Kapitel 26
Ich möchte gleich gehen
Am Tag nach der Explosion in Huaraz verlegten die Ärzte Manuel Navarro in eine Klinik in Lima. Dort wurde er von Enrique Ibarra, dem Missionspräsidenten, besucht und erhielt von Elder Charles A. Didier, einem Mitglied der Gebietspräsidentschaft, einen Segen. In dem Segen verhieß Elder Didier, Manuel werde die Klinik bald verlassen und in sein Missionsgebiet zurückkehren können.
Nachdem die Ärzte Manuels sonstige Verletzungen behandelt hatten, konzentrierten sie sich auf die Rekonstruktion seines Gesichts. Granatsplitter hatten das Jochbein durchschlagen und den Sehnerv des rechten Auges durchtrennt. Das Auge musste daher entnommen werden. Seine Eltern, die nach Lima gekommen waren, überbrachten ihm die Nachricht. „Mein Sohn“, sagte seine Mutter, „man wird dich operieren.“
Manuel war entsetzt. Er spürte keinen Schmerz im Auge und hatte bislang nicht gewusst, warum es verbunden war. Seine Mutter tröstete ihn. „Wir sind hier“, versicherte sie ihm. „Wir sind bei dir.“
Manuel musste sich drei Operationen unterziehen, die in vollem Umfang von der Kirche getragen wurden. Sein Auge wurde entfernt und die beschädigte Augenhöhle wurde wieder instand gesetzt. Er würde lange brauchen, um sich von diesen Eingriffen zu erholen. Einige Verwandte waren der Meinung, er solle nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gleich in seine Heimatstadt zurückkehren. Doch Manuel weigerte sich, seine Mission aufzugeben. „Mein Vertrag mit dem Herrn läuft zwei Jahre – und die sind noch nicht um“, sagte er zu seinem Vater.
Während sich Manuel in der Klinik erholte, erhielt er Besuch von Luis Palomino, einem Freund aus seiner Heimatstadt, der gerade in Lima studierte. Obwohl es Manuel aufgrund seiner Verletzungen schwerfiel, mit Luis zu sprechen, begann er, mit seinem Freund die Missionarslektionen durchzunehmen. Luis war überrascht und beeindruckt von Manuels Entschluss, seine Mission bis zum Ende durchzuziehen.
„Ich frage mich, was dich antreibt“, wollte Luis wissen. „Wieso hast du solch einen großen Glauben?“
Sechs Wochen nach der Explosion durfte Manuel die Klinik verlassen und wurde zunächst im Missionsbüro in Lima eingesetzt. Die Bedrohung durch den Terrorismus war immer noch präsent, und jedes Mal, wenn er ein gelbes Auto sah, überkam ihn Angst. Ohne Medikamente konnte er nachts kaum schlafen.
Jeden Tag wechselte einer der Missionare im Missionsbüro Manuels Verbände. Manuel konnte es nicht ertragen, in den Spiegel zu schauen und die leere Augenhöhle zu sehen. Etwa drei Wochen nach seiner Entlassung aus der Klinik erhielt er ein Glasauge.
Eines Tages kam Luis bei ihm im Missionsbüro vorbei. „Ich möchte mich taufen lassen“, erklärte er. „Was muss ich tun?“ Das Missionsbüro befand sich unweit von Luis’ Wohnung. So konnten Manuel und sein Mitarbeiter in den darauffolgenden Wochen mit ihm die noch fehlenden Lektionen in einem Gemeindehaus gleich in der Nähe durchgehen. Manuel machte es Freude, seinen Freund im Evangelium zu unterweisen, und Luis erfüllte eifrig alle Ziele, die er sich gemeinsam mit den Missionaren gesetzt hatte.
