Kapitel 27
Freundschaftlich die Hand entgegenstrecken
Nachdem Präsident Hinckley Hongkong verlassen hatte, ohne einen Platz für den Tempel auszuwählen, beauftragte die Präsidentschaft des Gebiets Asien Tak Chung „Stanley“ Wan, den Verwaltungsdirektor der Kirche in Asien, mit der Erstellung einer neuen Liste möglicher Grundstücke. Stanley und sein Team begannen sogleich mit der Suche. Als Präsident Hinckley Ende Juli 1992 nach Hongkong zurückkehrte, waren sie zuversichtlich, dass irgendwo auf ihrer Liste bestimmt der künftige Standort für das Haus des Herrn zu finden war.
Stanley liebte den Tempel und sehnte sich danach, einen in der Nähe seines Wohnortes zu haben. Seine Eltern waren Flüchtlinge vom chinesischen Festland. Kurz nachdem Missionare seit 1955 wieder in Hongkong hatten tätig sein dürfen, schloss sich sein Vater der Kirche an. Seine Mutter, eine Buddhistin, ließ sich ein paar Jahre später taufen. Obwohl sich die Familie keine Reise zum nächstgelegenen Tempel leisten konnte, hatte Stanley 1975 vor Antritt seiner Vollzeitmission schließlich im Hawaii-Tempel das Endowment erhalten können. Fünf Jahre später nahm er seine Eltern mit nach Hawaii, damit auch sie die Segnungen des Tempels empfangen konnten. Das verschlang zwar seine Ersparnisse, doch er war überzeugt, dass die Reise das Opfer wert war.
Sechs Monate nachdem er seine Eltern zum Haus des Herrn mitgenommen hatte, heiratete Stanley Ka Wah „Kathleen“ Ng, ebenfalls ein Mitglied aus Hongkong. In der chinesischen Kultur war es üblich, für Familie und Freunde zur Hochzeit ein neungängiges Festmahl auszurichten. Stanley und Kathleen hatten jedoch beschlossen, auf diesen Brauch zu verzichten und das Geld lieber für die Reise zum Tempel auszugeben. Sie wurden im Salt-Lake-Tempel für Zeit und Ewigkeit gesiegelt. Von diesem Zeitpunkt an war es das Ziel des Paares, trotz der hohen Kosten mindestens einmal im Jahr zum Tempel zu fahren.
Für Stanley wurde ein Traum wahr, als er erfuhr, dass die Kirche nun in Hongkong einen Tempel bauen wollte. Die Mitglieder vor Ort würden nicht mehr weite Strecken zurücklegen oder auf ihre Ersparnisse zurückgreifen müssen, um an den heiligen Handlungen teilzunehmen. Doch zuallererst benötigte die Kirche ein geeignetes Grundstück.
Am 26. Juli 1992 verbrachte Stanley den Vormittag damit, Präsident Hinckley zu möglichen Standorten zu fahren, aber der eine war zu teuer, der andere zu klein oder zu abgelegen. Stanley und die Gebietspräsidentschaft waren sich sicher, dass das Grundstück, das sie als Nächstes bei Tseung Kwan O besichtigen wollten, genau das richtige sein würde. Es lag weit weg von der Hektik der Großstadt inmitten einer wunderschönen Landschaft. Die Hongkonger Regierung würde der Kirche das Gelände sogar zu einem reduzierten Preis verkaufen. Sicherlich würde es Präsident Hinckley gefallen.
Es war sonnig, als die Gruppe in Tseung Kwan O ankam. Der Fahrer bot Präsident Hinckley an, einen Sonnenschirm über ihn zu halten, während er das Gelände besichtigte. Dankend lehnte Präsident Hinckley ab. „Ich möchte alleine beten“, sagte er.
Stanley und die anderen warteten neben den Wagen, während Präsident Hinckley über das Gelände ging, sich das Grundstück ansah und betete. Dann kehrte Präsident Hinckley zur Gruppe zurück. „Das ist nicht der richtige Platz“, beschied er.
„Wenn das nicht der richtige Platz ist“, fragte sich Stanley, „wo denn dann?“ Er hatte das Gefühl, all ihre Arbeit sei umsonst gewesen. Würde denn das Haus des Herrn in Hongkong weiterhin bloß ein Traum bleiben?
