„Wie es euch der Heilige Geist eingibt“, Kapitel 9 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 9: „Wie es euch der Heilige Geist eingibt“
Kapitel 9
Wie es euch der Heilige Geist eingibt
Am 6. Oktober 1849, dem ersten Tag der Herbstkonferenz der Kirche, kündigten die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel die ehrgeizigste Missionsinitiative seit Joseph Smiths Tod an. „Die Zeit ist gekommen“, verkündete Heber Kimball in seiner Eröffnungsansprache. „Wir wollen, dass sich dieses Volk mit uns daran beteiligt, das Reich Gottes zu allen Nationen der Erde zu tragen.“1
Seit ihrer Ankunft im Tal hatten die Heiligen ihre Kraft darauf verwendet, sich anzusiedeln und zu überleben. Doch die Ernte hatte in diesem Jahr reichen Ertrag und ausreichend Nahrung für den Winter gebracht. Als die Heiligen nach und nach aus dem Fort auszogen und sich Häuser in der Stadt bauten, teilten die Führer der Kirche sie in dreiundzwanzig Gemeinden auf, über die jeweils ein Bischof präsidierte. Über das Salzseetal verstreut und in den Tälern im Norden und Süden entstanden neue Siedlungen, und viele Heilige begannen, Geschäfte, Mühlen und Fabriken zu bauen. Der Sammlungsort erblühte, als die Heiligen ihn bereitmachten, das Volk Gottes zu empfangen.2
Die Zwölf Apostel sollten die neue Missionsinitiative leiten. Früher im Jahr hatte Brigham Young Charles Rich, Lorenzo Snow, Erastus Snow und Franklin Richard berufen, die freigewordenen Plätze im Kollegium einzunehmen. Nun sandte die Erste Präsidentschaft Charles nach Kalifornien, wo er Amasa Lyman behilflich sein sollte, Lorenzo mit Joseph Toronto – einem italienischen Heiligen – nach Italien, Erastus mit Peter Hansen – einem dänischen Heiligen – nach Dänemark, Franklin nach Großbritannien und den langjährigen Apostel John Taylor nach Frankreich.3
Heber sprach bei der Konferenz auch über den Ständigen Auswanderungsfonds, ein neues Programm, das den Heiligen helfen sollte, sich an den Bund zu halten, den sie im Nauvoo-Tempel eingegangen waren, nämlich den Armen beizustehen. „Wir sind hier. Wir sind gesund und haben reichlich zu essen, zu trinken und zu tun“, sagte Heber. Viele verarmte Heilige saßen jedoch in den Siedlungen am Missouri, an den Zwischenstationen in Iowa, in Nauvoo und in Großbritannien fest. Teilweise verloren diese Heiligen den Mut und kehrten der Kirche den Rücken.
„Sollen wir diesen Bund halten oder nicht?“, fragte er.4
Das neue Programm sah vor, dass die Heiligen Geld spendeten, damit die Armen sich in Zion sammeln konnten. Die Auswanderer erhielten ein Darlehen, mit dem sie die Reisekosten bestreiten konnten. Sobald sie dann in Zion Fuß gefasst hatten, sollten sie das Darlehen zurückzahlen. Allerdings brauchte man für dieses Programm Bargeld – etwas, was nur wenige Heilige geben konnten, da sie ja vorwiegend Tauschhandel betrieben. Die Erste Präsidentschaft rief die Heiligen auf, Überschüsse dem Fonds zu überlassen. Sie erörterte aber auch die Möglichkeit, Missionare auszusenden, die in Kalifornien nach Gold graben sollten.5
Brigham betrachtete diesen Vorschlag jedoch mit großer Skepsis. Er war überzeugt, dass der Hunger nach Gold gute Menschen verdarb und sie von der Sache Zions ablenkte. Dennoch konnte Gold einem heiligen Zweck dienen, wenn es dazu beitrug, die Kirche und die Auswanderung zu finanzieren.6 Wenn er Missionare in die kalifornischen Goldfelder sandte, konnten sie möglicherweise dringend benötigte Gelder für das Werk Gottes zusammentragen.
