Geschichte der Kirche
35 Eine Zeit der Prüfung


„Eine Zeit der Prüfung“, Kapitel 35 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 35: „Eine Zeit der Prüfung“

Kapitel 35

Eine Zeit der Prüfung

Mann mit dem Abzeichen eines US-Marshals

Eine große Menge hatte sich am Bahnsteig versammelt, als George Q. Cannon am 17. Februar 1886 mit seinen Häschern in Salt Lake City eintraf. Marshal Ireland eskortierte George vom Zug zu einer Amtsstube am Ort, wo eine weitere Menge darauf wartete, dem arg lädierten Gefangenen ihr Mitgefühl zu bekunden. In der Stube gab der Marshal George eine Matratze und ließ ihn ein wenig ausruhen, während man auf seinen Rechtsanwalt und weitere Besucher wartete.1

Der Prozess war für den 17. März angesetzt worden, doch ein Richter ließ George vorläufig gegen 45.000 Dollar Kaution frei. Unterdessen hatte ein großes Geschworenengericht damit begonnen, die Frauen und Kinder von George zu verhören, um Beweise zu finden, dass er gegen das Edmunds-Gesetz verstoßen hatte.

„Diese Männer sind für jedes menschliche Mitgefühl unempfänglich“, erklärte George, als er von den scharfen Verhören erfuhr. „Sie sind so gnadenlos wie der verkommenste und verruchteste Pirat.“2

Nach seiner Freilassung traf sich George heimlich mit Präsident Taylor. George war darauf gefasst, dass er ins Gefängnis musste, hatte aber dafür gebetet, dass der Prophet den Willen des Herrn in dieser Sache erkennen würde. Bei ihrem Treffen schilderte George seine missliche Lage, und Präsident Taylor war ebenfalls der Ansicht, dass er sich dem Gesetz fügen müsse. Sollte George nicht vor Gericht erscheinen, würde die Kaution von 45.000 Dollar, die seine Freunde so großzügig für ihn aufgeboten hatten, verfallen.

Am Abend jedoch wurde Präsident Taylor vom Herrn offenbart, dass sein Erster Ratgeber sich wieder versteckt halten solle. Die Offenbarung überkam ihn wie ein Blitz, und danach kniete sich der Prophet sofort in dankbarem Gebet an seinem Bett nieder. Einige Jahre zuvor hatte der Herr ihn inspiriert, Geld der Kirche, das nicht aus dem Zehnten stammte, in ein Bergbauunternehmen zu investieren, um eine Sonderreserve für die Kirche anzulegen. Präsident Taylor fand, diese Reserve solle nun aufgelöst werden, um die Männer zu entschädigen, die die Kaution für George aufgebracht hatten.3

George spürte, dass diese Offenbarung eine Antwort auf seine Gebete war. Zusammen mit Präsident Taylor trug er sie den vier am Ort anwesenden Aposteln vor, und sie stimmten zu, dass man diesen Plan ausführen solle.

George hatte sich schon gefragt, ob es wohl recht wäre, sich wieder zu verstecken, wo doch andere für ihre Überzeugung ins Gefängnis gegangen waren. Er wollte nicht, dass man ihn in oder außerhalb der Kirche für einen Feigling hielt. Doch nun wusste er, was der Wille des Herrn war, und er beschloss, darauf zu vertrauen.

„Wenn Gott bestimmt, welchen Kurs ich einschlagen soll“, schrieb er in sein Tagebuch, „dann möchte ich ihn auch einschlagen und überlasse die Ergebnisse ihm.“4


Etwa um die Zeit, als George Q. Cannon sich wieder ein Versteck suchte, war Emmeline Wells abermals im Auftrag der Kirche nach Washington unterwegs. Sieben Jahre waren vergangen, seit sie Präsident Rutherford Hayes und seiner Frau Lucy begegnet war. Seither hatte der Widerstand gegen die Kirche nur weiter zugenommen, und gerade jetzt war der Kongress im Begriff, das Edmunds-Gesetz gegen eine noch strengere Vorlage auszutauschen, das sogenannte Edmunds-Tucker-Gesetz.5

Nach dieser Gesetzesvorlage sollten unter anderem die Frauen in Utah um ihr Stimmrecht gebracht werden. Emmeline fühlte sich verpflichtet, sich dagegen zu wehren.6 Sie hoffte, ein paar vernünftige Leute – vor allem ihre Verbündeten im Kampf um die Frauenrechte – von der Ungerechtigkeit dieses Gesetzes überzeugen zu können.

