Kapitel 29
Eine große Familie
Anfang 1996 hatte Virgilio Garcia, Präsident des Pfahles Iloilo in den Philippinen, gute Neuigkeiten für die FHV-Präsidentin seines Pfahles, Maridan Nava Sollesta. Diese hatte ein paar Monate zuvor an die Präsidentschaft der Frauenhilfsvereinigung der Kirche geschrieben und um einen Besuch von Chieko Okazaki – der Ersten Ratgeberin von Präsidentin Elaine L. Jack – gebeten. Maridan war von Schwester Okazakis glaubensstärkenden Generalkonferenzansprachen immer ganz begeistert, und sie war der Ansicht, den Frauen in ihrem Pfahl würde es viel bringen, wenn Chieko Okazaki persönlich zu ihnen spräche. Präsident Garcia eröffnete Maridan nun, Schwester Okazaki habe den Auftrag erhalten, ihren Pfahl zu besuchen.
Kurz zuvor hatte die Kirche einen wichtigen Meilenstein erreicht: Es gab jetzt mehr Mitglieder der Kirche außerhalb der Vereinigten Staaten als innerhalb. Maridan und ihr Mann Seb hatten sich beide vor über einem Jahrzehnt der Kirche angeschlossen. Sie waren 1984 im Manila-Tempel gesiegelt worden und hatten drei Söhne bekommen, die jetzt sieben, neun und zehn Jahre alt waren. In den fünf Jahren ihrer Amtszeit als FHV-Präsidentin war die Mitgliederzahl in den Philippinen um mehr als 80.000 gestiegen. Insgesamt lebten dort nun 360.000 Mitglieder der Kirche, womit das Land die fünftgrößte Gruppe von Heiligen der Letzten Tage weltweit aufwies. Lediglich in den Vereinigten Staaten, in Mexiko, Brasilien und Chile gab es mehr Mitglieder.
Auch die Zahl der Generalautoritäten, die nicht aus den Vereinigten Staaten stammten, nahm stetig zu. So gehörten dem Ersten und Zweiten Kollegium der Siebziger bereits Angel Abrea aus Argentinien, Hélio da Rocha Camargo und Helvécio Martins aus Brasilien, Eduardo Ayala aus Chile, Carlos H. Amado aus Guatemala, Horacio A. Tenorio aus Mexiko, Yoshihiko Kikuchi aus Japan, Han In Sang aus Südkorea und Augusto A. Lim aus den Philippinen an. Als Ersatz für das Amt des Regionalrepräsentanten führte die Erste Präsidentschaft 1995 das Amt der Gebietsautorität ein. Dadurch stieg die Anzahl der Priestertumsführer, die weltweit die örtlichen Einheiten unterstützten. Schwester Okazaki, auf Hawaii geboren und aufgewachsen, war die erste Frau asiatischer Abstammung, die einer Präsidentschaft der Hilfsorganisationen der Kirche angehörte.
In Iloilo City erlebte Maridan das Wachstum der Kirche hautnah mit. In ihrem Pfahl gab es bereits acht Gemeinden und sechs Zweige. Für sie und andere Führungsverantwortliche im Pfahl wurde es zunehmend schwierig, jede Gemeinde zu besuchen. Maridan war Eigentümerin und Geschäftsführerin eines Pharmaunternehmens, was sehr zeitaufwendig war. Doch sie tat ihr Bestes, sich der Frauen anzunehmen, die ihrer Obhut anvertraut waren. Viele Neubekehrte hatten sich zu starken Mitgliedern entwickelt. Es gab aber auch etliche Heilige in den Philippinen, die nicht mehr zur Kirche kamen. Manche sprachen nicht einmal mit Maridan, wenn sie zu Besuch kam. Andere wiederum baten sie gerne herein und wussten es zu schätzen, dass sie sich für sie interessierte.