Am 14. Oktober 1990 wurde Luis von Manuel getauft. Die Verletzung machte ihm zwar noch zu schaffen, aber immerhin hatte die ganze Tortur dazu geführt, dass er einen Freund aus seiner Heimatstadt taufen konnte – und damit hatte er auf Mission in keinster Weise gerechnet. Als Luis aus dem Wasser hervorkam, umarmten sie einander, und Manuel verspürte den Heiligen Geist sehr stark. Er wusste, dass auch Luis ihn spüren konnte.
Zur Feier des Tages schenkte Manuel seinem Freund eine Bibel. „Falls finstere Zeiten kommen“, schrieb Manuel auf die Umschlaginnenseite, „erinnere dich einfach an diesen Tag – den Tag deiner Wiedergeburt.“
Darius Gray erhielt unterdessen in Utah einen Anruf von seiner guten Bekannten Margery „Marie“ Taylor, einer Expertin für afroamerikanische Genealogie. Marie war in Salt Lake City in der Family History Library, dem Genealogischen Archiv der Kirche, tätig. Sie war gerade auf einige Mikrofilmrollen mit wichtigen Aufzeichnungen über afroamerikanische Familien gestoßen und konnte ihre Aufregung kaum zügeln. „Du musst herkommen, damit du die volle Bedeutung dieses Fundes erkennst“, drängte sie ihn.
Angesteckt von Maries Begeisterung willigte Darius ein, sich mit ihr zu treffen. Die Family History Library war weltweit das größte Center für Genealogie und wurde jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Als Darius das Archiv zum ersten Mal aufgesucht hatte, wusste er nur wenig über seine Vorfahren, abgesehen von den paar Informationen, die er aus persönlichen Erzählungen oder Fotos von Verwandten kannte. Marie war diejenige, die ihm half, auf seine Fragen Antwort zu finden. Sie selbst war zwar keine Schwarze, doch sie verstand es, Darius in die Aufzeichnungen über seine Familie und überhaupt in die Geschichte der Schwarzen in den Vereinigten Staaten einzuführen.
Als Darius in der Family History Library eintraf, zeigte ihm Marie sogleich ihren neu entdeckten Fund. Freedman’s Savings and Trust Company war eine Bank, die der US-Kongress 1865 gegründet hatte, um frei geborenen Afroamerikanern und ehemaligen Sklaven Sicherheit in finanzieller Hinsicht zu bieten. Über hunderttausend Menschen richteten dort ihr Konto ein. Doch nach nur neun Jahren wurde die Bank zahlungsunfähig, und die hart erarbeiteten Ersparnisse ihrer Kunden gingen verloren.
Trotz des Scheiterns der Bank waren die Aufzeichnungen für Genealogen von unermesslichem Wert. Nachkommen von Sklaven hatten oft Schwierigkeiten, etwas über ihre Vorfahren herauszufinden. Aufzeichnungen, aus denen sich normalerweise Familiennamen und zugehörige Angaben herauslesen lassen – beispielsweise Friedhofslisten, Wählerverzeichnisse sowie Geburts- oder Sterbeurkunden –, gab es für versklavte Menschen entweder generell nicht oder sie waren kaum zugänglich. Die Aufzeichnungen der Freedman’s Bank enthielten jedoch eine Fülle persönlicher Informationen über die Kontoinhaber, darunter die Namen von Familienmitgliedern und den Ort, wo sie in Sklaverei geraten waren. Einige Unterlagen enthielten sogar Personenbeschreibungen der Kunden.
Darius konnte sogleich erkennen, wie wertvoll diese Informationen für Afroamerikaner waren. Doch die Aufzeichnungen stellten die Genealogen vor ein großes Problem. Die Sachbearbeiter, die die Bücher geführt hatten, hatten den Namen der Kontoinhaber und zugehörige Angaben in der Reihenfolge der Kontoeröffnung eingetragen, nicht in alphabetischer Reihenfolge. Dies bedeutete, Forscher würden Zeile für Zeile durchforsten müssen, bis sie auf eine gesuchte Information stießen. Um wirklich gut nutzbar zu sein, mussten die Aufzeichnungen daher aufbereitet werden.