In Washington sprach Emmeline mit Abgeordneten und Aktivistinnen, die ihrem Anliegen wohlwollend gegenüberstanden. Einige waren empört, dass die Frauen in Utah ihr Stimmrecht verlieren könnten. Andere waren mit dem Teil des Gesetzes nicht einverstanden, wonach der Staat das Privatvermögen der Heiligen einziehen konnte. Der Widerstand gegen die Mehrehe jedoch dämpfte die Begeisterung selbst derjenigen, die Emmeline zu ihren Freunden zählte.7

Nach mehreren Wochen in Washington nahm sie einen Zug, der nach Westen fuhr. Sie war sich sicher, dass sie für die Heiligen alles nur Mögliche getan hatte. Auf der Fahrt erfuhr sie, dass sich unlängst zweitausend Frauen im Salt-Lake-Theater versammelt hatten, um dagegen zu protestieren, wie die Regierung Familien behandelte, die in Mehrehe lebten. Bei dieser Versammlung hatte Mary Isabella Horne die Frauen aufgerufen, gegen die Ungerechtigkeit das Wort zu ergreifen. „Müssen wir Frauen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage denn immer noch Beleidigungen und Beeinträchtigungen hinnehmen, ohne unsere Stimme dagegen zu erheben?“, fragte sie.8

Emmeline war ganz hingerissen davon, wie fest ihre Schwestern im Evangelium waren, und sie freute sich auf das Wiedersehen. Auf ihrem Heimweg erhielt sie dann jedoch ein Telegramm von Präsident Taylor mit der Bitte, nach Washington zurückzukehren. Ein Ausschuss von Frauen aus der Kirche hatte Resolutionen verfasst, in denen die Führer der Nation aufgerufen wurden, ihren Feldzug gegen die Heiligen einzustellen. Außerdem wurde in diesen Resolutionen an die Frauen und Mütter in den gesamten Vereinigten Staaten appelliert, den Frauen in Utah zur Hilfe zu eilen. Der Prophet wollte, dass Emmeline die Resolutionen Grover Cleveland vorlegte, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Ellen Ferguson, eine der Kirche angehörende Ärztin und Chirurgin aus Salt Lake City, sollte sie begleiten.9

Innerhalb weniger Tage war Emmeline wieder in Washington. Zusammen mit Ellen besuchte sie Präsident Cleveland in der Bibliothek des Weißen Hauses. Er wirkte zwar nicht so ehrfurchtgebietend, wie sie gedacht hatten, aber ihnen war schon klar, dass es schwierig werden würde, ihn für ihre Sache zu gewinnen. Ein Jahr zuvor hatte er einer Delegation von Heiligen aus Utah gegenüber erklärt: „Ich wünschte, Sie da draußen in der Ferne könnten so sein wie alle anderen.“10

Der Präsident hörte Emmeline und Ellen aufmerksam zu und versprach, über ihre Resolutionen ernsthaft nachzudenken. Er schien ihrem Anliegen zwar durchaus gewogen zu sein, aber dann doch nicht so sehr, dass er gewagt hätte, sich mit Abgeordneten anzulegen, die gegen die Mehrehe waren.