Aus Gesprächen mit diesen Frauen erfuhr Maridan, dass einige von ihnen über andere Mitglieder der Kirche aufgebracht waren. Wieder andere hatten ihren Glauben verloren oder waren zu ihrem früheren Lebenswandel zurückgekehrt. Manche Frauen konnten den Versammlungen kaum folgen und hatten daher keine Freude am Versammlungsbesuch, denn sie konnten weder Englisch noch Tagalog – die beiden Sprachen, die in den Philippinen am meisten in der Kirche genutzt wurden. Zwar war die Kirche darangegangen, Material in mehr Sprachen zur Verfügung zu stellen – in dem Inselstaat gab es fast zweihundert Sprachen und Dialekte –, dennoch war die Verständigung unter den Mitgliedern ein großes Problem.
Schwester Okazaki traf am Morgen des 24. Februar 1996 in Iloilo City ein. Sie, Elder Augusto A. Lim und seine Frau Myrna wurden am Flughafen von einem Empfangskomitee abgeholt, dem auch Maridan und Präsident Garcia angehörten.
Schwester Okazaki und Elder Lim unterwiesen Maridan und die Mitglieder des Pfahles Iloilo den ganzen Tag lang. In ihrer ersten Unterrichtseinheit betonte Schwester Okazaki anhand von Lehre und Bündnisse 107, wie wichtig es sei, seine Aufgaben in der Kirche kennenzulernen und ihnen nachzukommen. Später am Abend sprach sie vor dem gesamten Pfahl darüber, wie man sich um Segnungen vom Vater im Himmel bemüht.
„Meine lieben Schwestern und Brüder“, hob sie an, „wir können um unsere Herzenswünsche beten. Wir können im Glauben und mit Zuversicht bitten. Wir wissen, dass uns ein liebevoller Vater zuhört. Was wir erbitten, gibt er uns bereitwillig, wenn er es für richtig hält.“
Tags darauf war Sonntag, und Schwester Okazaki besuchte die Versammlungen der Gemeinde Iloilo City. Sie sprach bei dieser Gelegenheit auch mit Maridan und legte ihr ans Herz, sich mit den Schwestern in der Frauenhilfsvereinigung in deren Muttersprache zu beraten, sodass alle dem Gesagten folgen konnten. Vor ihrer Abreise am Nachmittag gab Schwester Okazaki Maridan ein Buch zum Thema Menschenführung.
Einige Monate darauf hatten Maridan und die übrigen philippinischen Heiligen die Gelegenheit, einem weiteren Führer der Kirche zu begegnen – Präsident Gordon B. Hinckley. Seit seinem Amtsantritt als Präsident der Kirche hatte er die ganze Welt bereist und sich mit Mitgliedern ausgetauscht. In den Philippinen besuchte er die Städte Manila und Cebu City.
Zudem stellte er sich bei seinem Aufenthalt in Manila den Fragen lokaler Fernsehsender über die Kirche. Eine der Fragen bezog sich auf die Veröffentlichung „Die Familie – eine Proklamation an die Welt“, die von der Ersten Präsidentschaft und dem Kollegium der Zwölf Apostel kurz zuvor herausgegeben worden war. Die Führer der Kirche waren bereits seit vielen Jahren beunruhigt, dass sich die traditionelle Auffassung von Ehe und Familie überall in der Welt veränderte. Die Proklamation bekräftigte, dass die Ehe zwischen Mann und Frau von Gott verordnet sei und dass in seinem Erlösungsplan der Familie eine wesentliche Aufgabe zukomme. Weiter wurde darin bestätigt, dass das Leben heilig sei, und erklärt, dass jeder Mensch als Abbild Gottes erschaffen und ein geliebter Sohn oder eine geliebte Tochter himmlischer Eltern sei und dadurch ein göttliches Wesen und eine göttliche Bestimmung habe. In der Proklamation wurden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder zu lieben und in Rechtschaffenheit zu erziehen, einander als gleichwertige Partner zur Seite zu stehen und ein Zuhause zu schaffen, das auf den Prinzipien „Glaube, Gebet, Umkehr, Vergebungsbereitschaft, gegenseitige Achtung, Liebe, Mitgefühl, Arbeit und sinnvolle Freizeitgestaltung“ beruhe.