Später am Vormittag läutete bei Kathleen Wan zuhause das Telefon. Stanley war am Apparat. Noch immer war er mit Präsident Hinckley in Hongkong unterwegs, aber er bat Kathleen, doch zur Wohnung von Monte J. Brough, dem Präsidenten des Gebiets Asien, zu kommen. Er, Stanley, werde auch dort sein, und Präsident Hinckley habe Kathleen eingeladen, mit ihm und den anderen dort zu Mittag zu essen.
Als Kathleen bei Familie Brough ankam, waren Stanley und die übrigen Gäste noch unterwegs, und so half sie Lanette, Elder Broughs Frau, einen Imbiss mit Aufschnitt, Brot, Käse, Salat, Obst, Eiscreme, Kürbisbrot und Kokosplätzchen vorzubereiten. Alles sah köstlich aus.
Bald schon trat Stanley mit Präsident Hinckley, Elder Brough und einigen anderen durch die Tür. Am Esstisch saß Präsident Hinckley Kathleen gegenüber. Sie hatte ihn schon mehrmals auf einer Versammlung gesehen und mochte seinen Sinn für Humor und die Art und Weise, wie er es schaffte, dass sich die Leute – auch sie – in seiner Gegenwart wohlfühlten. Doch bis jetzt hatte sie noch nie persönlich mit ihm gesprochen. Er fragte sie nach ihren drei Kindern, und sie erzählte ein wenig von ihnen.
Im Hinterkopf aller Anwesenden blieb jedoch nach wie vor die Frage nach dem Standort für den Tempel. Präsident Hinckley schien unbesorgt, obwohl die Suche nicht erfolgreich verlaufen war. Während sie aßen, erzählte er ihnen von einem heiligen Erlebnis an jenem Morgen gegen vier Uhr.
Er war aus tiefem Schlaf aufgewacht, geplagt von Gedanken an den Ort für den Tempel. Er hatte einen weiten Weg mit hohen Kosten auf sich genommen, um den Platz auszuwählen, und ihm blieb nicht viel Zeit – kaum mehr als ein Tag –, um eine Entscheidung zu treffen. Während er wegen des Standortes grübelte, begann er sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Doch dann hatte die Stimme des Geistes zu ihm gesprochen. „Warum machst du dir darüber Sorgen?“, hatte die Frage gelautet. „Es gibt ja dieses schöne Grundstück, auf dem das Missionsheim und das kleine Gemeindehaus stehen.“
Kathleen und Stanley kannten das Grundstück. Es gehörte der Kirche seit fast vierzig Jahren. Aber Stanley hatte es nie ernsthaft als möglichen Standort für das Haus des Herrn in Betracht gezogen. Das Grundstück war zu klein, außerdem lag es in einem Teil der Stadt, der im Laufe der Zeit gefährlich geworden und verrufen war.
Doch offenbar glaubte Präsident Hinckley felsenfest, die Kirche könne dort einen Tempel bauen. Er sagte, der Heilige Geist habe es ihm beschrieben.
„Baut ein Gebäude mit sieben bis zehn Stockwerken auf diesem Grundstück“, hatte ihn der Geist angewiesen. „Auf den unteren beiden Etagen können die Kapelle und einige Klassenräume sein und auf den obersten zwei oder drei Etagen der Tempel. In die dazwischenliegenden Stockwerke kommen Büros und Apartments.“ Das oberste Stockwerk könnte der celestiale Saal sein, und ein Engel Moroni würde die Spitze des Gebäudes zieren.
Der Entwurf ähnelte der inspirierten Idee, die er ein Jahr zuvor gehabt hatte, als er daran dachte, den Tempel in einem Hochhaus unterzubringen.
Kathleen staunte über Präsident Hinckleys Idee. Während er sprach, zeigte er ihr und den übrigen Gästen eine grobe Skizze des Grundrisses des Tempels, die er in der Nacht gezeichnet hatte. Kathleen hatte nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass man einen Tempel oben auf ein Gebäude setzen könne, aber sie hatte Glauben an den Plan des Herrn. Kowloon Tong war zwar nicht der schönste Teil Hongkongs, war aber mit dem öffentlichen Nahverkehr gut zu erreichen, und das Gebiet würde sich im Laufe der Zeit schon weiterentwickeln.