„Alles, was sich hier erreichen lässt, wenn man die Fakten vorlegt und Vorurteile abzubauen sucht, ist wie ein Tropfen auf dem heißen Stein, was die öffentliche Meinung anbelangt“, schrieb Emmeline wenig später im Woman’s Exponent. „Man darf aber nicht müde werden, das Gute zu tun, auch wenn es wenig Gelegenheiten dazu gibt und die Vorurteile tief sitzen.“11


Unterdessen hatten im Sanpete Valley in Utah Marshals damit begonnen, in Ephraim, Manti und den Nachbarorten Heilige zu verhaften, die in Mehrehe lebten.12 Als Leiterin der Primarvereinigung der Gemeinde Ephraim Süd gab Augusta Dorius Stevens den Kindern Anweisungen, wie sie sich verhalten sollten, wenn die Marshals sie ausfragen wollten.13 Arglose Kinder waren meist wie ein offenes Buch, wenn es um Informationen ging, und so mussten sie lernen, woran man einen Marshal erkennt und wie man Nachforschungen ins Leere laufen lässt.14

Es waren über dreißig Jahre vergangen, seitdem Augusta ihre Familie in Kopenhagen verlassen hatte und nach Utah gekommen war. Damals war sie erst vierzehn gewesen. Ihre Mutter hatte die Kirche gehasst und sich von ihrem Vater scheiden lassen. Hätte jemand Augusta gesagt, dass ihre Familie eines Tages in Zion zusammenfinden würde und dass ihre Eltern von Stellvertretern im Tempel gesiegelt werden würden, hätte sie es wahrscheinlich nicht geglaubt.15

Aber genau das war geschehen, und die Familie Dorius war im Sanpete Valley zu einer ansehnlichen Schar angewachsen. Augustas Vater und die meisten ihrer Geschwister waren schon lange tot, aber ihre Mutter Ane Sophie war mittlerweile in die siebzig und sehr stolz auf ihre Kinder, über deren Mitgliedschaft in der Kirche sie sich einst so aufgeregt hatte. Augustas Brüder Carl und Johan lebten in Mehrehe und hatten riesige Familien, in denen Jahr für Jahr immer mehr Kinder und Enkelkinder hinzukamen. Ihr Stiefbruder Lewis, der Sohn der zweiten Frau ihres Vaters, Hannah, hatte ebenfalls eine große Familie und lebte in Mehrehe. Auch Augustas Stiefschwester Julia, ein Adoptivkind, das ihre Mutter in Dänemark angenommen hatte, war verheiratet und zog in diesem Tal ihre Kinder groß.16

Während die Brüder Dorius wegen der Mehrehe in Gefahr waren, verhaftet zu werden, war Augustas Mann Henry in Sicherheit. Seine erste Frau war 1864 gestorben, sodass er mit Augusta nicht mehr in Mehrehe lebte. Sie hatten acht gemeinsame Kinder, von denen fünf noch lebten.17 Von ihren verheirateten Kindern lebte keines in Mehrehe.18

Da Augusta aber als Krankenschwester und Hebamme arbeitete, konnte sie für die Marshals durchaus von Interesse sein. In dem Bemühen, die ärztliche Versorgung der Heiligen zu verbessern, hatten Brigham Young und Eliza Snow in den 70er Jahren begonnen, die Frauen in der Kirche zu einer medizinischen Ausbildung zu ermuntern. Augusta war seit 1876 Hebamme, nachdem sie in Utah eine Ausbildung abgeschlossen hatte. Andere Frauen besuchten mit Unterstützung der Frauenhilfsvereinigung und der Führer der Kirche Ausbildungsstätten im Osten der Vereinigten Staaten. Einige von ihnen halfen 1882 der Frauenhilfsvereinigung beim Aufbau des Deseret-Krankenhauses in Salt Lake City.19

Nach Ansicht der Marshals waren Kinder ein Beweis dafür, dass jemand wenn auch nicht in Mehrehe, so doch zumindest in einer rechtswidrigen Lebensgemeinschaft lebte, und so konnte eine Hebamme wie Augusta als Zeugin vor Gericht nützlich sein. Augusta jedoch brachte ein Baby nach dem anderen zur Welt und machte Hausbesuche bei ihren Patientinnen. Mit einem schwarzen Ranzen in der Hand und einem fröhlichem Gesicht ging sie von Tür zu Tür.20

In der Primarvereinigung erzählte sie den Kindern oft, was für ein Segen es trotz aller gegenwärtigen Gefahren war, in Zion aufzuwachsen. Die PV-Versammlungen boten den Kindern einen sicheren Ort, wo sie das Evangelium lernen konnten. Augusta brachte ihnen bei, älteren und behinderten Menschen gegenüber nett und freundlich zu sein. Sie hielt sie dazu an, höflich zu sein und ihr Möglichstes dafür zu tun, an den Segnungen des Tempels teilzuhaben.21

