„Das Wort und der Wille des Herrn“, Kapitel 3 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 3: „Das Wort und der Wille des Herrn“
Kapitel 3
Das Wort und der Wille des Herrn
Wilford und Phebe Woodruff erreichten mit ihren Kindern Anfang Juli 1846 den Missouri. Wilford war es nicht gelungen, seine Schwester und seinen Schwager dazu zu bewegen, anstatt James Strang doch lieber den Aposteln zu folgen, und so hatte er kurz nach der Weihung des Tempels mit seinen Eltern und einigen anderen Heiligen Nauvoo verlassen.
Ihre Ankunft im Lager fiel mit dem Aufbruch von William Hendricks und den anderen Rekruten zusammen. Es handelte sich um über fünfhundert Männer, die nun als das sogenannte Mormonenbataillon loszogen. Mit dabei waren auch zwanzig Frauen, die das Bataillon als Wäscherinnen beschäftigte, sowie ein paar Ehefrauen, die ihre Männer auf den Feldzug begleiteten. Ein paar nahmen sogar ihre Kinder mit. Insgesamt kamen über dreißig Frauen mit.1
Wilford hatte das Ansinnen der Regierung, Heilige der Letzten Tage zu rekrutieren, zunächst mit Misstrauen betrachtet. Bald schon änderte er jedoch seine Meinung, insbesondere als Thomas Kane das Lager besuchte. Thomas interessierte sich zwar nur bedingt für das wiederhergestellte Evangelium, hatte jedoch ganz entscheidend dazu beigetragen, dass die Regierung der Kirche half. Es war ihm ein Herzensanliegen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, und er wollte den Heiligen in ihrer Not unbedingt beistehen.
Die Apostel waren von Thomas sogleich beeindruckt. „Die Auskünfte, die wir von ihm erhalten haben, haben uns überzeugt, dass Gott nun begonnen hat, das Herz des Präsidenten und anderer in diesem Land zu berühren“, schrieb Wilford in sein Tagebuch.2
Drei Tage, bevor sich das Bataillon auf den Weg machte, sprach Brigham Young zu den Offizieren. Er trug ihnen auf, sich körperlich rein zu halten, keusch zu bleiben und das heilige Garment zu tragen, sofern sie das Endowment empfangen hatten. Er riet ihnen, sich den Mexikanern gegenüber ehrenhaft zu verhalten und nicht mit ihnen zu streiten. „Behandelt Gefangene mit höchstem Anstand“, sagte er. „Und nehmt, falls irgend möglich, keinem das Leben.“
Er versicherte den Männern, dass sie wohl keinen Kampf würden führen müssen, und forderte sie eindringlich auf, ihre Aufgaben ohne Murren zu erfüllen, täglich zu beten und ihre heiligen Schriften mitzunehmen.3
Nachdem das Bataillon fortgezogen war, widmete sich Brigham der nächsten Phase des Trecks in den Westen. Dank der Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten hatte er die Genehmigung einholen können, westlich des Missouris im Indianergebiet ein Winterlager aufzuschlagen. Nun wollte er die Heiligen dreihundert Kilometer westlich an einem Ort namens Grand Island überwintern lassen und von dort aus einen Vortrupp über die Rocky Mountains schicken.4
Als sich die Apostel miteinander berieten, wies Wilford auf weitere wichtige Angelegenheiten der Kirche hin, um die man sich unverzüglich kümmern musste. Reuben Hedlock, der von Wilford zum neuen Präsidenten der Britischen Mission ernannt worden war, hatte Gelder, die die Heiligen in Großbritannien für die Auswanderung vorgesehen hatten, vergeudet und damit viele Mitglieder vor den Kopf gestoßen. Wilford sah weitere Probleme auf die Mission zukommen und befürchtete, viele Neubekehrte würden verlorengehen. Reuben musste also entlassen und die Mission einer verantwortungsvolleren Führung unterstellt werden.5