Diese Missionare mussten aber gute, rechtschaffene Männer sein, denen Gold nicht mehr bedeutete als der Staub unter ihren Füßen.7
Auf den ersten Blick unterschied sich George Q. Cannon nicht von den Goldsuchern, die auf ihrem Weg nach Kalifornien durchs Salzseetal zogen. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, noch unverheiratet und voll jugendlichem Elan. Aber er hatte nicht den geringsten Wunsch, sein Zuhause zu verlassen. Er liebte die majestätischen Berge und die friedliche Stimmung im Salzseetal. Keinesfalls wollte er seine Zeit damit vergeuden, nach Gold zu graben. Jede Minute war ihm wichtig. Er wollte Bücher lesen, auf seinem Grundstück in der Stadt ein Haus aus Backstein bauen und eines Tages eine junge Frau namens Elizabeth Hoagland heiraten.8
George und Elizabeth waren zwei Jahre zuvor mit derselben Abteilung in den Westen gezogen. George, der schon als Jugendlicher seine Eltern verloren hatte, war mit seiner Tante und seinem Onkel, Leonora und John Taylor, hergekommen, um für den Rest seiner Familie ein Haus zu bauen. Seine jüngeren Geschwister sollten jeden Tag im Tal ankommen. Sie waren mit seiner ältesten Schwester Mary Alice und deren Mann Charles Lambert unterwegs. Die beiden hatten sie nach dem Tod der Eltern aufgenommen. George konnte das Wiedersehen kaum erwarten.9
Bevor Georges Familie eintraf, beriefen ihn die Führer der Kirche jedoch, als Missionar in Kalifornien nach Gold zu graben.10 Dieser Auftrag kam völlig unerwartet, und Elizabeth war alles andere als glücklich darüber. „Ich bin nur für ein Jahr berufen worden“, versuchte George sie zu trösten. „Wäre es dir lieber, wenn ich für vielleicht drei Jahre nach Frankreich ginge?“
„Mir wäre es lieber, du würdest ausziehen, um Seelen zu retten, anstatt nach Gold zu suchen – auch wenn du dann länger fort wärst“, erwiderte Elizabeth.11
George konnte nicht widersprechen. Als Junge in England hatte er zu Missionaren wie seinem Onkel John und Wilford Woodruff aufgeblickt. Er hatte den Tag herbeigesehnt, an dem auch er eine Mission erfüllen würde.12 Die Berufung, nach Gold zu graben, war kaum das, was er sich vorgestellt hatte.
Am ersten Tag der Oktoberkonferenz traf sich George mit neu berufenen Missionaren und anderen. Brigham legte ihnen ausführlich dar, was es bedeutet, das, was Gott uns schenkt, in Ehren zu halten. „Ein Mann muss immer die Liebe zum Priestertum im Herzen bewahren“, erklärte er, „und nicht die Liebe zu den Dingen dieser Welt.“13
In den nächsten Tagen war George mit Vorbereitungen für seine Mission beschäftigt. Am 8. Oktober gaben ihm John Taylor, Erastus Snow und Franklin Richards einen Segen und sagten ihm, er werde auf seiner Mission Erfolg haben und den anderen Missionaren ein gutes Vorbild sein. Sie verhießen ihm, Engel würden über ihn wachen und er werde sicher nach Hause zurückkehren.14
Drei Tage später war George bedrückt und besorgt, als er zusammen mit den anderen Goldmissionaren von zuhause aufbrach. Im Laufe seines Lebens war er schon mehrmals umgezogen, aber nie länger als ein oder zwei Tage fern von irgendeinem Angehörigen gewesen. Und er wusste nicht, was auf ihn zukam.
Die Goldmissionare hatten vor, sich mit Addison Pratt und Jefferson Hunt zu treffen und mit ihnen gemeinsam nach Kalifornien zu reisen. Als sie das Tal verließen, machten sie bei einer Feier für die Ältesten, die bald nach Europa aufbrachen, Halt. Um die hundert Heilige waren zusammengekommen, um sie zu verabschieden. Einige saßen an Tischen und genossen die Vielfalt an Speisen, die zubereitet worden waren, während andere unter einem großen, aus Wagenplanen zusammengeflickten Zelt tanzten. Als George auf die Feiernden zuritt, sah er Brigham Youngs Kutsche auf sich zukommen.