Wie andere Führer der Kirche auch, legte sie großen Wert darauf, dass man jede Woche würdig vom Abendmahl nahm, was für die Kinder in der Sonntagsschule stattfand. „Wir dürfen nicht vom Abendmahl nehmen, wenn wir einem Spielkameraden oder irgendjemand anderem gegenüber ein schlechtes Gefühl im Herzen haben“, sagte sie ihnen. „Wir müssen immer beten und den Geist Gottes bei uns haben, denn dann können wir einander liebhaben. Solange wir einen Spielkameraden oder unseren Bruder oder unsere Schwester hassen, können wir Gott nicht liebhaben.“22

Sie ermahnte die PV-Kinder auch, diejenigen nicht zu vergessen, die von den Marshals unter Druck gesetzt wurden. „Es ist eine Zeit der Prüfung“, sagte sie, „und wir müssen daran denken, für unsere Brüder im Gefängnis – und für alle Heiligen – unsere schlichten Gebete zu sprechen.“23


Im Winter erhielt Ida Udall, die sich noch in Utah versteckt hielt, ein Telegramm von ihrem Mann David. Präsident Cleveland hatte ihn von der Strafe wegen Meineids begnadigt, und er kehrte nach Hause zurück.

Ida war einerseits überglücklich, dass er wieder frei war, andererseits aber auch traurig, dass sie ihn nicht in St. Johns wiedersehen konnte. „Ich fühle mich verlassen und bekomme Heimweh, wenn ich daran denke, dass ich an all dem Jubel, der meinen Mann bei seiner Rückkehr erwartet, nicht teilhaben kann“, beklagte sie sich in ihrem Tagebuch.24

Ida blieb also in Nephi und haderte in ihrem Exil oft mit ihrer Einsamkeit und ihrer Enttäuschung.25 Als David im September 1886 einen lang ersehnten Besuch bei ihr verschieben musste, schrieb sie ihm wutentbrannt einen Brief und schickte ihn ab, ehe sie sich eines Besseren besinnen konnte.

„Ich teilte ihm mit, er brauche sich meinetwegen gar nicht erst die Mühe machen, herzukommen“, erklärte sie anschließend in ihrem Tagebuch. „Ich dachte, ich hätte mich lange genug für jemanden zum Narren gemacht, der sich den Teufel um mich schert.“

Wenig später lag sie unter Tränen wach und machte sich bittere Vorwürfe, dass sie den Brief abgeschickt hatte. Dann bekam sie eine Nachricht von ihrer Schwägerin, dass David für ihr Wohl und das von Pauline betete. Der Gedanke, dass David für sie und ihre Tochter betete, ging Ida so zu Herzen, dass sie ihm noch einmal schrieb und sich für das Donnerwetter vom letzten Mal entschuldigte.26

Schon bald erhielt sie einen Brief von David, in dem er ihr versicherte, ihr „treu ergebener Ehemann“ zu sein, und dann noch einen längeren, hoffnungsvollen, dessen Worte von seiner Liebe und seiner Reue zeugten. „Vergib auch mir jede Unfreundlichkeit in Taten, Worten und Gedanken und jede offenkundige Vernachlässigung“, flehte er sie an. „Ich habe ein Zeugnis, dass der Tag der Befreiung nahe ist und dass wir auf Erden noch Freude haben werden.“27

Im Dezember wurde eine Anklage gegen David wegen der Mehrehe abgewiesen, und so wurde es Ida möglich, nach Arizona zurückzukehren.28 Im März 1887 kam er nach Nephi, um Ida und Pauline zurückzuholen – gerade rechtzeitig zum zweiten Geburtstag der Kleinen. Pauline kannte ihren Vater nicht und mochte es gar nicht, wenn er Ida in die Arme nehmen wollte. „Er soll wegbleiben!“, verlangte sie von ihrer Mutter.