Marie fragte Darius, ob Mitglieder der Genesis-Gruppe bei Abschrift und Indexierung der Aufzeichnungen helfen könnten. Aber es gab nicht genug Freiwillige, die Zeit und einen Computer hatten. Darius schrieb an einen der Apostel und fragte an, ob die Kirche helfen könne. Der Apostel befürwortete zwar prinzipiell das Projekt, sagte jedoch, die Kirche könne es nicht durchführen. Im Allgemeinen befasste sich der Hauptsitz der Kirche auch nicht mit Projekten zur Urkundenauswertung. Diese Tätigkeit wurde von Pfählen und Gemeinden erledigt.
In Ermangelung anderer Möglichkeiten kam Marie eine neue Idee. In den vorangegangenen fünfundzwanzig Jahren hatte die Kirche ja in fünfundvierzig Ländern insgesamt mehr als eintausendzweihundert Center für Familiengeschichte eingerichtet. In diesen Centern konnten Interessierte – ob Mitglied der Kirche oder nicht – mehr über ihre Vorfahren erfahren. Normalerweise war jedes Center einem Pfahl zugeordnet. Doch Marie wusste, dass vor kurzem ein solches Center auch im bundesstaatlichen Gefängnis von Utah eröffnet worden war. Die Inhaftierten durften das Center eine Stunde pro Woche nutzen. Konnten Darius und sie aus diesem Personenkreis eventuell Freiwillige für das Projekt Freedman’s Bank gewinnen?
Marie sprach mit dem Leiter des Centers im Gefängnis, und schon bald arbeiteten vier Häftlinge fleißig an den Unterlagen.
Im September 1990 besuchte Alice Johnson die Lehranstalt Holy Child Teacher Training College in Takoradi in Ghana. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit die Regierung die Arbeit der Kirche im Land untersagt und damit auch ihre Mission abrupt beendet hatte. Alice war zunächst unsicher gewesen, was sie nun tun sollte. Auf Anraten ihrer Schwester hatte sie sich jedoch entschlossen, Lehrerin zu werden, und wurde für das folgende Studienjahr am College angenommen.
Da der „Freeze“ Monat für Monat anhielt, gewöhnten sich Alice und die übrigen Mitglieder daran, den Gottesdienst zuhause abzuhalten. Emmanuel Kissi, Präsident des Distrikts Accra, wurde amtierender Missionspräsident und präsidierender Priestertumsführer der Kirche im Land. Er reiste viel in Ghana umher und besuchte und stärkte die Heiligen. Die Regierung gestattete, dass sich die Kirche auf ihren „wesentlichen Betätigungsfeldern“ vorübergehend weiter engagieren durfte, sodass noch einige Angestellte im Bereich Wohlfahrt, Bildungswesen und Versand arbeiteten. Die Mitglieder durften aber weder Zehnten noch Opfergaben zahlen, aber einige legten einen Teil ihrer Einkünfte beiseite und warteten geduldig, bis sie wieder spenden konnten.
Anders als William Acquah und die Mitglieder, die in Cape Coast kurzzeitig inhaftiert waren, wurde Alice im Verlauf des „Freeze“ nicht schikaniert. Sie kam sonntags mit ein paar Freunden in einer Privatwohnung zusammen, wo sie vom Abendmahl nahmen, beteten und Ansprachen hielten. Ihre Eltern waren weiterhin auf Mission, ohne jedoch ein Namensschild oder Missionarskleidung zu tragen, und besuchten sie, wann immer sie in der Gegend waren. Doch während Alice darauf wartete, dass die regulären Versammlungen wieder aufgenommen werden konnten, hatte sie das Gefühl, auf der Stelle zu treten.