„Die Familie ist die von Gott verordnete Institution“, erklärte Präsident Hinckley dem Journalisten in den Philippinen. „Gott ist unser ewiger Vater und wir sind seine Kinder, unabhängig von ethnischer Herkunft, Hautfarbe oder was auch immer. Wir alle sind seine Kinder. Wir gehören zu seiner Familie.“
Als er später in einer großen Sporthalle vor 35.000 Heiligen sprach, merkte er an, er werde manchmal gefragt, weshalb die Kirche denn in den Philippinen so rasant wachse.
„Die Antwort ist ganz einfach“, stellte er fest. „Diese Kirche ist wie ein Anker – ein fester Anker der Wahrheit in einer Welt sich verändernder Werte.
Jeder – ob Mann oder Frau –, der sich dieser Kirche anschließt und an ihren Lehren festhält“, fuhr er fort, „lebt dann ein besseres Leben, ist glücklicherer und trägt im Herzen tiefe Liebe zum Herrn und zu seinen Wegen.“
Eines Abends im März 1996 stand Veronica Contreras mit ihrem Mann Felicindo vor dem Gebäude ihrer künftigen Gemeinde in Santiago in Chile. Sie waren gerade erst von Panguipulli, einer Kleinstadt im Süden Chiles, in die Hauptstadt gezogen in der Hoffnung, hier ein besseres Bildungsangebot für ihre fünf Kinder vorzufinden. Außerdem würden sie nun näher am Santiago-Tempel sein und einem Pfahl angehören, in dem es Seminarklassen gab und Aktivitäten für Jugendliche angeboten wurden. Obwohl es nicht Sonntag war, dachte das Ehepaar, es könne vielleicht beim Gemeindehaus andere Mitglieder antreffen. Als Veronica und Felicindo ankamen, waren die Türen jedoch verschlossen. Es war niemand da.
Ein paar Tage später hielt das Ehepaar zwei Missionare an, die auf Fahrrädern unterwegs waren, und bat sie, dem Bischof ihre Kontaktdaten zu geben. Bald darauf kam der Bischof bei Familie Contreras vorbei und hieß sie in der Gemeinde willkommen. Sein Besuch bereitete sie allerdings nicht auf das vor, was sie an ihrem ersten Sonntag in der Kirche erwartete.
In Panguipulli hatten die Heiligen ihr Gemeindehaus behandelt, als sei es das eigene Zuhause – sie hatten es immer sauber und gut instand gehalten. Doch als Veronica das Gemeindehaus in Santiago betrat, stellte sie überrascht fest, dass Böden und Wände mit Schuhabdrücken und Reifenspuren übersät waren, die von Kindern herrührten, die mit ihren Fahrrädern die Flure unsicher machten. Zwar hatte die Gemeinde offiziell über siebenhundert Mitglieder, bei der Abendmahlsversammlung herrschte jedoch gähnende Leere.
Leider waren die Probleme, die Familie Contreras in ihrer neuen Gemeinde vorfand, nicht auf Chile beschränkt. In den 1980er Jahren und Anfang der 1990er Jahre hatte die Zahl der Bekehrtentaufen in ganz Südamerika stark zugenommen, was die Gründung von etlichen Pfählen nach sich zog. Doch viele der neuen Mitglieder weltweit taten sich schwer damit, auch nach ihrer Taufe weiterhin am wiederhergestellten Evangelium festzuhalten.
Schon seit Jahren machten sich die Führer der Kirche Gedanken darüber, wie Neubekehrte bei der Stange gehalten werden konnten, und hatten sich dazu verschiedene Lösungsansätze überlegt. Im Jahr 1986 wurden die örtlichen Siebzigerkollegien aufgelöst und auf dieser Ebene wurde niemand mehr zum Amt eines Siebzigers berufen. Diese Maßnahme stärkte die Ältestenkollegien in den Einheiten. Außerdem wurden die Missionare dazu angehalten, sich mehr Zeit für die Eingliederung neuer Mitglieder zu nehmen, und die Kirche hatte sechs Lektionen entwickelt, die Neubekehrten helfen sollten, besser in ihr neues Leben hineinzufinden. Doch diese Lektionen wurden nur mit wenigen aus der Zielgruppe durchgenommen. Gemeinden wie die in Santiago waren mit dem ungeheuren Berg an Arbeit oft schlichtweg überfordert. Es gab einfach viel zu wenige, die zu den Versammlungen kamen, wenn man die Gesamtzahl der Mitglieder in der Gemeinde in Betracht zog.