Für die Reise nach Arizona ließ die Familie sich drei Wochen Zeit. In den fünf Jahren, die Ida mit ihrem Mann verheiratet war, war sie noch nie so lange mit ihm allein zusammen gewesen.29


Ein Jahr nachdem sie mit ihrem Mann in sein Missionsgebiet gezogen war, hatte sich Susa Gates an ihr neues Zuhause in Hawaii gewöhnt. Jacob sorgte als Zuckersieder dafür, dass die Zuckerrohrernte der Siedlung sich in Produkte verwandelte, die man verkaufen konnte.30 Susa gab ihr Bestes, um mit dem Haushalt zurechtzukommen. Sie war wieder schwanger und neben dem Wäschewaschen und dem Essenkochen damit beschäftigt, Hemden für Jacob anzufertigen sowie karierte Kleider für die sechsjährige Tochter Lucy, Hemden und Hosen für den vierjährigen Jay und den dreijährigen Karl und Kittelchen für den kleinen Joseph. Oft war sie am Ende des Tages müde, aber sie fand immer noch Zeit, für Zeitungen in Utah und Kalifornien Artikel zu schreiben und einzusenden.31

Eines Morgens im Februar 1887 bekam der kleine Jay Fieber und Husten. Anfangs dachten Susa und Jacob, er habe sich erkältet, doch im Laufe der nächsten Woche wurde es immer schlimmer. Sie kümmerten sich um Jay so gut sie konnten und ließen Joseph F. Smith und andere kommen, ihm einen Segen zu geben. Susa war tief beeindruckt, wie viele für ihren Sohn ihren Glauben ausübten. Aber Jay ging es nicht besser.

Am Abend des 22. Februars blieb Susa lange auf und rieb ihm den Bauch mit Öl ein, um seine Schmerzen zu lindern. Er atmete schwer und ruckartig. „Lass mich heute Nacht nicht allein, Mama“, sagte er. „Bleib da.“

Susa versprach es ihm, aber nach Mitternacht überredete Jacob sie dann doch, sich etwas auszuruhen, während er auf ihren Sohn aufpasste. Jay schien fest zu schlafen, und so ging sie zu Bett. Sie wollte auch gar nicht glauben, dass ihr kleiner Junge sterben könnte. Schließlich war er mit seiner Familie auf Mission, sagte sie sich, und auf Mission stirbt man nicht.

Später wachte Jay wieder auf und flüsterte die ganze Nacht hindurch „Mama, Mama“. Am Morgen sah er noch schlechter aus, und die Familie ließ Joseph F. und Julina Smith kommen. Die Smiths blieben den ganzen restlichen Tag bei der Familie Gates. Jay zeigte keine Besserung. Er schlief friedlich ein und starb am frühen Nachmittag kurz vor zwei Uhr.32

Susas Kummer war unbeschreiblich, doch kaum hatte sie mit dem Trauern begonnen, da zeigten sich bei Karl dieselben Krankheitssymptome. Als es ihm schlechter ging, fasteten und beteten die Heiligen aus der ganzen Gegend um Laie, doch nichts half. Die Familie wurde unter Quarantäne gestellt, um eine Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, und Karl starb bald darauf.33

Viele Familien kamen, um Susa und Jacob zu helfen, aber Joseph F. und Julina Smith blieben die ganze Zeit an ihrer Seite. Sie hatten ihre älteste Tochter Josephine verloren, als diese etwa so alt war wie die Jungen, und wussten daher, was ihre Freunde durchmachten. Als die Jungen starben, war Joseph bei ihnen am Bett. Julina wusch sie, fertigte die Totenhemden für sie an und kleidete sie ein letztes Mal ein.34

An den folgenden Tagen weinte Jacob um seine Söhne, Susa aber war zu tief erschüttert. Ihre Sorge war übermächtig, dass auch die anderen Kinder erkranken könnten. Seit Karl gestorben war, hatte sich auch das Baby in ihrem Bauch nicht mehr bewegt. Jay hatte das Kind zwar in einem Traum gesehen, bevor er starb, aber Susa war sich nicht sicher, ob es noch am Leben war.