Das Kollegium wusste auch, dass es in Nauvoo nach wie vor verarmte Heilige gab, die dem Pöbel und falschen Propheten ausgeliefert waren. Die Apostel mussten mehr für diese Heiligen tun, wie sie es bei der Herbstkonferenz im Tempel versprochen hatten, denn sonst würde ihr Kollegium den feierlichen Bund brechen, den es mit den Heiligen und dem Herrn eingegangen war.6
Das Kollegium fasste daher unverzüglich den Entschluss, drei Apostel aus dem Lager – Parley Pratt, Orson Hyde und John Taylor – nach England zu schicken, damit sie dort die Britische Mission anführten. Dann schickten sie Wagen, Gespanne und Vorräte zurück nach Nauvoo, um die Armen schnell von dort fortzubringen.7
Nachdem das Kollegium Männer und Vorräte nach Osten entsandt hatte, erkannte Brigham, dass es im laufenden Jahr nicht mehr möglich sein würde, weiter in den Westen zu ziehen – insbesondere jetzt, da das Bataillon die Anzahl der körperlich leistungsfähigen Männer im Lager reduziert hatte. Thomas Kane schlug vor, das Winterlager am Missouri aufzuschlagen, und Brigham stimmte ihm schließlich zu.8
Am 9. August 1846 gaben die Apostel bekannt, dass die Heiligen den Winter in einer vorläufigen Siedlung direkt westlich des Flusses verbringen würden. Brigham wollte zwar über die Rocky Mountains ziehen und so schnell wie möglich einen Tempel bauen, aber erst wollte er die Heiligen noch sammeln und sich der Armen annehmen.9
Zu dieser Zeit lief die Brooklyn im Nebel in die Bucht von San Francisco ein. Sechs beschwerliche Monate waren seit der Abfahrt vom New Yorker Hafen vergangen. An Deck konnte Sam Brannan durch die Nebelschwaden hindurch die zerklüftete Küste erkennen. In der Bucht entdeckte er eine verfallene Festung der Mexikaner. Über ihr flatterte im Wind die amerikanische Flagge.10
Sam hatte befürchtet, dass es dazu kommen könnte. Die Flagge war das sichere Zeichen dafür, dass die Vereinigten Staaten das mexikanische San Francisco eingenommen hatten. Er hatte von dem Krieg mit Mexiko gehört, als die Brooklyn auf Hawaii vor Anker lag. Dort hatte der Kapitän eines amerikanischen Kriegsschiffes erklärt, man erwarte von den Heiligen, dass sie der US-Armee helfen würden, Kalifornien von Mexiko zu erobern. Diese Neuigkeiten bestürzten die Heiligen. Sie waren doch nicht in den Westen gezogen, um hier für ein Land zu kämpfen, das sie dermaßen schlecht behandelt hatte!11
Als sich das Schiff der Küste näherte, sah Sam an den Sandstränden Bäume und ein paar umherstreifende Tiere. In der Ferne lag zwischen den Hügeln Yerba Buena, eine alte spanische Stadt.
Die Brooklyn legte im Hafen an, und am Nachmittag verließen die Heiligen das Schiff. Auf den Hügeln vor Yerba Buena schlugen sie ihre Zelte auf oder suchten in den verlassenen Häusern und in einer alten Kaserne Unterschlupf. Mit den Werkstoffen, die sie aus New York mitgebracht hatten, bauten sie Mühlen und eine Druckerei. Ein paar von ihnen fanden Arbeit bei den Siedlern in der Stadt.12
Sam war enttäuscht, dass die kalifornische Küste jetzt zu den Vereinigten Staaten gehörte, andererseits aber auch fest entschlossen, hier das Reich Gottes aufzurichten. Er entsandte ein paar Männer in ein Tal, das ein paar Tagesreisen weiter östlich lag, und sie gründeten dort eine Siedlung namens New Hope. Sie bauten eine Sägemühle und eine Blockhütte, rodeten das Land und säten hektarweise Weizen und weitere Feldfrüchte aus.