Der neue Bischof von Familie Contreras war zwar tüchtig und treu, hatte aber keine Ratgeber, die ihm etwas abnehmen konnten. Außerdem musste er immer lange arbeiten und konnte daher wochentags nur selten mit den Mitgliedern zusammenkommen. Als Veronica und Felicindo mit dem Bischof sprachen, boten sie ihm an, zu dienen und mithelfen, wo auch immer sie gebraucht wurden. Bald schon spielte ihre älteste Tochter in der Gemeinde die Orgel, und ihre Söhne engagierten sich zusammen mit weiteren Jungen Männern. Felicindo half bei der familiengeschichtlichen Forschung und der Tempelarbeit mit und war im Hoherat des Pfahls tätig. Veronica wurde unterdessen als neue FHV-Präsidentin der Gemeinde berufen.
Andere standen nicht zurück und boten ebenfalls ihre Hilfe an. Doch es blieb immer noch genügend zu tun, damit die Gemeinde ihre Aufgaben erfüllen konnte.
Als im Oktober 1992 der Hongkong-Tempel angekündigt wurde, war Nora Koot Jue überglücklich. Mehr als dreißig Jahre waren vergangen, seit sie in der Fernost-Mission Süd auf Mission gewesen war. Inzwischen war sie in die Vereinigten Staaten ausgewandert, hatte Raymond Jue – einen chinesischstämmigen Amerikaner – geheiratet und vier Kinder großgezogen. Aber ihre Erfahrungen als eine der ersten chinesischen Bekehrten in Hongkong hatten sie geprägt. Sie bildeten die Grundlage für die Geschichten, die sie ihren Kindern vor dem Schlafengehen erzählt hatte.
Raymond war der Meinung, die ganze Familie solle zur Weihung des Tempels fahren.
„Nein“, sagte Nora. „Das kostet eine Menge Geld.“
Doch Raymond ließ nicht locker. „Wir müssen da hin“, beharrte er.
Also begann die Familie, Geld zu sparen. Die Kinder waren erwachsen und wussten, wie wichtig ihrer Mutter das Haus des Herrn war. Als sie 1963 in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, hatte sie zunächst auf Hawaii Station gemacht, um im Laie-Tempel ihr Endowment zu erhalten. Später wurden Raymond und sie im Los-Angeles-Tempel gesiegelt. Kurz darauf wurde dann der Oakland-Kalifornien-Tempel in der Nähe ihres Zuhauses in der Bay Area von San Francisco geweiht. Nora und Raymond waren dort schließlich Tempelarbeiter geworden, was Nora die Möglichkeit gab, die heiligen Handlungen in Mandarin, Kantonesisch, Hmong und weiteren Sprachen zu verrichten.
Nach Fertigstellung des Hongkong-Tempels im Mai 1996 veranstaltete die Kirche zwei Wochen lang Tage der offenen Tür. Nora und ihre Familie kamen am Abend des 23. Mai in der Stadt an, drei Tage vor der Weihung des Tempels. Schon beim Verlassen des Flughafens spürte Nora, wie die warme, feuchte Luft sie umwehte.
„Willkommen in Hongkong“, sagte sie lächelnd zu ihrer Familie.
In den darauffolgenden Tagen unternahm Nora mit ihrer Familie eine Tour durch die Stadt. Ihre älteste Tochter Lorine war in Hongkong auf Mission gewesen, und es machte ihnen Freude, die Gegend nun gemeinsam zu erkunden. Als Nora ihren Kindern die Straßen und Gebäude zeigte, die Teil ihrer Kindheit gewesen waren, wurden die Geschichten lebendig, die sie ihnen erzählt hatte. Einer der ersten Orte, die sie zusammen besuchten, war der Tempel, der an der Stelle des alten Missionsheims errichtet worden war, in dem sie als junge Frau so viel Zeit verbracht hatte. Nora war überglücklich, dass der Ort einem so heiligen Zweck zugeführt worden war.