Im November 1990 erfuhr Alice schließlich, dass die Sperre der Kirche aufgehoben worden sei. Seit Beginn des „Freeze“ hatten sich Präsident Kissi und weitere Heilige bei Regierungsvertretern für die Aufhebung der Beschränkungen eingesetzt. Als Reaktion auf Fehlinformationen in Bezug auf die Lehre der Kirche schrieben sie lange Briefe, in denen sie Lehre und Geschichte der Kirche erläuterten, und wandten sich persönlich an die verantwortlichen Regierungsmitglieder. Wenn Beamte Bedenken wegen der früheren Einschränkungen beim Priestertum äußerten, erklärten sie ihnen, dass Schwarze jetzt dieselben Rechte wie alle anderen Mitglieder hatten. Selbst Glaubensgemeinschaften, die den Heiligen eigentlich ablehnend gegenübergestanden hatten, traten für deren Recht auf freie Religionsausübung ein, weil sie einsahen, dass der „Freeze“ letztlich auch ihre eigene Religionsfreiheit gefährdete.
Eine Schlüsselfigur bei der Aufhebung der Sperre war Isaac Addy, der die Verwaltung der Kirche in Ghana auf regionaler Ebene leitete. Er war der ältere Halbbruder von Jerry Rawlings, dem Präsidenten Ghanas. Die Brüder hatten sich entfremdet, und Isaac wollte mit Jerry eigentlich nicht über den „Freeze“ sprechen. Eines Tages jedoch überredete ihn Georges Bonnet, der Verwaltungsdirektor für Afrika, so lange zu beten, bis sich sein Herz für seinen Bruder erweiche. Dies tat Isaac, und der Heilige Geist rührte sein Herz an, sodass Isaac auch in ein Treffen mit Jerry einwilligte. Noch am selben Abend unterhielten sich die beiden, und am Ende des Gesprächs hatten sie ihre Differenzen beigelegt. Am Tag darauf beschloss die Regierung, den „Freeze“ zu beenden.
Als Alice zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren wieder an einer offiziellen Versammlung der Kirche teilnahm, war sie sehr bewegt. Fast hundert Mitglieder kamen an diesem Tag in den Zweig Takoradi. Die Versammlung dauerte über zwei Stunden, weil so viele aufstanden und Zeugnis gaben.
Alice war aufgeregt und besorgt zugleich, als sie an die Neubekehrten aus ihrer Mission in Koforidua dachte. Sie fragte sich, ob sie in den letzten anderthalb Jahren dem Evangelium treu geblieben waren. Von einigen Mitgliedern wusste sie, dass sie sich hatten entmutigen lassen und der Kirche den Rücken gekehrt hatten.
Kurz nach Ende des „Freeze“ wurden in Ghana die ersten beiden Pfähle gegründet. In Cape Coast wurde Billy Johnson, Alices Vater, als Pfahlpatriarch berufen. Die Regierung gestattete es nun auch, dass im Land die Missionsarbeit wieder aufgenommen wurde. Grant Gunnell, der neuberufene Präsident der Ghana-Mission Accra, bat Alice zu einem Gespräch. Er hatte sechzig Missionare ausfindig gemacht, die vor dem „Freeze“ auf Mission gewesen waren, und wollte nun wissen, ob sie bereit wären, ihren Dienst wieder aufzunehmen.
„Würden Sie nach der Uni denn Ihre Mission fortführen wollen?“, fragte er Alice.
„Nein“, antwortete sie, ohne zu zögern. „Ich möchte gleich gehen.“
„Was?“, fragte der Präsident, überrascht von ihrer schnellen Antwort.
„Ich möchte gleich auf Mission gehen“, wiederholte Alice. Gott zu dienen stand für sie immer an erster Stelle. Um seinetwillen war sie auch bereit, ihr Studium zu unterbrechen.
Schon bald war Alice zurück im Missionsgebiet. Als sie das ihrem Vater erzählte, der ja enorm viel Zeit seines Lebens der Verkündigung des wiederhergestellten Evangeliums gewidmet hatte, war er nicht überrascht.