Sobald im nächsten Jahr der Schnee in den Bergen geschmolzen war, wollte Sam mit einigen Männern ostwärts ziehen, Brigham finden und die übrigen Heiligen nach Kalifornien führen. Er war angetan von dem gesunden Klima, dem fruchtbaren Boden und dem guten Hafen und fest überzeugt, dass das Volk des Herrn um keinen besseren Sammlungsort bitten konnte.13
Im Sommer schlugen Louisa Pratt und ihre Töchter auf dem Weg durch Iowa bei der Zwischenstation Mount Pisgah ihr Lager auf. Es war ein schöner Ort, aber das Wasser war abgestanden und schmeckte faulig. Bald schon wurde die Siedlung von einer Seuche heimgesucht, und viele Heilige starben. Louisas Familie kam jedoch davon und brach Anfang August bei guter Gesundheit auf. Allerdings fanden sie es schrecklich, so viele Freunde krank zurücklassen zu müssen.
Wenig später machte Louisas Abteilung an einem mückenverseuchten Bach Halt, und sie und andere bekamen recht schnell Fieber. Die Gruppe ruhte sich aus und zog dann weiter zum Missouri, wo eine lange Schlange von Wagen darauf wartete, mit der Fähre überzusetzen. Als Louisa endlich an der Reihe war, schreckte irgendetwas ihr Vieh auf, was auf der Fähre ein großes Durcheinander auslöste und Louisas Zustand verschlimmerte.
Als sie auf der anderen Seite des Flusses war, stieg ihr Fieber noch weiter an und raubte ihr den Schlaf. Gegen Mitternacht wurde die Frau des Fährmannes von Louisas Stöhnen wach. Sie sah sofort, wie elend es ihr ging, und trug Louisas Töchtern schnell auf, sich eine eigene Schlafstelle herzurichten, damit sich ihre Mutter ausruhen konnte. Dann gab sie Louisa warmen Kaffee und etwas zu essen, damit sie wieder zu Kräften kam.14
Am nächsten Tag erreichte die Abteilung die neue Siedlung der Heiligen, Winter Quarters – die größte von diversen Siedlungen, die sie entlang des Missouris errichtet hatten. In Winter Quarters lebten etwa zweitausendfünfhundert Leute. Das Land teilten sie sich mit den Omaha und weiteren Indianerstämmen.15 Die meisten Heiligen wohnten in Hütten aus Baumstämmen oder aus Grassoden, ein paar jedoch auch in Zelten, Wagen oder Erdlöchern.16
Die Frauen von Winter Quarters scharten sich sofort um Louisa und wollten ihr helfen. Sie verabreichten ihr Branntwein und Zucker als Medizin, und zunächst fühlte sie sich auch besser. Dann jedoch wurde das Fieber schlimmer und sie fing heftig zu zittern an. Aus Angst, sie läge im Sterben, flehte sie zum Herrn um Erbarmen.17
Ein paar Frauen, die sich um Louisa kümmerten, salbten sie mit Öl, legten ihr die Hände auf und segneten sie mit der Macht ihres Glaubens. In Nauvoo hatte Joseph Smith der Frauenhilfsvereinigung nämlich erklärt, dass Heilung eine Gabe des Geistes sei, ein Zeichen, das alle, die an Christus glaubten, geschehen lassen konnten.18 Der Segen spendete Louisa Trost und gab ihr die Kraft, die Erkrankung durchzustehen. Kurz darauf stellte sie eine Pflegerin an, die sich um sie kümmerte, bis das Fieber sank.