Die Kutsche hielt an und George saß ab, um Brigham die Hand zu schütteln. Brigham sagte, er werde an George denken und für ihn beten, solange er fort sei. Dankbar für die freundlichen Worte des Propheten genoss George noch einen weiteren Abend die Herzlichkeit und Kameradschaft unter den Heiligen. Am Morgen bestiegen er und die Goldmissionare ihre Pferde und machten sich südwärts auf den Weg nach Kalifornien.15
Brighams Frau Mary Ann besuchte im März 1850 Louisa Pratt, um herauszufinden, ob sie von der Kirche Hilfe benötigte. Louisa wusste nicht, was sie sagen sollte. Freunde wie Mary Ann hatten oft Hilfe angeboten oder sie zum Essen eingeladen. Doch das Leben ohne Addison war einsam wie eh und je, und nichts schien das zu ändern.
„Möchtest du gern zu deinem Mann?“, fragte Mary Ann.16
Louisa erzählte ihr, dass sich bereits ein Freund bereiterklärt habe, ihre Familie nach Kalifornien zu bringen, falls die Kirche jemals beschließen sollte, sie auf die Pazifischen Inseln zu senden. Als Louisa dies Mary Ann anvertraute, befürchtete sie, es könne zu sehr danach klingen, dass sie unbedingt gehen wolle. Bliebe sie in Salt Lake City, wären sie und Addison voraussichtlich weitere fünf Jahre getrennt. Aber mit ihm auf den Inseln zu leben, brächte ebenso Risiken mit sich. Ellen und Frances waren bald alt genug, um zu heiraten. Wäre es klug, gerade jetzt mit ihnen das Tal zu verlassen?
Louisa betete oft, um den Willen des Herrn zu erfahren. Aber zum Teil wünschte sie sich einfach nur, dass Addison ihr einen Brief schrieb und sie bat, zu ihm zu kommen. Wenn sie wüsste, was er wollte, wäre die Entscheidung leichter. Sie fragte sich auch, ob er überhaupt wollte, dass sie zu ihm kam. Hatte er seine letzte Missionsberufung nur angenommen, weil er wieder fortgehen wollte?
„Wäre ich ein Ältester“, sagte Louisa eines Tages zu Willard Richards, „würde ich niemals einwilligen, so lange von meiner Familie getrennt zu sein.“ Sie sagte, sie würde ihre Mission so schnell wie möglich erfüllen und dann nach Hause zurückkehren. Willard lächelte, sagte aber nichts. Doch Louisa hatte den Eindruck, er sei mit ihr einer Meinung.17
Morgens am 7. April besuchte Louisa die Konferenz. George A. Smith sprach fast zwei Stunden lang. Als er endete, ergriff Heber Kimball das Wort. „Die Ältesten, die ich jetzt nenne, werden in verschiedene Nationen berufen“, sagte er. Heber berief zwei Männer auf die Pazifischen Inseln, Louisa und ihre Töchter erwähnte er aber nicht. Dann sagte er: „Es wird vorgeschlagen, dass Thomas Tompkins zu den Inseln reist, wo Bruder Addison Pratt tätig war, und Bruder Pratts Familie mit sich nimmt.“18
Ein unbeschreibliches Gefühl durchströmte Louisa. Sie bekam von der Versammlung nicht mehr viel mit. Danach machte sie Mary Ann in der Menge ausfindig und drängte sie, Brigham zu bitten, ob er nicht vielleicht ihre Schwester Caroline und ihren Schwager Jonathan Crosby ebenfalls in die Mission berufen wolle. Mary Ann war einverstanden, und Familie Crosby erhielt am folgenden Tag die Berufung.
Kurz vor ihrer Abreise statteten Louisa und ihre Töchter Brigham einen Besuch ab. Er sagte Louisa, sie sei berufen und eingesetzt worden, auf die Inseln zu gehen und Addison bei der Unterweisung der Menschen zu helfen. Dann segnete er sie, dass sie alles erhalten werde, was sie benötige, und dass sie Macht über den Widersacher haben werde. Sie werde ein gutes Werk tun und in Frieden von ihrer Mission zurückkehren.19
Während Familie Pratt und Familie Crosby zu den Inseln aufbrachen, gingen die frisch nach Europa berufenen Missionare in England von Bord. Die Apostel machten eine kurze Rundreise durch die Britische Mission, zu der auch Zweige in Wales und Schottland gehörten. Unterdessen wollte der einunddreißigjährige dänische Missionar Peter Hansen unbedingt nach Dänemark weiterreisen, obwohl Erastus Snow angeordnet hatte, er solle erst dorthin gehen, wenn die anderen skandinavischen Missionare ihn begleiten konnten.