„Du bist halt meine Tochter“, meinte er.
Als Manuel Navarro im März 1991 seine Mission beendete, kamen seine Eltern nach Lima, um ihn abzuholen. Da sein Wohnort nicht in einem Pfahlgebiet lag, hatte ihn der zuständige Missionspräsident bereits als Missionar entlassen. Doch Manuel war noch nicht gänzlich bereit, nach Nazca, seiner Heimatstadt im Süden Perus, zurückzukehren. Er hatte nämlich einer Freundin der Kirche aus seinem letzten Einsatzgebiet versprochen, zu ihrer Taufe zu kommen, und so blieben seine Eltern und er noch eine Woche in der Stadt.
Eines Morgens gingen Manuel und sein Vater los, um Brot für das Frühstück zu kaufen. Sein Vater merkte, dass er vergessen hatte, Geld mitzunehmen, also drehte er um und ging wieder ins Haus. „Warte hier auf mich“, meinte er.
Manuel stand stocksteif da. Nachdem er so lange einen Mitarbeiter gehabt hatte, war es ein seltsames Gefühl, allein auf der Straße zu stehen. Nach einem Moment der Unsicherheit beschloss er, ruhig stehenzubleiben. „Ich bin jetzt kein Missionar mehr“, dachte er.
Selbst nach der Rückkehr nach Nazca fiel es Manuel schwer, sich an das Leben nach der Mission zu gewöhnen – vor allem wegen seines Handicaps. Das eingeschränkte räumliche Sehen machte zum Beispiel das Händeschütteln schwieriger. Er bewegte die Hand immer wieder an der anderen vorbei. Doch dann begann ein Bruder aus seinem Zweig, mit ihm Tischtennis zu spielen. Das Fixieren des kleinen, weißen Balls mit einem Auge half ihm, eine bessere Tiefenwahrnehmung zu entwickeln.
Im April zog Manuel nach Ica, einer größeren Stadt, um dort an der Universität Fahrzeugmechanik zu studieren. Ica lag keine hundertfünfzig Kilometer von Nazca entfernt, und er hatte dort Bekannte und Verwandte. Im Haus seiner Tante hatte er ein Zimmer für sich allein. Seine Mutter machte sich jedoch Sorgen um ihn und rief ihn fast jeden Abend an. „Mein Sohn“, mahnte sie ihn oft, „vergiss nie zu beten!“ Und wann immer er Kummer oder Schmerzen hatte, betete er um Kraft und fand Zuflucht beim Herrn.
Im Pfahl Ica wurden Institutsklassen angeboten, außerdem gab es eine Gruppe Alleinstehender, die Aktivitäten und Andachten organisierten, damit die jungen, unverheirateten Mitglieder einander kennenlernen und gesellig beisammen sein konnten. Manuel fand dadurch in seiner neuen Gemeinde in Ica ein Zuhause. Die Kinder in der Kirche starrten oft auf sein Glasauge, doch die Erwachsenen behandelten ihn wie jedes andere Mitglied auch.
Eines Tages wurde Manuel zu einem Gespräch mit Alexander Nunez gebeten, dem Präsidenten des Pfahles Ica. Manuel kannte Präsident Nunez seit seiner Jugend in Nazca. Präsident Nunez war damals Koordinator für das Bildungswesen der Kirche gewesen und hatte immer wieder mal Manuels Seminarklasse besucht. Manuel bewunderte ihn sehr.
Im Verlauf des Gesprächs berief Präsident Nunez Manuel in den Hoherat.
„Na, so etwas“, dachte sich Manuel. Normalerweise waren diejenigen, die Pfahlberufungen innehatten, älter und erfahrener als er. Dennoch hatte ihm Präsident Nunez sein Vertrauen ausgesprochen.