Auch gab sie einem Mann fünf Dollar, um ihr aus Grassoden und Weidengebüsch eine Hütte zu bauen. Die Tür bestand zwar nur aus einer Decke, aber die Hütte war gut beleuchtet und groß genug, dass sie im Schaukelstuhl am Feuer sitzen und sich erholen konnte.19
In Winter Quarters pflügten und bestellten die Heiligen die Felder, legten an einem Bach in der Nähe ein paar Mühlen an und machten Läden und Werkstätten auf. Ähnlich, wie der Herr es Joseph Smith 1833 für die Stadt Zion offenbart hatte, wurde auch diese Siedlung gitterförmig angelegt. Im Norden des Ortes bauten Brigham, Heber Kimball und Willard Richards ihre Häuser nicht weit von einem kleinen Ratsgebäude, wo das Kollegium der Zwölf Apostel und der neu berufene Hoherat von Winter Quarters zusammenkamen. Nahe der Stadtmitte befand sich ein öffentlicher Platz für Predigten und weitere allgemeine Zusammenkünfte.20
Viele Heilige waren nach dem Treck durch Iowa ziemlich erschöpft, und es zehrte weiter an ihren Kräften, ihre Familie mit Essen, Kleidung und einer Unterkunft zu versorgen.21 Hinzu kamen die Fliegen- und Mückenplagen, die die neue Siedlung vom schlammigen Flussufer her heimsuchten. Malaria und Schüttelfrost quälten die Heiligen tage-, sogar wochenlang.22
Die meisten befolgten in diesen Prüfungen die Gebote. Einige hingegen stahlen, betrogen, kritisierten die Apostel für ihre Führung und wollten ihren Zehnten nicht zahlen. Brigham hatte kaum Verständnis für dieses Verhalten. „Der Mensch wird schrittweise in die Irre geführt“, verkündete er, „bis der Teufel von seiner sterblichen Hülle Besitz ergriffen hat und er nach dem Willen des Teufels in Gefangenschaft geführt wird.“23
Brigham wollte die Rechtschaffenheit unter den Heiligen fördern und ermahnte sie, zusammenzuarbeiten, ihre Bündnisse zu halten und Sünde zu meiden. „Wir können nicht alle von heute auf morgen geheiligt werden“, sagte er. „Wir müssen geprüft werden und mit allerlei Umständen zurechtkommen und bis aufs Äußerste erprobt werden, damit man sieht, ob wir dem Herrn bis ans Ende dienen.“24
Er unterteilte sie in kleine Gemeinden, ernannte Bischöfe und beauftragte den Hoherat, strenge Verhaltensregeln zu wahren. Ein paar Heilige wurden auch in besondere Adoptivfamilien aufgenommen. Zu dieser Zeit ließen sich die Heiligen noch nicht an ihre verstorbenen Eltern siegeln, wenn diese sich zu Lebzeiten nicht der Kirche angeschlossen hatten. Vor dem Auszug aus Nauvoo hatte Brigham daher etwa zweihundert Heilige aufgefordert, sich als Sohn oder Tochter an die Familie eines Führers der Kirche, der ihnen ein Freund oder Mentor im Evangelium war, siegeln und sich damit im geistigen Sinne adoptieren zu lassen.
Diese Siegelungen zur Adoption wurden mit einer heiligen Handlung im Tempel vollzogen. Die Adoptiveltern gaben oft praktische und auch seelische Unterstützung, die Adoptivsöhne und -töchter wiederum, von denen einige überhaupt keine Angehörigen in der Kirche hatten, dankten es ihnen oft mit Treue und Hingabe.25
Manche Schwierigkeiten in Winter Quarters und anderen behelfsmäßigen Siedlungen waren unvermeidlich. Als die Kälte einsetzte, hielten sich über neuntausend Heilige in der Gegend auf, darunter die dreitausendfünfhundert, die in Winter Quarters lebten. In jeder Siedlung forderten Unfälle, Krankheiten und der Tod ihren Tribut. Etwa jeder Zehnte starb an Malaria, Tuberkulose, Skorbut oder einem anderen Leiden. Ungefähr die Hälfte davon waren Säuglinge und Kinder.26
Auch Wilford Woodruffs Familie wurde nicht von Leid verschont. Als Wilford im Oktober Holz fällte, wurde er von einem umstürzenden Baum getroffen und brach sich ein paar Rippen. Kurz darauf zog sich sein kleiner Sohn Joseph eine schwere Erkältung zu. Wilford und Phebe kümmerten sich unentwegt um den Jungen, aber nichts half, und bald begruben sie ihn auf dem gerade erst neu angelegten Friedhof.
Ein paar Wochen nach Josephs Tod erlitt Phebe eine Frühgeburt, und das Kind starb zwei Tage später. Als Wilford eines Abends nach Hause kam, war Phebe ganz aufgelöst und starrte auf ein Bild, das sie mit Joseph in ihren Armen zeigte. Der Verlust ihrer Kinder schmerzte die beiden sehr, und Wilford sehnte sich danach, dass die Heiligen endlich eine Heimat fanden, in Frieden lebten und sich der Segnungen und der Sicherheit Zions erfreuten.