Am Sonntag, dem 26. Mai, nahm die Familie am Vormittag an einer besonderen Abendmahlsversammlung mit Noras einstigem Missionspräsidenten Grant Heaton und weiteren ehemaligen Missionaren der Fernost-Mission Süd teil. Im Gottesdienst gaben Präsident Heaton und die Missionare Zeugnis. Als Nora an der Reihe war, stand sie auf. „Der Geist brennt in mir“, bezeugte sie. „Ich bin aus diesem Land und aus dieser Mission hervorgegangen. Dafür bin ich dankbar.“
Am nächsten Morgen saßen Nora und ihre Familie gemeinsam im celestialen Saal des Hongkong-Tempels. Nora strahlte. Als Präsident Thomas S. Monson die Versammlung eröffnete und Elder Neal A. Maxwell vom Kollegium der Zwölf Apostel zu den Anwesenden sprach, lächelte sie. Sie hatte das Gefühl, als hätte sich der Kreis ihres Lebens geschlossen. Zweiundvierzig Jahre zuvor hatte sie Elder Harold B. Lee angefleht, die Kirche nach Hongkong zurückzubringen. Damals hatte es in der Stadt nur eine Handvoll Mitglieder gegeben. Jetzt gab es in Hongkong ein Haus des Herrn – und sie war mit ihrem Mann und ihren Kindern da.
Am Ende der Versammlung verlas Präsident Thomas S. Monson das Weihungsgebet. „Deine Kirche ist gewachsen und hat sich für viele deiner Söhne und Töchter an diesem Ort als Segen erwiesen“, hob er an. „Wir danken dir für alle, die das Evangelium angenommen haben und die den mit dir geschlossenen Bündnissen treu geblieben sind. Mit der Weihung dieses heiligen Tempels erreicht deine Kirche in diesem Gebiet nun ihre volle Reife.“
Nora liefen die Tränen über das Gesicht, als alle das Lied „Der Geist aus den Höhen“ anstimmten. Nach dem Schlussgebet umarmte sie ihren Mann und ihre Kinder. Ihr Herz war voll Freude.
Am selben Abend nahm Noras Familie an einem Treffen ehemaliger Missionare teil. Die Jues kamen mit etwas Verspätung an. Alle übrigen standen schon plaudernd in einem Raum zusammen. Die Menge verstummte, als Nora eintrat, und ihre Familie staunte, wie einer nach dem anderen sie begrüßte und ihr mit Ehrerbietung und Respekt begegnete.
Während Nora mit alten Freunden sprach, tippte ihr ein alter Mann auf die Schulter. „Erinnern Sie sich noch an mich?“, fragte er.
Nora musterte ihn, und man sah ihr an, dass es ihr sogleich dämmerte. Es war Harold Smith, einer der ersten Missionare, denen sie als junges Mädchen begegnet war. Sie stellte ihn ihren Kindern vor.
„Ich dachte nicht, dass ich etwas bewirkt hätte“, erzählte er ihr. Er konnte es nicht fassen, dass sie sich an ihn erinnerte.
„Einen Retter vergisst man nicht“, meinte Nora.
Im Mai 1997 kam es nach langen Jahren des Kriegs und der politischen Unruhen zum Sturz der Regierung von Zaire. Präsident Mobutu Sese Seko, der über drei Jahrzehnte lang über das Land geherrscht hatte, lag im Sterben und verfügte nicht mehr über die Macht, den Untergang seines Regimes aufzuhalten. Bewaffnete Kräfte aus Ruanda, dem östlichen Nachbarland, waren auf der Suche nach Rebellen aus dem Bürgerkrieg ihres eigenen Landes in Zaire eingedrungen. Weitere ostafrikanische Staaten folgten bald und schlossen sich schließlich mit weiteren Gruppen zusammen, um den geschwächten Präsidenten zu stürzen und durch ein neues Staatsoberhaupt zu ersetzen. Das Land erhielt den Namen Demokratische Republik Kongo, kurz DR Kongo.