Peter respektierte seinen Missionspräsidenten, doch er war schon seit sieben Jahren nicht mehr in seinem Heimatland gewesen und wollte unbedingt dort als erster Missionar das Evangelium verkünden. In einem Hafen in der Nähe lag ein Dampfschiff vor Anker, das nach Kopenhagen fuhr, und Peter befand, dass er keinen Augenblick länger warten könne.
Er kam am 11. Mai 1850 in der dänischen Hauptstadt an. Als er durch die Straßen ging, freute er sich, wieder in der Heimat zu sein. Doch es bekümmerte ihn, dass sich dort niemand am Licht des wiederhergestellten Evangeliums erfreuen konnte. Als Peter sieben Jahre zuvor Dänemark verlassen hatte, hatte es dort keine Gesetze zum Schutz der Religionsfreiheit gegeben, und es war verboten, irgendeine andere Lehre zu verkünden als die der Staatskirche.20
In seiner Jugend hatte sich Peter gegen diese Beschränkungen empört. Und als er erfuhr, dass sein Bruder in den Vereinigten Staaten einen neuen Glauben angenommen hatte, hatte er jede Anstrengung unternommen, um sich ihm anzuschließen. Diese Entscheidung hatte seinen Vater erzürnt, einen strengen Mann mit starren Ansichten. Am Tag von Peters Abreise zerschlug sein Vater seinen Koffer und verbrannte den Inhalt.
Peter reiste trotzdem ab und blickte nicht zurück. Er siedelte in die Vereinigten Staaten über und schloss sich der Kirche Jesu Christi an. Dann begann er, das Buch Mormon ins Dänische zu übersetzen, und zog mit dem Vortrupp ins Salzseetal. Inzwischen jedoch gestanden die Gesetzgeber in Dänemark allen Kirchen das Recht zu, ihre Ansichten zu verbreiten.21
In der Hoffnung, seine Arbeit werde von diesem neuen Klima der Religionsfreiheit profitieren, suchte Peter Mitglieder von Kirchen auf, die einige Glaubensansichten mit den Heiligen teilten. Als er sich mit einem Baptistenpastor unterhielt, erfuhr er jedoch, dass die Staatskirche trotz des neuen Gesetzes noch immer Menschen wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgte. Peter empfand Mitgefühl für sie, da er ja in den Vereinigten Staaten ebenfalls wegen seines Glaubens verfolgt worden war. Schon bald erzählte er dem Pastor und dessen Gemeinde vom wiederhergestellten Evangelium.
Aus Pflichtgefühl suchte Peter auch nach seinem Vater, der von Peters Ankunft als Missionar erfahren hatte. Eines Tages entdeckte Peter ihn auf der Straße und grüßte ihn. Der alte Mann sah ihn ausdruckslos an. Peter gab sich zu erkennen, doch sein Vater hob die Hand und schob ihn beiseite.
„Ich habe keine Kinder“, sagte er. „Und du, du bist nur gekommen, um den öffentlichen Frieden in diesem Land zu stören.“
Wenig überrascht und unbeeindruckt vom Zorn seines Vaters machte sich Peter wieder an die Arbeit. Er informierte Erastus in England brieflich über seine Unternehmungen in der Mission und setzte seine Arbeit an der Übersetzung des Buches Mormon fort. Auch schrieb und veröffentlichte er einige Broschüren auf Dänisch und übersetzte mehrere Kirchenlieder in seine Muttersprache.