„Ich bitte den Vater im Himmel, meine Tage zu verlängern, damit ich sehe, wie das Haus Gottes auf den Bergeshöhen steht und das Banner der Freiheit wie ein Feldzeichen für die Nationen gehisst ist“, schrieb er in sein Tagebuch.27
Mitten in all dem Leid, das ihn in Winter Quarters umgab, ereilte Brigham die Nachricht, dass ein tausend Mann starker Pöbelhaufen die wenigen verbliebenen Heiligen angegriffen habe, die sich noch in Nauvoo aufhielten. Etwa zweihundert Heilige hatten sich gewehrt, aber das Gefecht nach ein paar Tagen verloren. Die Anführer der Stadt verhandelten, wie man die Heiligen, von denen ja viele arm und krank waren, auf friedlichem Wege aus der Stadt schaffen könne. Als die Heiligen jedoch aufbrachen, überfiel der Pöbel sie und plünderte ihre Häuser und Wagen. Ein Teil der Horde stürmte den Tempel, entweihte die Räume und verhöhnte die Heiligen, als sie in die Lagerstätten auf der anderen Seite des Flusses flohen.28
Als Brigham erfuhr, in welch verzweifelter Lage sich diese Flüchtlinge befanden, schickte er einen Brief an die Führer der Kirche und wies darauf hin, dass sie in Nauvoo doch mit einem Bund besiegelt hatten, dass sie den Armen zur Seite stehen und jedem Heiligen helfen wollten, der in den Westen ziehen wollte.
„Die verarmten Brüder und Schwestern, die Witwen und Waisen, die Kranken und Bedürftigen befinden sich nun am Westufer des Mississippis“, verkündete er. „Nun ist es an der Zeit, an die Arbeit zu gehen. Lasst das Feuer des Bundes, den ihr im Haus des Herrn geschlossen habt, wie eine unauslöschliche Flamme in eurem Herzen lodern.“29
Obwohl sie zwei Wochen zuvor bereits zwanzig Wagen nach Nauvoo zur Hilfe geschickt hatten und nur wenig Nahrung und Vorräte erübrigen konnten, schickten die Heiligen in Winter Quarters und den benachbarten Siedlungen weitere Wagen, Ochsengespanne, Lebensmittel und sonstige Vorräte zurück nach Nauvoo. Newel Whitney, der präsidierende Bischof der Kirche, besorgte für die verarmten Heiligen außerdem Mehl.30
Als die Hilfstrupps bei den Flüchtlingen eintrafen, hatten viele dieser Heiligen Fieber und waren kaum ausgerüstet für die Kälte und völlig ausgehungert. Als sie sich am 9. Oktober bereitmachten, zum Missouri aufzubrechen, entdeckten sie einen riesigen Schwarm Wachteln am Himmel, die auf und neben ihren Wagen landeten. Die Männer und Jungen hasteten zu den Vögeln und fingen sie mit den Händen ein. Viele dachten daran, dass Gott auch Mose und den Israeliten Wachteln geschickt hatte, als sie in Not waren.
„Heute Morgen haben wir eine direkte Kundgebung der Barmherzigkeit und Güte Gottes empfangen“, schrieb Thomas Bullock, ein Schriftführer der Kirche, in sein Tagebuch. „Die Brüder und Schwestern haben Gott gepriesen und seinen Namen verherrlicht, weil er das, womit er die Kinder Israel in der Wildnis gesegnet hat, auch uns in Zeiten der Verfolgung hat zukommen lassen“, schrieb er weiter.
„Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind hatte zum Abendessen Wachteln.“31
Währenddessen sprach ein Träger des Aaronischen Priestertums namens Tamanehune tausende Kilometer entfernt auf dem Anaa-Atoll im Pazifik bei einer Konferenz zu über achthundert Heiligen der Letzten Tage. „Wir sollten der Kirche in Amerika einen Brief schicken“, schlug er vor, „und sie bitten, uns unverzüglich fünf bis einhundert Älteste zu entsenden.“ Ariipaea, ein Dorfältester, der der Kirche angehörte, stimmte dem Vorschlag zu, und die Heiligen im Südpazifik hoben ebenfalls die Hand, um ihre Zustimmung zu bekunden.32
Addison Pratt, der bei der Konferenz präsidierte, war mit Tamanehunes Vorschlag ebenfalls von ganzem Herzen einverstanden. In den vergangenen drei Jahren hatten er und Benjamin Grouard über tausend Menschen getauft. In diesem Zeitraum war jedoch nur ein Brief von einem der Zwölf Apostel eingetroffen, und darin hatte es keine Anweisungen gegeben, ob die zwei Missionare heimkehren sollten.33
In dem halben Jahr seit diesem Brief hatten die beiden nichts mehr von ihrer Familie, ihren Freunden oder den Führern der Kirche gehört. Wenn auf der Insel Zeitungen eintrafen, suchten sie darin nach Neuigkeiten über die Heiligen. In einer Zeitung wurde behauptet, dass die Hälfte der Heiligen in Nauvoo ermordet und der Rest nach Kalifornien vertrieben worden sei.34
Addison machte sich große Sorgen, wie es um Louisa und seine Töchter stand, und beschloss, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. „Es ist wohl besser, die Wahrheit zu kennen, selbst wenn sie schrecklich sein mag, als in Zweifel und Sorge zu verbleiben“, sagte er sich.35
Addisons Freunde Nabota und Telii – das Ehepaar, das mit ihm auf Anaa tätig gewesen war – beschlossen, nach Tubuai zurückzukehren, wo Telii von den anderen Frauen in der Kirche als geistliche Lehrerin hochgeschätzt wurde. Benjamin wollte an Ort und Stelle bleiben und die Mission führen.36
Als die Heiligen auf den Inseln von Addisons geplanter Abreise erfuhren, flehten sie ihn an, doch schnell zurückzukommen und weitere Missionare mitzubringen. Da Addison ohnehin geplant hatte, mit Louisa und den Mädchen auf die Inseln zurückzukehren – sollten sie noch am Leben sein –, war er sofort damit einverstanden.37
Einen Monat später kam ein Schiff vorbei, mit dem Addison, Nabote und Telii nach Papeete in Tahiti gelangten. Von dort aus wollte Addison ein Schiff nach Hawaii nehmen und dann weiter nach Kalifornien. Bei der Ankunft in Tahiti erfuhr er zu seinem Entsetzen, dass dort ein Päckchen mit Briefen von Louisa, Brigham Young und den Heiligen auf der Brooklyn gerade erst nach Anaa weitergeleitet worden war.
„Ich war überzeugt, mein Herz sei inzwischen abgehärtet gegen Enttäuschung“, klagte er in seinem Tagebuch. „Aber jetzt kommen mir Gedanken, die mir vorher fremd gewesen sind.“38
Derweil wurde es in Winter Quarters immer kälter, und Brigham betete oft um Erkenntnis, wie er die Kirche auf den Marsch zur anderen Seite der Rocky Mountains vorbereiten sollte. Nach fast einem Jahr ohne feste Bleibe hatte er erkannt, dass die Weiterreise nur erfolgreich verlaufen konnte, wenn die Heiligen gut organisiert und ausgerüstet waren. Die vielen Rückschläge hatten ihm außerdem gezeigt, dass man sich unbedingt auf den Herrn verlassen und seiner Führung folgen musste. Wie schon in den Tagen Joseph Smiths konnte allein der Herr seine Kirche führen.
Kurz nach Anbruch des neuen Jahres spürte Brigham, dass der Herr ihn für neues Licht und neue Erkenntnis empfänglich machte. In einer Versammlung mit dem Hoherat und den Zwölf Aposteln am 14. Januar 1847 begann er, eine Offenbarung des Herrn an die Heiligen niederzuschreiben. Ehe er schlafen ging, gab ihm der Herr für die bevorstehende Reise noch weitere Anweisungen. Brigham holte die unvollständige Offenbarung noch einmal hervor und hielt auch diese Anweisungen des Herrn an die Heiligen schriftlich fest.39
Am nächsten Tag legte Brigham den Zwölf Aposteln die Offenbarung vor und bezeichnete sie als „Das Wort und der Wille des Herrn“. Darin wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Heiligen unter der Leitung der Apostel in Abteilungen zu gruppieren. Ferner gebot der Herr den Heiligen, sich selbst zu versorgen, auf der Reise zusammenzuarbeiten und sich um Witwen und Waisen sowie die Familien der Angehörigen des Mormonenbataillons zu kümmern.