Nachdem Präsident Hinckley dieses Erlebnis geschildert hatte, fragte er: „Unterstützen Sie diese Entscheidung?“
„Natürlich“, erwiderten alle Anwesenden. Ihre Gebete um ein Haus des Herrn in Hongkong waren endlich erhört worden.
Im August 1992 strebte der dreiundzwanzigjährige Willy Sabwe Binene einen Beruf im Bereich Elektrotechnik an. Seine Ausbildung am Institut Supérieur Technique et Commerciale in Lubumbashi, einer Stadt im zentralafrikanischen Zaire, verlief gut. Er hatte gerade sein erstes Studienjahr beendet und freute sich schon auf das zweite.
In den Semesterferien kehrte Willy in seine Heimatstadt Kolwezi zurück, die etwa dreihundert Kilometer nordwestlich von Lubumbashi lag. Er und weitere Verwandte gehörten zum Zweig Kolwezi. Nach der Offenbarung über das Priestertum im Jahr 1978 hatte sich das wiederhergestellte Evangelium über Nigeria, Ghana, Südafrika und Simbabwe hinaus in mehr als ein Dutzend weitere afrikanische Länder ausgebreitet: Liberia, Sierra Leone, Elfenbeinküste, Kamerun, die Republik Kongo, Uganda, Kenia, Namibia, Botsuana, Swasiland, Lesotho, Madagaskar und Mauritius. Die ersten Missionare der Kirche waren 1986 nach Zaire gekommen. Inzwischen gab es dort etwa viertausend Heilige.
Kurz nachdem Willy in Kolwezi angekommen war, rief ihn der Zweigpräsident zu einem Gespräch zu sich. „Wir müssen dich darauf vorbereiten, auf Vollzeitmission zu gehen“, erklärte er.
„Ich muss doch mein Studium fortsetzen“, erwiderte Willy verblüfft. Er erklärte, sein Studium der Elektrotechnik werde noch drei Jahre dauern.
„Du solltest zuerst auf Mission gehen“, beharrte der Zweigpräsident. Er wies darauf hin, dass Willy der erste junge Mann aus dem Zweig sei, der für eine Vollzeitmission in Frage kam.
„Nein“, meinte Willy, „das geht nicht. Ich werde erst meinen Abschluss machen.“
Willys Eltern waren nicht sonderlich erfreut, als sie erfuhren, dass er die Aufforderung des Zweigpräsidenten abgelehnt hatte. Seine Mutter, von Natur aus eigentlich eher zurückhaltend, fragte ihn direkt: „Wieso gehst du nicht?“
Eines Tages gab der Heilige Geist Willy ein, seinen Onkel Simon Mukadi zu besuchen. Im Wohnzimmer seines Onkels sah er ein Buch auf einem Tisch liegen. Etwas daran zog ihn unwiderstehlich an. Er trat näher und las den Titel: Le miracle du pardon, die französische Ausgabe von Spencer W. Kimballs Buch Das Wunder der Vergebung. Fasziniert nahm Willy das Buch zur Hand, schlug es aufs Geratewohl auf und begann zu lesen.
Auf der Seite ging es um Götzendienst. Willy war schnell von dem Text gefesselt. Elder Kimball schrieb, dass Menschen sich nicht nur vor Götzen aus Holz, Stein und Ton verneigten, sondern auch ihren eigenen Besitz anbeteten. Und manche Götzen hatten überhaupt keine greifbare Form.
Die Worte ließen Willy erzittern. Er hatte das Gefühl, der Herr spräche direkt zu ihm. In diesem Augenblick entschwand ihm jeglicher Wunsch, die Uni noch vor seiner Mission zu beenden. Er suchte seinen Zweigpräsidenten auf und teilte ihm mit, dass er seine Meinung geändert habe.
„Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?“, wollte der Zweigpräsident wissen.