Trotz des tobenden Konflikts war die Kirche in der Region weiterhin für die Heiligen da. In der DR Kongo lebten etwa sechstausend Mitglieder der Kirche. Die Mission Kinshasa umfasste fünf Länder mit insgesamt siebzehn Vollzeitmissionaren. Im Juli 1996 hatten mehrere Ehepaare aus der Region an die 2800 Kilometer zurückgelegt und waren zum Johannesburg-Tempel in Südafrika gereist, um die Segnungen des Tempels für sich zu empfangen. Einige Monate darauf, am 3. November, gründeten die Führer der Kirche den Pfahl Kinshasa, den ersten Pfahl in der DR Kongo und den ersten französischsprachigen Pfahl in Afrika. Außerdem gab es im Missionsgebiet noch fünf Distrikte und sechsundzwanzig Zweige.
In Luputa hoffte Willy Binene, inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt, immer noch darauf, trotz der politischen Unruhen in seinem Land eine Vollzeitmission antreten zu können. Doch als er Ntambwe Kabwika, einem Ratgeber in der Missionspräsidentschaft, von seinen Hoffnungen erzählte, erhielt er eine enttäuschende Nachricht.
„Mein Bruder“, sagte Präsident Kabwika zu ihm, „die Altersgrenze liegt bei fünfundzwanzig Jahren. Es gibt keine Möglichkeit, dich auf Mission zu berufen.“ Dann fügte er, um ihn zu trösten, hinzu: „Du bist noch jung. Du kannst studieren, und heiraten kannst du auch.“
Das machte es für Willy jedoch nicht besser. Enttäuschung machte sich in ihm breit. Es schien ihm ungerecht, dass ihn sein Alter daran hindern sollte, auf Mission zu gehen. Warum konnte man nicht eine Ausnahme machen, insbesondere angesichts all dessen, was er durchgemacht hatte? Er fragte sich, warum der Herr ihn überhaupt dazu inspiriert hatte, auf Mission zu gehen. Er hatte seine Ausbildung und seine Karriere aufgeschoben, um dieser Eingebung zu folgen – und wozu das alles?
„Das darf dich nicht aus der Fassung bringen“, sagte er sich schließlich. „Du darfst Gott keinesfalls aburteilen.“ Er beschloss also, dort zu bleiben, wo er war, und alles zu tun, was der Herr von ihm erwartete.
Im Juli 1997 wurde aus der Gruppe Mitglieder in Luputa offiziell ein Zweig. Willy wurde als Finanzsekretär und als Zweigmissionar berufen und erkannte schließlich, dass der Herr ihn darauf vorbereitet hatte, an seinem Wohnort die Kirche aufzubauen. „Nun denn“, sagte er, „meine Mission ist also hier.“
Ein paar andere Mitglieder des Zweiges Luputa wurden ebenfalls als Zweigmissionare berufen. Drei Tage pro Woche kümmerte sich Willy um seine Landwirtschaft. An den anderen Tagen ging er von Tür zu Tür und erzählte den Menschen vom Evangelium. Danach wusch Willy seine einzige Hose, damit sie am nächsten Tag wieder sauber war. Er war sich nicht ganz sicher, was ihn dazu trieb, das Evangelium so eifrig zu verkünden – vor allem auch, da er mitunter mit leerem Magen losziehen musste. Aber ihm war klar, dass er das Evangelium liebte, und er wünschte sich, dass sein Volk – und eines Tages auch seine Vorfahren – die Segnungen erhalten sollte, die er genoss.