„Jeder Einzelne soll seinen ganzen Einfluss und sein ganzes Vermögen aufbieten, um dieses Volk an den Ort zu verlegen, wo der Herr einen Zionspfahl errichten wird“, hieß es in der Offenbarung. „Wenn ihr dies mit reinem Herzen tut, in voller Glaubenstreue, dann werdet ihr gesegnet werden.“40
Außerdem gebot der Herr seinem Volk, umzukehren, sich zu demütigen, miteinander freundlich umzugehen und mit dem Trinken und mit üblem Gerede aufzuhören. Seine Worte wurden als Bund vorgelegt und die Heiligen wurden ermahnt, „nach allen Verordnungen des Herrn zu wandeln“ und somit einzuhalten, was sie im Nauvoo-Tempel gelobt hatten.41
„Ich bin der Herr, euer Gott, ja, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs“, verkündete der Herr. „Ich bin es, der die Kinder Israel aus dem Land Ägypten geführt hat, und mein Arm ist in den letzten Tagen ausgestreckt, um mein Volk Israel zu erretten.“
Wie die Israeliten in alter Zeit sollten die Heiligen den Herrn preisen und in schweren Zeiten seinen Namen anrufen. Sie sollten mit einem dankbaren Gebet im Herzen singen und tanzen. Sie sollten die Zukunft nicht fürchten, sondern auf den Herrn vertrauen und ihre Bedrängnisse ertragen.
„Mein Volk muss in allem geprüft werden, damit es vorbereitet sei, die Herrlichkeit zu empfangen, die ich für es habe, nämlich die Herrlichkeit Zions“, verkündete der Herr.42
Ein paar Tage später legten die Apostel den Heiligen in Winter Quarters die neue Offenbarung vor, und viele freuten sich sehr, als sie sie hörten. „Der Herr hat seiner Knechte abermals gedacht und sie in einer Offenbarung seinen Willen wissen lassen“, schrieb eine Frau an ihren Mann in England. „Bei uns herrschen Friede und Einigkeit“, erzählte sie freudig. „Und der Geist Gottes ist unter uns allerorten zu spüren.“43
Einige Probleme bestanden in Winter Quarters jedoch weiterhin. Seit dem Auszug aus Nauvoo hatten die Apostel unter den Heiligen weitere Siegelungen zur Adoption vorgenommen. Brigham bekam mit, dass ein paar Heilige ihre Freunde drängten, sich an ihre Familie siegeln zu lassen, weil sie überzeugt waren, ihre ewige Herrlichkeit hinge davon ab, wie viele Leute an sie gesiegelt waren. Rivalitäten brachen hervor, als sie eifersüchtig darum stritten, wer wohl im Himmel die größte Familie haben würde. Angesichts dieser Auseinandersetzungen fragte sich Brigham, ob überhaupt einer von ihnen dorthin gelangen würde.44
Als er im Februar über die Siegelungen zur Adoption sprach, musste er einräumen, dass er noch gar nicht viel darüber wusste. Er war den Dutzenden Heiligen, die inzwischen an seine Familie gesiegelt worden waren, sehr zugetan. Trotzdem hatte er das Gefühl, mit diesem Brauch nicht recht vertraut zu sein, und fragte sich, was er wohl zu bedeuten habe.45
„Ich werde mir mehr Wissen darüber aneignen“, versprach er den Heiligen. „Dann bin ich besser imstande, darüber zu sprechen und ihn auszuüben.“46
Am nächsten Tag fühlte er sich krank und legte sich hin, um sich auszuruhen. Er schlief ein und sah in einem Traum Joseph Smith vor einem großen Fenster auf einem Stuhl sitzen. Brigham ergriff Josephs rechte Hand und fragte seinen Freund, weshalb er nicht bei den Heiligen sein könne.
„Es ist schon in Ordnung“, erwiderte Joseph und erhob sich.