Nachdem ihm Willy die Geschichte erzählt hatte, zog der Zweigpräsident die Missionspapiere aus der Schublade. Er sagte: „Gut, legen wir los, und gehen wir alles von Anfang an durch.“
Während Willy sich auf seine Mission vorbereitete, kam es in der Region, in der er lebte, jedoch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Zaire lag im afrikanischen Kongobecken, wo verschiedene einheimische und ethnische Gruppen schon seit Generationen gegeneinander kämpften. Kürzlich hatte der Gouverneur von Willys Provinz die Katangesen, die die ethnische Mehrheit stellten, gedrängt, die Minderheit der Kasaianer zu vertreiben.
Im März 1993 griff die Gewaltwelle auf Kolwezi über. Militante Katangesen zogen durch die Straßen und schwangen Macheten, Stöcke, Peitschen und sonstige Waffen. Sie terrorisierten kasaianische Familien und brannten deren Häuser nieder, ohne sich um die darin befindlichen Menschen oder Habseligkeiten zu kümmern. Aus Angst um ihr Leben versteckten sich viele Kasaianer vor den Plünderern oder flohen aus der Stadt.
Willy war Kasaianer und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die militante Gruppe auch Jagd auf ihn und seine Familie machen würde. Um Schaden abzuwenden, unterbrach er daher seine Missionsvorbereitungen und half seiner Familie bei der Flucht nach Luputa, einer gut 600 Kilometer entfernten kasaianischen Stadt, wo bereits einige Verwandte lebten.
Da aus Katanga nur selten Züge verkehrten, hatten hunderte von kasaianischen Flüchtlingen vor dem Bahnhof von Kolwezi ein ausgedehntes Lager errichtet. Als Willy und seine Familie dort ankamen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als unter dem Sternenhimmel zu schlafen, bis sich ein Dach über dem Kopf finden ließ. Die Kirche, das Rote Kreuz und andere humanitäre Organisationen waren vor Ort, um den Flüchtlingen Lebensmittel, Zelte und medizinische Versorgung bereitzustellen. Es gab jedoch keine ausreichenden sanitären Einrichtungen, und das Lager stank nach menschlichen Ausscheidungen und brennendem Müll.
Nach einigen Wochen im Lager erhielten die Binenes die Nachricht, dass ein Zug einen Teil der Frauen und Kinder aus dem Lager bringen könne. Willys Mutter und seine vier Schwestern wollten mit anderen Angehörigen diesen Zug nehmen. Unterdessen half Willy seinem Vater und seinem älteren Bruder, einen kaputten offenen Güterwagen zu reparieren. Als der reisefertig war, hängten sie ihn an einen abfahrenden Zug und verließen so das Lager.
Als sie einige Wochen später in Luputa ankamen, konnte Willy nicht umhin, das Städtchen mit Kolwezi zu vergleichen. Die Ortschaft war klein, und es gab dort keinen Strom. Seine Ausbildung in Elektrotechnik nutzte ihm hier also so gut wie gar nichts bei der Jobsuche. Und es gab keinen Zweig der Kirche.
„Was sollen wir hier nur machen?“, fragte er sich.
Etwa zur selben Zeit fuhren Silvia und Jeff Allred über holprige Straßen durch den Chaco, eine dünn besiedelte Region im Westen Paraguays. Es war nun schon dreizehn Jahre her, dass die Allreds in Guatemala gelebt hatten, und die vergangenen Jahre waren für die Familie ereignisreich gewesen. Zuerst waren sie nach Costa Rica gezogen, doch dann wurde Jeff von der Kirche nach Südamerika versetzt, sodass sie erneut umziehen mussten – zunächst nach Chile und dann nach Argentinien. Jetzt waren die Allreds Missionsführer in Paraguay und lebten seit etwa einem Jahr in diesem Land.
Im Chaco gab es eine kleine Gemeinschaft von Heiligen, die dem indigenen Volk der Nivaclé angehörten. Sie lebten in zwei Dörfern, Mistolar und Abundancia, die in einiger Entfernung von der Hauptstraße lagen. Silvia und Jeff waren unterwegs nach Mistolar, dem abgelegeneren Dorf, um einige Vorräte hinzubringen. Die Strecke dorthin war berüchtigt wegen ihrer Unwegsamkeit. Sie war überwuchert von Büschen voller Dornen, die so groß und hart waren, dass sie die Reifen eines Fahrzeugs durchbohren konnten. Als Vorsichtsmaßnahme fuhren die Allreds immer mit zwei Fahrzeugen dorthin, eines davon war mit Ersatzreifen beladen.