Erastus war nicht erfreut, dass Peter seine Anweisung nicht befolgt hatte, als er aber am 14. Juni in Kopenhagen eintraf, war er froh, dass Peter bereits eine Grundlage geschaffen hatte und das Werk des Herrn somit vorangehen konnte.22
Am 24. September 1850 ritt Apostel Charles Rich auf der Suche nach den Goldmissionaren in ein Goldgräberlager im mittleren Kalifornien. Es war Abend, die Goldsucher kehrten gerade in ihre Zelte und Baracken zurück, zündeten Laternen und Kocher an und wechselten die nasse Kleidung. Entlang des Flussufers, wo sie arbeiteten, sah der Boden wie von abertausenden Schaufeln und Spitzhacken zerstückelt aus.23
Nahezu ein Jahr war vergangen, seit die Goldmissionare Salt Lake City verlassen hatten. Noch war keiner plötzlich zu Reichtum gekommen. Ein paar Missionare hatten genug Gold gefunden, um kleine Mengen nach Salt Lake City zu schicken. Ein bisschen wurde geschmolzen, und es wurden Münzen geprägt. Das meiste von dem, was sie fanden, benötigten sie jedoch, um die hohen Kosten für Verpflegung und Ausrüstung zu decken.24 Einige Heilige vor Ort, die es während des Goldrauschs zu Wohlstand gebracht hatten, boten derweil wenig Unterstützung an. Sam Brannan war schnell zu einem der reichsten Männer Kaliforniens aufgestiegen, aber er hatte aufgehört, den Zehnten zu zahlen, und leugnete jede Verbindung zur Kirche.
Charles traf die Goldmissionare in ihrem Lager an. Als er das Goldgräberlager einige Monate zuvor das letzte Mal besucht hatte, hatten die Missionare und andere Goldsucher den Fluss gestaut, weil sie hofften, das Gold in dessen schlammigem Grund freizulegen. Die meisten von ihnen verbrachten noch immer ihre Tage damit, am Damm zu arbeiten oder nach Gold zu suchen. George Q. Cannon betrieb den Laden im Lager.25
Am Morgen sprach Charles mit den Männern über die Zukunft der Mission. Die Hauptsaison für das Goldschürfen war beinahe vorüber, und der mangelnde Erfolg der Mission hatte Brighams Vorbehalte gegen die Goldsuche bestätigt. Statt den Winter über in Kalifornien zu bleiben, wo die Lebenshaltungskosten hoch waren, schlug Charles vor, sollten einige Missionare doch ihre Mission auf den Hawaii-Inseln beenden. Dort könnten sie preisgünstig leben und gleichzeitig den vielen englischsprachigen Kolonisten das Evangelium verkünden.26
George sagte Charles, er sei bereit, alles zu tun, was die Führer der Kirche für das Beste hielten. Wenn sie wollten, dass er nach Hawaii gehe, werde er gehen. Überdies waren die Goldfelder für einen jungen Heiligen der Letzten Tage ein ungemütliches Revier. Nicht selten hörte man, dass in den Lagern gestohlen oder sogar gemordet wurde. George war selbst einmal von Goldgräbern angegriffen worden, die ihm gewaltsam Whisky einflößten.27
Bevor die Missionare das Lager verließen, setzte Charles sie für ihre neue Mission ein. „Wenn ihr auf den Inseln ankommt“, sagte er zu ihnen, „geht euren Pflichten so nach, wie es euch der Heilige Geist eingibt.“ Er erklärte, der Geist werde besser wissen als er, welchen Kurs sie einschlagen sollten, wenn sie die Inseln erreichten.28
Die Missionare gingen bald darauf zurück zum Fluss, wo sie den Damm fertigstellen und mehr Gold schürfen wollten. Ein paar Wochen später fanden sie so viel Gold, dass jeder von ihnen über siebenhundert Dollar erhielt. Danach fanden sie nichts mehr.29
Bald darauf verließen sie das Goldgräberlager und machten sich auf den Weg zur Küste. Eines Abends hielten sie für Heilige in Kalifornien und andere, die sich für das Evangelium interessierten, eine Versammlung ab. George war nervös. Von den Missionaren wurde erwartet, dass sie bei solchen Versammlungen sprachen. Er hatte aber noch nie vor Ungläubigen gepredigt. Er wusste, dass er es nicht vermeiden konnte, zu sprechen, aber er wollte nicht der Erste sein.
Doch kaum hatte die Versammlung begonnen, wurde er von dem Ältesten, der sie leitete, aufgefordert, zu predigen. Zögernd stand George auf. „Ich habe mich einspannen lassen“, sagte er sich, „da kann ich jetzt nicht kneifen.“ Er tat den Mund auf, und die Worte kamen ihm leicht über die Lippen. „Angeblich ist die Welt ja sehr darauf bedacht, der Wahrheit habhaft zu werden“, sagte er. „Wir sollten überaus dankbar sein, dass wir sie besitzen, und auch für den Grundsatz, dass wir von einer Wahrheit zur anderen fortschreiten können.“
Er sprach fünf Minuten, doch dann konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen und stammelte den Rest seiner Predigt. Beschämt nahm er wieder Platz. Er war sich sicher, dass sein erstes Erlebnis als predigender Missionar nicht schlimmer hätte sein können.