In den Wochen darauf besuchte Manuel die ihm zugeteilten Gemeinden. Anfangs war er bei den Gesprächen mit den Führungsverantwortlichen der Gemeinden ein wenig unsicher. Aber er lernte, sich auf die Berufung zu konzentrieren, nicht auf sich selbst. Und in dem Maße, wie er sich mit den Handbüchern der Kirche vertraut machte und dem Pfahl Bericht erstattete, verflog auch seine Sorge, für das Amt zu jung zu sein. Er stellte fest, dass es ihm Freude machte, den Heiligen im Pfahl Zeugnis zu geben, an Andachten teilzunehmen und die jungen Leute dazu zu ermutigen, auf Mission zu gehen.
Die Folgen seiner Verletzungen trug Manuel nach wie vor mit sich herum. Wenn er allein war, war er mitunter niedergeschlagen und erschüttert bei der Erinnerung an das Attentat, dessen Opfer er geworden war. Die heiligen Schriften waren voll von wundersamen Geschichten über Gläubige, die von Gebrechen geheilt oder vor Gefahren bewahrt worden waren. Doch darin stand auch etwas über Männer wie Ijob oder Joseph Smith, die Schmerz und Ungerechtigkeit erleiden mussten, ohne sogleich befreit zu werden. Wenn Manuel sich Gedanken über seine Verletzungen machte, fragte er sich zuweilen: „Warum musste mir das passieren?“
Dennoch wusste er, dass er sich glücklich schätzen konnte, das Attentat überlebt zu haben. In den Monaten nach seiner Verwundung hatten Terroristen Mitglieder und Missionare ins Visier genommen und umgebracht, was unter den Heiligen in Peru Trauer und Angst verbreitete. Doch die Zeiten änderten sich. Die peruanische Regierung hatte begonnen, hart gegen den Terrorismus vorzugehen. Dadurch gab es weniger Anschläge. In der Kirche hatten die Mitglieder vor Ort eine Initiative mit dem Motto „Vertrau auf den Herrn“ ins Leben gerufen, die dazu aufforderte, zu fasten, zu beten und Glauben auszuüben, damit sie von der Gewalt im Land befreit würden.
Manuel stellte fest, dass seine Ausbildung und der Dienst in der Kirche ihm beim Umgang mit seinen Schwierigkeiten halfen. Er vertraute auf den Herrn und behielt ihn im Sinn.
Ungefähr zu der Zeit, als Manuel von seiner Mission zurückkehrte, reiste Gordon B. Hinckley, der Erste Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft, nach Hongkong, um sich mögliche Grundstücke für ein Haus des Herrn anzusehen. Als junger Apostel war er für die Entwicklung der Kirche in Asien zuständig gewesen und war nun über den Fortschritt hier sehr erfreut. Die Region zählte zweihunderttausend Mitglieder und es gab vier Tempel – jeweils einen in Japan, Taiwan, Südkorea und den Philippinen. Während die Kirche in Ländern wie Myanmar, Laos, der Mongolei oder Nepal noch nicht vertreten war, schlugen in Singapur, Indonesien, Malaysia und Indien neue Zweige bereits Wurzeln.
Hongkong, wo sich das Büro der Kirche für das Gebiet Asien befand, war britisches Territorium. In sechs Jahren würde jedoch die Zuständigkeit von Großbritannien auf die Volksrepublik China übergehen.
China versprach im Rahmen der Übergabe, das wirtschaftliche und politische System Hongkongs anzuerkennen und die Religionsausübung seiner Bürger zu respektieren. Dennoch sahen sich die Führer der Kirche angesichts von achtzehntausend Mitgliedern im Territorium veranlasst, dort bereits vor Beendigung der britischen Staatshoheit ein Haus des Herrn zu bauen.