Eines Tages aber spürte sie ein schwaches Zucken – ein winziges Lebenszeichen. „Diese kümmerliche Regung tröstet mich nun doch mit der Hoffnung, dass unter meinem traurigen Herzen noch immer Leben ist“, schrieb sie ihrer Mutter. Sie verstand nicht, warum ihre Söhne sterben mussten, fand aber Kraft in der Erkenntnis, dass Gott über sie wachte.

„Trotz all dem wissen wir doch, dass Gott im Himmel der Herrscher ist“, schrieb sie weiter. „Gott hat mich gesegnet und mir geholfen, meine Last zu tragen. Gepriesen sei sein heiliger Name in Ewigkeit.“35


Anfang 1887 verabschiedete der Kongress das Edmunds-Tucker-Gesetz. Damit erhielten die Gerichte in Utah noch größere Vollmachten, Familien, die in Mehrehe lebten, zu verfolgen und abzustrafen. Die Frauen im Territorium verloren ihr Stimmrecht, und Kinder, die aus einer Mehrehe hervorgingen, verloren ihre Erbansprüche. Wer sein Wahlrecht ausüben, als Schöffe dienen oder für die örtlichen Behörden arbeiten wollte, musste unter Eid der Mehrehe abschwören. Die Kirche und der Ständige Auswanderungsfonds wurden als juristische Personen aufgelöst, und der Staat wurde bevollmächtigt, bestimmte Vermögenswerte der Kirche im Wert von über 50.000 Dollar zu konfiszieren.36

John Taylor, George Q. Cannon und die übrigen Führer der Kirche setzten alles daran, den Marshals immer einen Schritt voraus zu sein. Immer mehr Heilige fanden in kleinen Siedlungen der Kirche im mexikanischen Bundesstaat Chihuahua Zuflucht, so auch in Colonia Díaz und in Colonia Juárez.37 Wieder andere gründeten in Kanada eine Siedlung, die sie Cardston nannten.38 All diese Männer und Frauen waren bereit, hunderte Kilometer weit in abgelegene Ortschaften außerhalb der Vereinigten Staaten zu ziehen, um ihre Familie zu beschützen, Gottes Gebote zu befolgen und ihre heiligen Tempelbündnisse zu halten.

Im Frühjahr verschlechterte sich John Taylors Gesundheitszustand rapide. George machte sich große Sorgen um das Wohlbefinden des Propheten. Die beiden Männer hatten die letzten sechs Monate versteckt im abgeschiedenen Haus einer Familie in Kaysville zugebracht, gut dreißig Kilometer nördlich von Salt Lake City. In letzter Zeit hatte John an Herzschmerzen, Atemnot und Schlaflosigkeit gelitten. Sein Gedächtnis ließ nach und er hatte Konzentrationsstörungen. George drängte ihn, einen Arzt aufzusuchen, aber außer ein paar Kräutertees wollte John nichts zur Behandlung einnehmen.39

Am 24. Mai fühlte er sich nicht wohl genug, seinen Amtsgeschäften in der Kirche nachzugehen, und so überließ er sie George. Als es immer mehr zu erledigen gab, bat er George, sich auch darum zu kümmern. Dann traf eine Nachricht ein, in der um Rat in einer wichtigen politischen Frage gebeten wurde, und John bat wiederum George, nach Salt Lake City zu reisen und sich der Sache anzunehmen.40

George dachte nun oft an Joseph F. Smith, der noch immer im Exil in Hawaii weilte. Im vergangenen Herbst hatte er ihm geschrieben, vor welchen Schwierigkeiten er und John standen. „Ich kann dir nicht sagen, wie oft ich mir gewünscht habe, du wärest hier“, hatte er ihm anvertraut. „Wenn ich an die Erste Präsidentschaft denke, kommt sie mir vor wie ein Vogel, dem ein Flügel fehlt.“

Nun hatte George ihm gerade mitgeteilt, wie schlecht es um Johns Gesundheit stand. „Sein Wille ist, wie du weißt, unbezwingbar“, stand in seinem Brief. Aber der Prophet war kein junger Mann mehr und seine Körperkräfte ließen nach. George hatte versprochen, dass er Joseph sofort kommen lassen würde, falls es John schlechter ginge.