Der Weg nach Mistolar war nur eine von vielen Herausforderungen, denen sich die Allreds in Paraguay stellen mussten. Als sie in Asunción ankamen, wussten sie durch Jeffs Verwaltungstätigkeit, dass die Kirche in Paraguay langsamer wuchs als in anderen südamerikanischen Ländern. Bloß warum?
Als sie sich mit den Missionarinnen und Missionaren zusammensetzten, stellten sie fest, dass diese einen Großteil ihrer Zeit damit verbrachten, spanischsprachige Bücher Mormon zu verteilen. Viele Paraguayer, vor allem die in ländlicheren Gegenden, bedienten sich jedoch lieber der indigenen Sprache Guaraní.
Wo immer möglich, versuchten die Missionare der Kirche inzwischen schon, die Menschen in der Sprache zu unterweisen, die sie lieber sprachen. Im Jahr 1993 war die Übersetzung des gesamten Buches Mormon in achtunddreißig Sprachen verfügbar. Ausgewählte Teile waren in sechsundvierzig weitere Sprachen, darunter Guaraní, übersetzt worden.
Nachdem die Allreds erkannt hatten, dass die einheimischen Mitglieder lieber Guaraní sprachen, wiesen sie die Missionare an, bei der Missionsarbeit – wenn immer es angebracht war – diese Sprache einzusetzen. Sie baten die Missionare auch, den Menschen mehr über das Buch Mormon zu erzählen, bevor sie sie aufforderten, es zu lesen. Und sie betonten, wie wichtig es sei, die Grundprinzipien des wiederhergestellten Evangeliums zu vermitteln, realistische Ziele zu setzen und den Glauben aufzubringen, um Freunde der Kirche aufzufordern, die Lehren des Erretters zu befolgen.
Das geistliche Wirken unter den Nivaclé erforderte zusätzliche Anpassungen. Mehrere hundert Nivaclé hatten sich Anfang der 1980er Jahre taufen lassen, nachdem Walter Flores, ein Nivaclé, der sich in Asunción der Kirche angeschlossen hatte, die Missionare zu seinem Volk gebracht hatte. Die Nivaclé lebten allerdings weitgehend isoliert und hatten ihre eigene Sprache und Lebensweise. Sie bauten Kürbisse, Mais und Bohnen an und züchteten Milchziegen. Die Frauen flochten Körbe und die Männer schnitzten Holzfiguren, die sie dann an Touristen verkauften.
In den letzten Jahren hatten es die Zehntengelder der treuen Heiligen in aller Welt ermöglicht, die Gesamtkosten für Bau und Instandhaltung der Gemeindehäuser zu decken. Die Budgets der Gemeinden und Zweige, die vom Hauptsitz in Salt Lake City zugeteilt wurden, dienten auch der Finanzierung von Programmen und Aktivitäten der Kirche. Als isolierte Gemeinschaft brauchten die Nivaclé nur selten Geld für Aktivitäten, wie sie in typischen Gemeinden und Zweigen stattfanden. Stattdessen wurde das Geld oftmals für Reis, Bohnen, Mehl, Öl, Batterien und sonstiges Lebensnotwendige ausgegeben. Die Kirche versorgte die beiden Dorfgemeinschaften zudem mit Kleidung und weiteren Gütern, ähnlich wie sie das auch bei anderen indigenen Völkern in Mittel- und Südamerika tat.
Der tief verwurzelte Glaube der Nivaclé war beim Zweigpräsidenten in Mistolar, Julio Yegros, und seiner Frau Margarita besonders gut erkennbar. 1989 waren sie mit ihren beiden kleinen Kindern im Buenos-Aires-Tempel gesiegelt worden. Doch während der langen Heimreise erkrankten die Kinder und starben. Um mit dieser Tragödie fertigzuwerden, stützten sich die Eheleute auf ihren Glauben an Gottes ewigen Plan und auf ihre Tempelbündnisse.