Präsident Hinckley verbrachte einen Tag damit, sich verschiedene Grundstücke anzusehen, fand aber keines, das erschwinglich gewesen wäre. Anderswo auf der Welt konnte die Kirche den Kauf teurer Grundstücke mitten in der Stadt dadurch vermeiden, dass sie Tempel in den Vorstädten baute. Doch Hongkong war eine dicht besiedelte Region mit über fünf Millionen Einwohnern, was den Erwerb eines geeigneten Grundstücks fast unmöglich machte.
Präsident Hinckley fragte sich, ob die Kirche nicht einfach einen Tempel auf einem der kleineren Grundstücke bauen sollte, die sie in der Stadt bereits besaß. Er stellte sich ein Mehrzweckgebäude vor – ein Hochhaus, dessen untere Stockwerke als Gemeindehaus und Missionsbüro dienen sollten.
„Die drei obersten Stockwerke könnten ein Tempel sein“, dachte er. „Das wäre doch problemlos möglich.“
Es war eine interessante Möglichkeit. Doch die Kirche hatte noch nie ein solches Gebäude errichtet, und Präsident Hinckley war sich nicht sicher, ob das für die Mitglieder in Hongkong die beste Lösung wäre.
Am 15. Juni 1991 ertönte in Ungarns historischem Budapester Opernhaus tosender Applaus, als der Tabernakelchor vor tausendvierhundert Zuhörern seine letzte Zugabe gab. Unter den Konzertbesuchern waren auch Elder Russell M. Nelson und seine Frau Dantzel. Sie waren mit dem Chor auf einer dreiwöchigen Tournee durch etliche europäische Länder.
Fünf Jahre lang war Elder Nelson dafür zuständig gewesen, die Beziehungen der Kirche zu den Regierungen in Mittel- und Osteuropa zu verbessern. Viele der Länder, darunter auch Ungarn, befanden sich nun im Übergang von einer kommunistisch geprägten Regierungsform hin zu einer demokratischen. In der Tschechoslowakei herrschte bereits völlige Religionsfreiheit, und die Regierung erkannte die Kirche offiziell an. Ost- und Westdeutschland waren zu einem Land geworden, und die Einschränkungen aus der DDR-Zeit hatten nunmehr ein Ende. Missionare durften auch in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Slowenien und Kroatien das Evangelium verkünden.
Die Tournee des Chors war eine Gelegenheit, Brücken zu bauen. Und dem Beifall nach zu urteilen, hatte das Konzert das auch geschafft.
„Ich möchte, dass Sie wissen“, sagte ein ungarischer Konzertbesucher nach der Aufführung zu einem Chormitglied, „dass meine Frau und ich auch an Gott glauben. Wir verstehen, was Ihre Musik aussagt.“
Tags darauf sprach Elder Nelson auf einer Abendmahlsversammlung im Festsaal eines Hotels mit Blick auf den Hügel, auf dem er vier Jahre zuvor Ungarn für die Verkündigung des Evangeliums geweiht hatte. Er war damals in Begleitung einer Handvoll Menschen dort gewesen, darunter des einzigen Mitglieds der Kirche in Budapest. Jetzt war das Land die Heimat von vierhundert Heiligen.
Von Ungarn aus reiste der Chor nach Österreich, in die Tschechoslowakei, nach Deutschland, Polen und in die Sowjetunion. Elder Nelson traf mit Elder Dallin H. Oaks in der Sowjetrepublik Armenien zusammen, wo die Kirche nach einem verheerenden Erdbeben humanitäre Hilfe geleistet hatte. Seit dem Besuch von Elder Nelson in der Sowjetunion im Jahr 1987 hatten sich in diesem Land bedeutsame politische und gesellschaftliche Veränderungen vollzogen. Man war dem Ausland gegenüber offener, und die Menschen in mehreren Sowjetrepubliken strebten nach mehr Kontrolle über ihre lokalen Angelegenheiten. Außerdem herrschte mehr Religionsfreiheit, und zugleich wuchs das Interesse an Religion.