Dieser Zeitpunkt war nun gekommen. Obwohl George wusste, dass er Joseph in Gefahr brachte, wenn er ihn nach Hause holte, drängte er ihn, nach Utah zurückzukehren.

„Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, ohne es irgendjemandem zu erzählen, denn ich befürchte, die Leute damit aufzuschrecken oder deine Sicherheit zu gefährden“, schrieb er. „Ich kann dir nur sagen: Du kannst nicht vorsichtig genug sein.“41


Am 18. Juli unterzeichnete George vormittags erst einmal Tempelscheine – eine Aufgabe, die normalerweise dem Präsidenten der Kirche vorbehalten war. Mittlerweile verließ John Taylor nur noch selten sein Schlafzimmer. Er hatte kaum noch Kraft zu sprechen. Die gesamte Last der Aufgaben der Ersten Präsidentschaft ruhte nun auf Georges Schultern.42

Später am Nachmittag näherte sich ein Planwagen dem Haus in Kaysville. Als er anhielt, trat eine bekannte Gestalt daraus hervor. Eine Welle der Erleichterung und Freude überströmte George, als er Joseph F. Smith erkannte. Er führte Joseph hinein zum Propheten, doch John saß auf einem Stuhl in seinem Schlafzimmer und war kaum bei Bewusstsein. Joseph ergriff Johns Hand und sprach ihn an. John schien seinen Ratgeber zu erkennen.

„Es ist das erste Mal in zwei Jahren und acht Monaten, dass die Erste Präsidentschaft zusammengekommen ist“, sagte George zu John. „Was meinst du dazu?“

„Ich meine, ich muss dem Herrn danken“, flüsterte John.43

In der nächsten Woche verschlechterte sich sein Zustand. Als George und Joseph eines Abends mit Angelegenheiten der Kirche beschäftigt waren, wurden sie plötzlich in Johns Schlafzimmer gerufen. John lag reglos auf dem Bett; er atmete nur kurz und sehr schwach. Nach ein paar Minuten hörte die Atmung ganz auf. Es geschah so friedlich, dass George an ein Baby beim Einschlafen denken musste.

Und doch war es für ihn, als habe er seinen besten Freund verloren. John war für ihn wie ein Vater gewesen. Sie waren nicht immer einer Meinung gewesen, aber George hielt ihn für einen der edelsten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte. Er musste daran denken, wie die Erste Präsidentschaft gerade erst eine Woche zuvor wieder zusammengekommen war. Schon waren sie wieder getrennt.

Sogleich machten George und Joseph Pläne, wie sie die Apostel verständigen konnten. George hatte bereits Wilford Woodruff, den Präsidenten des Kollegiums der Zwölf, über den nachlassenden Gesundheitszustand des Propheten informiert, und Wilford näherte sich von St. George aus langsam Salt Lake City, immer darauf bedacht, den Marshals aus dem Weg zu gehen. Die meisten übrigen Apostel hielten sich immer noch versteckt.

George wusste, dass er sich in einer heiklen Position befand, solange sie nicht da waren. Seit der Präsident der Kirche gestorben war, konnten er und Joseph nicht länger als Mitglieder der Ersten Präsidentschaft auftreten. Doch die Kirche war nach wie vor ernsthaft in Gefahr und brauchte Führung. Wenn er die Geschäfte der Kirche einfach ohne die Zwölf weiterführte, könnte dies bei den übrigen Aposteln Missfallen auslösen. Aber hatte er eine Wahl? Das Kollegium war in alle Himmelsrichtungen zerstreut, und manches ließ sich einfach nicht verschieben oder ignorieren.

George wusste, dass er und Joseph schnell handeln mussten. Sollte allzu bald bekannt werden, dass John tot war, würden die Marshals möglicherweise erfahren, wo sie sich aufhielten, und sich ihnen an die Fersen heften. Er und Joseph waren nicht mehr sicher.

„Wir müssen unsere Zelte abbrechen“, verkündete er, „und so schnell wie möglich von hier verschwinden.“44