationen erholt, weshalb Elder Hinckley sich fragte, ob er wohl genügend Kraft haben werde, seine Ansprache wie geplant zu halten. Am Vortag hatte Präsident Kimball bei der Eröffnung der Konferenz im Tabernakel müde ausgesehen und auch so geklungen. Auch bei der Probe seiner Ansprache fiel ihm das Sprechen sichtlich schwer.
Elder Hinckley konnte kaum mit ansehen, wie sich der Prophet abmühte. Zuletzt hatte die Kirche eine neue Richtlinie eingeführt, die vorsah, Mitglieder des Ersten Kollegiums der Siebziger im vorgerückten Alter zu emeritieren. Der Präsident der Kirche und die Apostel hatten ihr Amt jedoch bis ans Lebensende inne und litten naturgemäß manchmal unter gesundheitlichen Problemen, die es ihnen erschwerten, mit den Heiligen zusammenzukommen. Normalerweise nahmen in einer solchen Situation die Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft dem Präsidenten noch mehr ab als sonst. Doch leider waren auch Präsident Kimballs Ratgeber – N. Eldon Tanner und Marion G. Romney – gesundheitlich angeschlagen und konnten dem Propheten nicht immer die nötige Unterstützung geben.
Sendebeginn war um zwölf Uhr mittags. Im Blockhaus verfolgten Elder Hinckley und Präsident Kimball auf einem Monitor, wie Präsident Tanner im Tabernakel die Konferenzversammlung eröffnete. Nach dem Anfangsgebet und den vom Chor dargebotenen Liedern erhob sich Präsident Kimball, und die Live-Kamera zeigte ihn, wie er im Blockhaus die Heiligen willkommen hieß.
„Heute stehen wir an diesem Ort“, so seine Worte, „und gedenken des mächtigen Glaubens und der Werke jener Menschen, die so viel gegeben haben, um die Kirche von ihren schlichten Anfängen zu ihrer heutigen Größe zu führen, und wichtiger noch: Durch die Sicht des Glaubens sehen wir visionär ihre sichere und herrliche Zukunft.“
Elder Hinckley hatte beim Zusehen das Gefühl, ein Wunder zu erleben. Präsident Kimball sprach völlig mühelos!
Nachdem der Prophet seine Ansprache beendet hatte, verlas Elder Hinckley eine Proklamation der Ersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel.
„Die Sendung der Kirche ist heute dieselbe wie am Anfang, nämlich aller Welt das Evangelium Christi zu verkünden“, erklärte er. „Es ist daher unsere Pflicht, dass wir Glauben an den Herrn Jesus Christus lehren, alle Menschen auf Erden zur Umkehr rufen und mit der Vollmacht des Priestertums heilige Handlungen vollziehen: die Taufe durch Untertauchen zur Sündenvergebung und das Händeauflegen zur Gabe des Heiligen Geistes.“
Als Elder Hinckley die Proklamation verlas, verspürte er eindrücklich den Heiligen Geist. „Wir gedenken demütig und dankbar der Opfer jener Menschen, die uns vorangegangen sind“, fuhr er fort. „Wir sind entschlossen, auf dem von ihnen gelegten Fundament weiterzubauen, zum Nutzen und Segen unserer Nachwelt.“
Kurz nachdem die Kirche das sonntägliche Kompaktversammlungsschema eingeführt hatte, bat Silvia Allreds Bischof in Guatemala-Stadt sie um ein Gespräch. „Die Schwestern in der Primarvereinigung haben große Mühe, das neue Programm umzusetzen“, eröffnete er ihr.
Die PV-Lehrkräfte waren es gewohnt gewesen, Sonntagsschule und Frauenhilfsvereinigung oder Priestertumsversammlung besuchen zu können. Da diese Versammlungen nun gleichzeitig mit der Primarvereinigung stattfanden, mussten sie folglich auf die Teilnahme verzichten. Die der PV zugedachte Zeit hatte sich gegenüber früher verdoppelt, und lebhafte Kinder so lange sinnvoll zu beschäftigen, konnte ziemlich anstrengend sein.
„Die Schwestern wissen nicht, was sie zwei Stunden lang mit den Kindern anfangen sollen“, erklärte der Bischof. „Also gehen sie mit den Kindern einfach nach draußen und spielen mit ihnen.“ Der Bischof wünschte sich aber, dass die PV-Führungskräfte das neue Programm genau befolgten. „Dabei können Sie uns helfen“, bekräftigte er.