„Unsere Kinder wurden im Haus des Herrn an uns gesiegelt“, erzählten sie einmal den Allreds. „Wir wissen, dass wir für alle Ewigkeit mit ihnen vereint sein werden. Diese Erkenntnis schenkt uns Frieden und Trost.“
Am 30. Mai 1994 verstarb Präsident Ezra Taft Benson zuhause in Salt Lake City. Wenn die Mitglieder an sein Leben und Wirken dachten, kam ihnen vor allem in den Sinn, dass er der Kirche – und der Welt – das Buch Mormon und dessen auf Christus ausgerichtete Botschaft nahegebracht hatte wie niemand zuvor. Sie dachten auch an seinen Rat, die Gefahren von Stolz und Selbstsucht jedweder Art zu meiden und ebenso auch Streit, Zorn und ungerechte Herrschaft.
Während seiner Amtszeit suchte die Kirche nach neuen Wegen, wie man das Leid in aller Welt lindern könne. 1988 hatte die Erste Präsidentschaft eine Erklärung zur AIDS-Epidemie abgegeben, in der sie ihre Liebe und ihr Mitgefühl für diejenigen zum Ausdruck brachte, die an den Folgen der Krankheit litten, und dazu aufrief, den Betroffenen ebendiese Liebe und dieses Mitgefühl entgegenzubringen. Außerdem hatte die Kirche in der Amtszeit Präsident Bensons ihre humanitäre Hilfe erheblich ausgeweitet, und die Missionare verbrachten nun mehr Zeit damit, sich dort, wo sie tätig waren, auch für die Bürger einzubringen.
In dieser Zeit war die Kirche um über 40 Prozent auf neun Millionen Mitglieder angewachsen. Die Missionsarbeit hatte sich in vielen Teilen der Welt – insbesondere in Afrika – ausgeweitet. Und nach dem kurz zuvor erfolgten Zusammenbruch der Sowjetunion und weiteren politischen Veränderungen in Europa war für die Kirche in mehr als einem Dutzend Ländern in Mittel- und Osteuropa jetzt offiziell der Grundstein gelegt.
Leider hatten Alter und Krankheit Präsident Benson fast fünf Jahre lang daran gehindert, in der Öffentlichkeit zu sprechen. In dieser Zeit war er nicht in der Lage gewesen, mehr als bloß ein paar Worte zu sagen. Zusammen mit dem Kollegium der Zwölf Apostel hatten sich seine beiden Ratgeber Gordon B. Hinckley und Thomas S. Monson im Geist des Betens um die täglichen Belange der Kirche gekümmert. Wenn es möglich war, hatte Präsident Benson ihnen seine Unterstützung für Entscheidungen mit einem einfachen „Ja“ oder einem zustimmenden Lächeln zugesichert.
Zum Zeitpunkt des Todes von Präsident Benson war Howard W. Hunter der dienstälteste Apostel. Mit sechsundachtzig Jahren war es um seine Gesundheit jedoch nicht zum besten bestellt. Um einigermaßen mobil zu sein, benutzte er einen Rollstuhl oder eine Gehhilfe, und seine Stimme klang oft abgespannt und matt. Doch schon in seiner Amtszeit als Apostel hatten die Heiligen seine Demut, sein Mitgefühl, seine Sanftmut und seinen großen Mut bewundert.
Kurz nach seiner Ordinierung zum Präsidenten der Kirche am 5. Juni 1994 hielt Präsident Hunter eine Pressekonferenz ab und gab bekannt, er habe Gordon B. Hinckley und Thomas S. Monson als seine Ratgeber in der Ersten Präsidentschaft ausgewählt. Anschließend bat er alle Mitglieder der Kirche, dem Beispiel des Erretters zu folgen und Liebe, Hoffnung und Mitgefühl an den Tag zu legen. Er forderte die Mitglieder, die sich mit der Kirche schwertaten oder die Gemeinschaft verlassen hatten, zur Rückkehr auf. „Wir wollen Ihnen beistehen und Ihre Tränen trocknen“, erklärte er. „Kommen Sie zurück. Stehen Sie uns zur Seite. Machen Sie weiter. Seien Sie gläubig.“
Er fuhr fort: „Im selben Sinn fordere ich die Mitglieder der Kirche auf, den Tempel des Herrn als das große Symbol ihrer Mitgliedschaft und als gottgegebenen Ort für ihre heiligsten Bündnisse anzunehmen.“ Er legte den Heiligen ans Herz, stets einen gültigen Tempelschein zu haben und ein Volk zu sein, „das gern und oft in den Tempel geht“.