Die Arbeit ging bisweilen allerdings nicht ohne Probleme voran. Einige Leute bedrohten die Zweigmissionare sogar oder überredeten andere, sie zu meiden. Ein paar Dorfbewohner rotteten sich einmal zusammen und wollten Bücher Mormon verbrennen. „Weg mit dem Buch Mormon“, riefen sie, „und die Kirche wird verschwinden!“
Trotz allem sah Willy, wie der Herr durch seine Bemühungen Wunder wirkte. Als sein Mitarbeiter und er einmal an eine Tür klopften, öffnete sich diese, und aus dem Haus schlug ihnen ein übler Geruch entgegen. Von drinnen hörten sie eine leise Stimme, die ihnen etwas zurief. „Treten Sie ein“, flüsterte jemand. „Ich bin krank.“
Willy und sein Mitarbeiter trauten sich eigentlich kaum, das Haus zu betreten. Sie taten es dennoch und fanden einen Mann vor, der dahinzusiechen schien. „Können wir beten?“, fragten sie.
Der Mann stimmte zu, und so sprachen sie ein Gebet und segneten ihn, dass seine Krankheit verschwinden möge. „Morgen kommen wir wieder“, versprachen sie ihm.
Am nächsten Tag trafen sie den Mann vor seinem Haus an. „Sie sind Männer Gottes“, stellte er fest. Seit ihrem Gebet ging es ihm besser. Er wollte vor Freude springen.
Dieser Mann war noch nicht bereit, sich der Kirche anzuschließen – andere hingegen schon. Willy und die anderen Missionare fanden jede Woche Menschen – zuweilen ganze Familien –, die zusammen mit den Heiligen Gott verehren wollten. An manchen Samstagen tauften sie bis zu dreißig Neubekehrte.
Die Kirche begann in Luputa zu wachsen.
Am 5. Juni 1997 stand Präsident Gordon B. Hinckley in Colonia Juárez in Mexiko unter einem großen Baldachin am Rednerpult. Rund sechstausend Zuhörer saßen vor ihm. „Manche Leute in der Kirche bemitleiden Sie“, scherzte er mit dem Publikum. „Sie scheinen ja so weit weg von allen anderen zu sein.“
Mitglieder aus den Vereinigten Staaten hatten sich in Colonia Juárez und weiteren Städten im Norden Mexikos niedergelassen, als die US-Regierung in den 1880er Jahren gegen die Mehrehe vorgegangen war. Diese Städte befanden sich in der wasserarmen Chihuahua-Wüste rund dreihundert Kilometer von jeder größeren Stadt entfernt. Die von der Kirche geführte Schule von Juárez feierte ihr hundertjähriges Bestehen, und Präsident Hinckley war gekommen, um an den Festlichkeiten teilzunehmen.
Präsident Hinckley kannte die Geschichte der Heiligen von Colonia Juárez und bewunderte ihre Entschlossenheit, am Glauben festzuhalten. „Sie haben einander in Zeiten der Not und Bedrängnis beigestanden. Das mussten Sie ja tun, weil Sie alleine waren“, führte er aus. „Sie sind dadurch eine große Familie geworden.“
Am darauffolgenden Tag sprach Präsident Hinckley bei der Schulabschlussfeier und weihte das frisch renovierte Gebäude erneut. Meredith Romney, Präsident des Pfahles Colonia Juárez, brachte ihn danach zum rund dreihundert Kilometer nördlich gelegenen Flughafen von El Paso in Texas.
Die Straße nach El Paso war uneben und voller Schlaglöcher. Zunächst vertrieb sich Präsident Hinckley die Zeit im Gespräch mit Präsident Romney. Doch nach einer Weile schlief die Unterhaltung ein. Präsident Hinckley dachte im Stillen an die Heiligen in Colonia Juárez und an die große Entfernung, die sie zurücklegen mussten, um das Haus des Herrn zu besuchen. „Was können wir tun, um diesen Menschen zu helfen?“, fragte er sich.