Schnell stellte Silvia fest, dass die größte Herausforderung darin bestand, das sogenannte Miteinander sinnvoll zu gestalten, in dem Kinder aller Altersgruppen zusammenkamen, um mehr darüber zu lernen, wie man das Evangelium Jesu Christi lebt. Sie setzte sich mit den Führungsverantwortlichen der PV zusammen und besprach mit ihnen, wie Musik, Anschauungsmaterial und Rollenspiele einbezogen werden konnten. Bald schon waren die Kinder mit Feuereifer dabei. Einmal setzten sie bei einer Aktivität zu einem Evangeliumsthema ein großes Puzzle zusammen. Ein andermal tat eine Leiterin so, als hätte sie ein großes Thermometer – bei „höheren“ Temperaturen mussten die Kinder lauter, bei „niedrigeren“ leiser singen. Die Kinder spielten auch Geschichten aus den heiligen Schriften nach, etwa das Gleichnis Jesu vom barmherzigen Samariter.
Silvias Zeit in der Primarvereinigung war jedoch nur von kurzer Dauer. Bei einem Besuch in Salt Lake City im April 1980 erfuhren sie und Jeff, dass die Erste Präsidentschaft den Hauptsitz des Verwaltungsbüros für das Gebiet Mittelamerika verlegen wolle. Seit über zwei Jahrzehnten herrschte in Guatemala nämlich Bürgerkrieg, und die Rebellen gewannen immer mehr an Einfluss.
In Guatemala konnten Silvia und Jeff den Konflikt zwar nicht einfach ausblenden, dennoch hatte die Familie einen normalen Tagesablauf: Ohne größere Bedenken gingen die Kinder in die Schule, Einkäufe wurden erledigt und die Familie besuchte die Kirche und machte Ausflüge.
Trotzdem verlegte die Kirche einen Monat nach der Rückkehr der Allreds aus Utah das Verwaltungsbüro nach San José in Costa Rica. Die Versetzung war für Jeff, der hauptsächlich an Projekten in Guatemala und El Salvador arbeitete, alles andere als ideal. Auch Silvia beschlichen gemischte Gefühle, wenn sie sich vorstellte, wieder zurück nach Costa Rica zu ziehen. Zwar hatte sie mit ihrer Familie kaum ein Jahr in Guatemala verbracht, aber es freute sie doch, dass sie zum raschen Wachstum der Kirche in diesem Land beitragen konnte. Besonders schön fand sie es, dass sie miterleben konnte, wie junge Männer und Frauen aus Guatemala für ihre Mission sparten und sich dank der Klassen für Jugendliche und im Seminar geistig weiterentwickelten.
Im Juli 1980 veranstaltete ihre Gemeinde kurz vor dem Wegzug der Familie eine kleine Abschiedsfeier. Obwohl die guatemaltekische Bevölkerung immer wieder geprüft wurde, war sich das Ehepaar Allred sicher, dass die Heiligen gut vorankommen würden. Weder beeinträchtigte der Bürgerkrieg die Versammlungen der Kirche, noch mussten Missionsführer oder Missionare das Land verlassen.
Trotz Wehmut im Herzen war Familie Allred bereit, dorthin zu gehen, wohin der Herr sie zu gehen hieß. Wo sie sich auch befanden, sie freuten sich, am Aufbau seines Reiches mitzuwirken.
Zu der Zeit, als Familie Allred zurück nach Costa Rica zog, studierte die zwanzigjährige Olga Kovářová an einer Universität in Brünn in der Tschechoslowakei Sport. In einem ihrer Kurse lernte sie etwas über Yoga und dessen positive Auswirkungen auf Körper und Geist. Davon fasziniert, wollte sie mehr erfahren.
Eines Tages erzählte ihr eine Kommilitonin von einem Yogalehrer namens Otakar Vojkůvka aus der näheren Umgebung. Olgas Interesse war geweckt, und sie wollte ihre Freundin gern zu ihm begleiten.
Otakar, ein kleiner, älterer Herr, öffnete die Tür und lächelte sie an. Vom ersten Moment an fühlte Olga sich mit ihm verbunden. Im Verlauf des Besuchs fragte er sie und ihre Freundin, ob sie glücklich seien.
„Keine Ahnung“, antworteten beide geradeheraus.
Da erzählte ihnen Otakar von den Prüfungen, die er hatte durchmachen müssen. In den 1940er Jahren hatte er eine Fabrik besessen, die ordentlich Gewinn abwarf. Doch nach der Machtübernahme der den Sowjets nahestehenden Regierung beschlagnahmte der tschechoslowakische Staat die Fabrik und schickte Otakar in ein Gefangenenlager. In dieser Zeit musste seine Frau, Terezie Vojkůvková, allein für die beiden gemeinsamen Kinder sorgen. Terezie war inzwischen verstorben, und Otakar wohnte bei seinem Sohn Gád und dessen Familie.
Otakars Geschichte erstaunte Olga. Die meisten ihrer Bekannten waren freudlos und zynisch. Sie fragte sich, wie Otakar so glücklich sein könne, obgleich er doch so viel hatte mitmachen müssen.