„Eilen wir so oft zum Tempel, wie die Zeit, die Mittel und die persönlichen Umstände es erlauben“, lautete seine Aufforderung.
Später im selben Monat saß Präsident Hunter vor einer großen Zuhörerschaft unter einem Baldachin am ehemaligen Standort des Nauvoo-Tempels in Illinois. Der Himmel war hell und klar. Man hatte einen weiten Blick auf den Mississippi und die dortigen historischen Stätten der Kirche. Die schwüle Luft war schwer, aber alle schienen begierig darauf zu sein, Präsident Hunter sprechen zu hören. Er war mit Präsident Hinckley und Elder M. Russell Ballard nach Nauvoo gekommen, um feierlich den 150. Jahrestag des Märtyrertodes von Joseph und Hyrum Smith zu begehen.
Präsident Hunter war nachdenklich, als er dort am ehemaligen Standort des Tempels saß. Abgesehen von einigen grauen Grundsteinen zeugte wenig davon, dass auf dem grasüberwucherten Grundstück einst ein prächtiges Haus des Herrn gestanden hatte. Er dachte an den Propheten Joseph Smith und fühlte sich dafür verantwortlich, in der Zeit, die ihm selbst noch auf Erden verblieb, alles für das Werk des Herrn zu tun.
Präsident Hunter trat ans Rednerpult und ermunterte die Heiligen erneut, den Tempel zu einem Teil ihres Lebens zu machen. „Wie in den Tagen des Propheten Joseph Smith werden auch heute noch würdige Mitglieder, die ihr Endowment empfangen haben, für den Aufbau des Reiches Gottes in aller Welt gebraucht“, betonte er. „Wenn wir für den Tempel würdig sind, steht unsere Lebensführung im Einklang mit dem Willen des Herrn, und wir können seine Führung erkennen und empfangen.“
Nach der Versammlung sprachen Präsident Hinckley und Elder Ballard vor dem Gefängnis zu Carthage, wo der Prophet Joseph getötet worden war, mit Journalisten. Ein Reporter bat sie, die Kirche von 1844 mit der Kirche in aktueller Zeit zu vergleichen.
„Ihr Problem vor 150 Jahren war ein Mob Männer mit geschwärztem Gesicht“, erläuterte Präsident Hinckley. „Unser Problem heute ist es, dem Wachstum der Kirche Rechnung zu tragen.“ Er sprach von der Herausforderung, für so viele Menschen Gemeindehäuser und Führungsverantwortliche bereitzustellen. In der Tat breitete sich die Kirche in vielen Teilen der Welt sehr rasch aus. In Afrika war die Kirche beispielsweise seit kurzem in Tansania, Äthiopien, Malawi und der Zentralafrikanischen Republik vertreten.
„Was für ein wundervolles Problem das doch ist“, bekräftigte Präsident Hinckley.
Vor dem Gefängnis ergriff Präsident Hunter erneut das Wort. „Die Welt benötigt das Evangelium Jesu Christi, genau wie es durch den Propheten Joseph Smith wiederhergestellt worden ist“, erklärte er vor dreitausend Zuhörern. „Wir müssen langmütiger und hilfsbereiter sein. Wir müssen allen Menschen freundschaftlich die Hand entgegenstrecken und müssen dem Drang nach Vergeltung widerstehen.“
Als die Gedenkfeier endete, legte sich bereits die Abenddämmerung über Carthage. Beim Verlassen des Gefängnisgeländes wurde Präsident Hunter von einer großen Zahl von Mitgliedern jubelnd begrüßt. Obwohl er müde war, blieb er stehen und gab einem jeden die Hand – einem nach dem anderen.