Obwohl die Kirche in der Sowjetunion nicht offiziell vertreten war, hinderte nichts die sowjetischen Bürger daran, ins Ausland zu reisen, wo manche dann das wiederhergestellte Evangelium fanden und es bei ihrer Rückkehr mit nach Hause brachten. 1990 gab es in Leningrad in Russland sowie in Tallinn in Estland genügend Mitglieder, um die Kirche in diesen Städten amtlich eintragen zu lassen. Missionare und Mitglieder in Finnland waren vorerst damit beauftragt, die Neubekehrten zu unterstützen.
In Moskau staunte Elder Nelson darüber, wie tolerant die russische Regierung gegenüber der Kirche geworden war. In den vergangenen Jahren hatte er mehrmals den Atlantik überquert und war in Osteuropa mit etlichen Regierungsvertretern zusammenzukommen. Anfangs schienen sie nicht erfreut, ihn zu sehen, und oft beschlich ihn das Gefühl, seine Bemühungen seien vergeblich. Doch der Herr bereitete einen Weg.
Die Kirche hatte mittlerweile einen Zweig in Leningrad. In den Städten Wyborg und Moskau hatten die Mitglieder für ihre kleine Gemeinde ebenfalls eine staatliche Genehmigung erhalten. Die Fortschritte waren bemerkenswert! Elder Nelson hoffte, dass die Kirche bald in ganz Russland, der bei weitem größten Republik der Sowjetunion, öffentlich anerkannt sein würde.
Nach einem Konzert des Tabernakelchors im Moskauer Bolschoi-Theater gingen die Nelsons und Elder Oaks über die Straße zum Hotel Metropol, wo die Kirche nach dem Konzert ein Abendessen gab. Elder Nelson hatte auf dieser Reise dank Beverly Campbell, der Leiterin des Büros für internationale Angelegenheiten der Kirche in Washington, D.C., schon an vielen solchen Abendessen und Empfängen teilgenommen. In ihrer Funktion hatte Beverly wiederholt Treffen arrangiert und in aller Welt für Kontakte zwischen Vertretern der Kirche und Regierungsbeamten gesorgt.
Beim Abendessen trat Elder Nelson ans Mikrofon und dankte den zahlreichen wichtigen Persönlichkeiten für ihr Kommen. Dann bat er Alexander Ruzkoi, den Vizepräsidenten Russlands, zu sich nach vorne. Elder Nelson sagte: „Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie nun das Wort an uns richteten.“
„Verehrte Gäste“, hob Vizepräsident Ruzkoi an, „wir freuen uns, heute Abend die Gelegenheit zu haben, Sie bei uns zu begrüßen. Ich möchte dieses Dokument vom 28. Mai 1991 verlesen, das die amtliche Eintragung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik bestätigt.“
Elder Nelson war voll Freude, als Vizepräsident Ruzkoi das Schriftstück vorlas. Er hatte zwar gehofft, die öffentliche Bekanntgabe werde bald erfolgen, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass dies noch an jenem Abend der Fall sein werde. Die formale Anerkennung bedeutete, dass die Kirche mehr Missionare nach Russland schicken, Literatur der Kirche drucken und verteilen und weitere Gemeinden gründen konnte.
Am nächsten Tag kamen Elder Nelson, Elder Oaks und weitere Vertreter der Kirche mit Regierungsmitgliedern zusammen. Zwischendurch fand Elder Nelson auch die Zeit, einen kleinen Park in der Nähe des Kremls aufzusuchen und dort ein Dankgebet zu sprechen.
Eine Woche später besuchten die beiden Apostel Präsident Benson in seiner Wohnung in Salt Lake City. Sie zeigten ihm den Beleg der amtlichen Eintragung der Kirche in Russland und sagten ihm, hiermit sei die Kirche in Osteuropa nun offiziell eingeführt.
Als Präsident Benson diese Nachricht vernahm, strahlte er vor Freude.