„Die Brüder sind sehr besorgt, weil sie das Gesetz der Adoption und die Grundsätze der Siegelung verstehen wollen“, erklärte Brigham. „Ich wäre sehr froh, wenn du mir einen Rat mit auf den Weg geben könntest.“
„Sag den Leuten, sie sollen demütig und treu sein und darauf achten, dass sie den Geist des Herrn behalten“, meinte Joseph. „Wenn sie das tun, werden sie sich in derselben Ordnung wiederfinden wie beim Vater im Himmel, ehe sie auf die Welt kamen.“
Als Brigham aufwachte, konnte er noch immer Josephs Worte hören: „Sag den Leuten, sie sollen unbedingt darauf achten, dass sie den Geist des Herrn behalten und ihm folgen, dann führt er sie recht.“47 Zwar war der Rat keine Antwort auf seine Fragen zu den Adoptionen, aber doch eine Ermahnung an ihn, dem Heiligen Geist zu gehorchen, damit er und die Heiligen größeres Verständnis erlangen konnten.
Auch den übrigen Winter hindurch bemühten sich die Apostel um Offenbarung, während sie die Wagenabteilungen für den Treck über die Rocky Mountains vorbereiteten. Unter ihrer Leitung sollte ein kleiner Vortrupp im Frühjahr von Winter Quarters aufbrechen, die Berge überqueren und einen neuen Sammlungsort für die Heiligen gründen. Die Gruppe sollte ein Feldzeichen für die Nationen aufstellen, mit dem Bau eines Tempels beginnen und damit dem Gebot des Herrn gehorchen und Prophezeiungen erfüllen. Bald sollten ihnen größere Abteilungen, die vor allem aus Familien bestanden, hinterherreisen und sich unterwegs an das Wort und den Willen des Herrn halten.48
Vor dem Aufbruch aus Nauvoo hatten das Kollegium der Zwölf Apostel und der Rat der Fünfzig in Erwägung erzogen, sich im Salzseetal oder weiter nördlich im Tal des Bear Rivers niederzulassen. Beide Täler befanden sich auf der anderen Seite der Rocky Mountains, und nach dem, was man hörte, waren sie vielversprechend.49 In einer Vision hatte Brigham den Ort gesehen, wo sich die Heiligen niederlassen sollten, aber er wusste nur ungefähr, wo das sein konnte. So betete er denn darum, dass Gott ihn und den Vortrupp zum richtigen Sammlungsort für die Kirche führen möge.50
Dieser Vortrupp bestand aus 143 Männern, die von den Aposteln ausgesucht worden waren. Harriet Young, die Frau von Brighams Bruder Lorenzo, bat darum, Lorenzo mit ihren beiden kleinen Söhnen auf dem Weg begleiten zu dürfen. Daraufhin fragte Brigham seine Frau Clara – Harriets Tochter aus erster Ehe –, ob sie nicht auch mitkommen wolle. Ferner schloss sich Ellen, eine der Frauen Heber Kimballs, die aus Norwegen eingewandert war, dem Vortrupp an.51
Gerade als sich der Vortrupp zum Aufbruch bereitmachte, kehrten Parley Pratt und John Taylor von ihrer Mission aus England nach Winter Quarters zurück. Gemeinsam mit Orson Hyde, der noch immer für die Kirche in Großbritannien verantwortlich war, hatten sie neue Führer für die Mission berufen und die Ordnung unter den Heiligen wiederhergestellt. Da Parley und John überzeugt waren, zu lange von ihrer Familie getrennt gewesen zu sein, lehnten sie Brighams wiederholte Bitte, das übrige Kollegium auf dem Treck in den Westen zu begleiten, ab. Daher übertrug Brigham ihnen die Verantwortung für Winter Quarters.52
Am Nachmittag des 16. Aprils 1847 machte sich der Vortrupp bei kaltem, trübem Wetter auf den Weg. „Wir wollen der Errettung aller aufrichtigen Menschen aus allen Nationen den Weg bereiten oder alles opfern, was uns anvertraut worden ist“, verkündeten die Apostel in einem Abschiedsbrief an die Heiligen in Winter Quarters. „Im Namen des Gottes Israels erringen wir den Sieg oder sterben bei dem Versuch.“53