Und diese Frage galt für die Heiligen in aller Welt. Mit über einem Dutzend Tempeln, die geplant oder im Bau waren, würden 85 Prozent der Mitglieder bald in einem Umkreis von fünfhundert Kilometern um einen Tempel wohnen. Im Norden Brasiliens zum Beispiel wäre für viele Mitglieder, die früher zum Tempel in São Paulo tausende von Kilometern hatten zurücklegen müssen, der neue Tempel in Recife – einer Stadt an der Nordostküste Brasiliens – viel näher. Und durch den neu angekündigten Tempel in Campinas, einer Stadt etwa hundert Kilometer nördlich von São Paulo, würden die etwa sechshunderttausend brasilianischen Mitglieder wieder ein wenig leichter Zugang zu den Segnungen des Tempels haben. Bald würden wohl auch in Städten wie Porto Alegre, Manaus, Curitiba, Brasília, Belo Horizonte und Rio de Janeiro Tempel benötigt.
Doch Präsident Hinckley wollte den Tempel noch näher an die Heiligen heranbringen. Er glaubte, dass das Haus des Herrn eine wichtige Rolle dabei spielte, den Mitgliedern zu helfen, am wiederhergestellten Evangelium Christi festzuhalten. Kürzlich hatte der Prophet erfahren, dass nach einem Jahr nur 20 Prozent der Neubekehrten noch zur Kirche gingen und sich dort einbrachten. Dieser erschreckend geringe Prozentsatz beunruhigte ihn und seine Ratgeber, weshalb sie im Mai einen Brief an alle Mitglieder schickten.
„Wir sind zutiefst besorgt über viele unserer Brüder und Schwestern jedes Alters, die zwar ein Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi erhalten haben, aber nicht erlebt haben, welch warmes Gemeinschaftsgefühl entsteht, wenn die Mitglieder einander unterstützen“, hieß es in dem Schreiben. „Zu viele kommen nicht in den Genuss der Segnungen des Priestertums oder der mit den Tempelbündnissen verbundenen Verheißungen.“
In dem Schreiben stand weiter: „Jedes neue Mitglied braucht dreierlei: einen Freund, eine Aufgabe und geistige Nahrung durch das Evangeliumsstudium.“
In Colonia Juárez, so stellte Präsident Hinckley fest, hatte die Kirche fast alles, was sie brauchte, um für die dort lebenden Mitglieder diese Art von Unterstützung zu leisten. Das Einzige, was fehlte, war ein Haus des Herrn. Das Gleiche galt für Pfähle an sonstigen entlegenen Orten der Welt. Aber einen Tempel an einem Ort zu errichten, wo es nicht genügend Mitglieder gab, die ihn nutzen und instand halten konnten, war nicht leicht zu rechtfertigen.
Er dachte an die hohen Kosten für die Wäscherei und eine Cafeteria im Tempel. Solche Einrichtungen boten zwar einen bequemen Service für die Tempelbesucher – was aber, wenn die Besucher ihre eigene Tempelkleidung mitbrachten und anderswohin essen gingen?
Präsident Hinckley überlegte schon seit Jahren, wie sich der Grundriss mancher Tempel so umgestalten ließe, dass in aller Welt mehr Tempel errichtet werden könnten. Die Kirche hatte bereits an Orten wie Laie, São Paulo, Freiberg und Hongkong den Tempel an die Bedürfnisse der dort lebenden Heiligen angepasst. Warum nicht einen Tempel bauen, der bloß das Wesentlichste enthielt – ein Taufbecken und Räume für Konfirmierungen, Vorverordnungen, Endowments und Siegelungen? Falls sich die Kirche darauf beschränkte, könnten nah und fern solche Tempel errichtet werden, wodurch die heiligen Bündnisse und Verordnungen näher zu den Heiligen gebracht würden.
Später skizzierte Präsident Hinckley einen einfachen Grundriss für die Art von Tempel, die er sich vorstellte. Die Eingebung kam ihm klar und deutlich in den Sinn. Als er in Salt Lake City ankam, zeigte er Präsident Monson und Präsident Faust seinen Entwurf, und sie billigten das Konzept. Auch das Kollegium der Zwölf Apostel sprach sich für diese Idee aus.
Schließlich zeigte Präsident Hinckley seine Skizze einem Architekten der Kirche. Der Architekt betrachtete die Zeichnung eingehend.
„Wunderbar!“, rief er aus. „Das ist ein sehr gut umsetzbarer Entwurf.“