Olga besuchte Otakar bald ein weiteres Mal. Diesmal war auch Gád zugegen. „Sie interessieren sich also für Yoga?“, fragte er sie.
„Ich weiß gar nichts über Yoga“, gestand ihm Olga, „aber ich würde es gerne lernen, weil Sie alle so glücklich zu sein scheinen. Ich nehme an, das liegt am Yoga.“
Daraufhin entwickelte sich ein Gespräch über Spiritualität und über den Sinn des Lebens. „Gott hat uns auf die Erde geschickt, um in unserem Innersten Freude, Lebensbejahung und Liebe zu säen“, erklärte ihr Otakar.
Da Olga in einer atheistisch geprägten Gesellschaft aufgewachsen war, hatte sie sich nie viele Gedanken über Gott oder den Sinn des Lebens gemacht. Ihre Vorfahren waren allerdings Protestanten gewesen, und nun stellte sie fest, dass sie viele Fragen zum Thema Religion hatte. Im Gegensatz zu ihren Professoren und Kommilitonen, die jeglichem Interesse an Religion ablehnend gegenüberstanden, nahm Otakar ihre Fragen ernst und lieh ihr Bücher zu diesem Thema.
Dadurch entbrannte in Olga der Wunsch, im Leben mehr Sinn zu finden. Sie kam weiterhin mit Otakar zusammen und wurde immer mehr von Glück erfüllt, als er ihr seinen Glauben nahebrachte. Er erzählte ihr von seiner auf Christus ausgerichteten Religion und von seiner Hingabe an Gott. Je mehr Olga dazulernte, desto mehr sehnte sie sich nach geistiger Gemeinschaft.
Eines Tages empfahl ihr Otakar ein Buch von Elder John A. Widtsoe über die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Nachdem Olga es gelesen hatte, sagte sie Otakar, sie finde die Heiligen der Letzten Tage faszinierend. „Kennen Sie vielleicht die Adresse von so jemandem in der Tschechoslowakei?“, fragte sie.
„Sie brauchen keine Adresse“, erwiderte Otakar. „Vor Ihnen sitzt einer.“
Otakar hatte sich kurz vor dem Zweiten Weltkrieg taufen lassen und war eines der ersten Mitglieder der Kirche in der Tschechoslowakei. Als die tschechoslowakische Regierung 1950 alle ausländischen Missionare des Landes verwies, praktizierten er und rund 245 Mitglieder jedoch weiterhin ihre Religion und hielten in Wohnungen in Prag, Pilsen und Brünn privat den Gottesdienst ab.
Olga befasste sich weiterhin mit dem Evangelium und lieh sich von Otakar ein Buch Mormon. Als sie las, was Lehi einst gesagt hatte, dass nämlich „Menschen sind, damit sie Freude haben können“, hatte sie das Gefühl, eine verlorengegangene Wahrheit wiederentdeckt zu haben. Jede einzelne Faser ihres Körpers schien von Liebe und Licht durchdrungen zu sein. Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass der Vater im Himmel und Jesus Christus lebten. Sie spürte die Liebe, die sie ihr und allen Menschen überall entgegenbrachten.
Zum ersten Mal in ihrem Leben kniete Olga sich zum Beten nieder und schüttete Gott vor Dankbarkeit ihr Herz aus. Am darauffolgenden Vormittag suchte sie Otakar in seiner Wohnung auf und fragte ihn: „Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie ich als Mensch einen Neuanfang machen kann?“
„Natürlich“, lautete seine Antwort. Er schlug seine Bibel auf und zeigte ihr, was Jesus über die Taufe gesagt hatte.
„Was bedeutet es, in das Reich Gottes zu kommen?“, erkundigte sie sich.
„Es bedeutet, ein Jünger oder eine Jüngerin Christi zu werden“, erklärte er. Dann erläuterte er ihr, sie müsse sich taufen lassen und die Gebote Gottes halten. Er erzählte ihr, es gebe ein paar Unterrichtseinheiten, die sie sich zuerst anhören solle, und lud sie ein, am darauffolgenden Sonntag zu einer Versammlung der Kirche bei ihm zuhause zu kommen. Voll Freude nahm Olga die Einladung an.
Die Gläubigen versammelten sich in einem Zimmer im oberen Stockwerk von Otakars Wohnung. Auf ein paar bereitstehenden Sofas fand die kleine Gruppe Platz. Die Jalousien waren heruntergezogen, damit den Nachbarn, denen Religion ein Dorn im Auge war, die Sicht verwehrt blieb. Überrascht stellte Olga mit einem Blick fest, dass die sieben Anwesenden im Alter ihrer Eltern und Großeltern waren.
„Ist diese Kirche denn bloß für alte Leute?“, fragte sie sich. „Was soll ich hier nur?“