Aber er ließ sich nicht allen Mut nehmen. Er war auf Mission und hatte nicht vor, klein beizugeben oder mit seinem Auftrag zu scheitern.30
Etwa um diese Zeit stand die fünfzehnjährige Frances Pratt an Deck des Schiffes, das über zwanzig amerikanische Heilige in die Mission im Südpazifik brachte, und erblickte die Insel Tubuai. Frances, die den größten Teil der Reise betrübt gewesen war und sich zurückgezogen hatte, lebte augenblicklich auf. Mit einem Fernglas suchte sie die Insel ab, in der Hoffnung, am Strand ihren Vater zu entdecken. Ihre ältere Schwester Ellen war sicher, dass er an Bord kommen würde, sobald das Schiff angelegt hatte.
Auch Louisa sehnte sich nach dem Wiedersehen mit Addison. Sie war aber die ganze Reise über seekrank gewesen und konnte an kaum etwas anderes denken als an festen Boden unter den Füßen, anständiges Essen und ein weiches Bett. Auch ihrer Schwester Caroline ging es nicht besser. Ihr war übel und sie konnte kaum gehen.31
Nachdem Gegenwind und gefährliche Riffe ihnen zwei Tage lang zu schaffen gemacht hatten, ging das Schiff nahe der Insel vor Anker. Zwei Insulaner paddelten heran, um sie zu begrüßen. Als sie an Bord gingen, fragte Louisa, ob Addison auf der Insel sei. Nein, erwiderte einer der Männer. Addison wurde auf Tahiti festgehalten. Er war Gefangener des französischen Gouverneurs, der jedem fremden Missionar, der nicht der katholischen Kirche angehörte, misstraute.
Louisa hatte sich gegen schlechte Nachrichten gewappnet, ihre Töchter jedoch nicht. Ellen setzte sich und verschränkte mit versteinertem Gesicht die Hände im Schoß. Die anderen Mädchen liefen auf Deck hin und her.
Bald traf ein weiteres Boot ein, und zwei Amerikaner kamen an Bord. Einer von ihnen war Benjamin Grouard. Als Louisa ihn das letzte Mal in Nauvoo gesehen hatte, war er ein lebhafter junger Mann gewesen. Nach sieben Jahren als Missionar im Pazifik sah er nun ernst und würdevoll aus. Seine Augen waren vor Freude und Überraschung geweitet. Er begrüßte die Neuankömmlinge und bat sie an Land.32
Am Strand wurden Louisa und die anderen Passagiere von Heiligen aus Tubuai willkommen geheißen. Louisa fragte, ob sie Nabota und Telii, Addisons Freunde von seiner ersten Mission, treffen könne. Ein Mann nahm sie an die Hand. „‚O vau te arata‘i ia ‘oe“, sagte er zu ihr. Ich führe Sie hin.33
Er ging landeinwärts, und Louisa folgte ihm und versuchte nach besten Kräften, sich mit ihm zu verständigen. Die Übrigen folgten dicht hinter ihnen, und man hörte fröhliches Lachen. Louisa bestaunte die riesigen Palmen, die über ihnen in den Himmel ragten, und die üppige Vegetation, die die Insel bedeckte. Hie und da sah sie langgestreckte, niedrige Häuser, die mit weißem, aus Korallen gefertigtem Kalk verputzt waren.
Telii war hocherfreut, als sie den neuen Missionaren vorgestellt wurde. Obwohl sie sich gerade erst von einer Krankheit erholte, erhob sie sich aus dem Bett und begann, ein Festessen zuzubereiten. Sie briet in einer Grube Schweinefleisch, röstete Fisch und backte aus Mehl, das aus einer Wurzel gewonnen wurde, Brot. Dazu legte sie vielerlei frische Früchte bereit. Als sie mit Kochen fertig war, hatten sich Heilige von der ganzen Insel zusammengefunden, um die Neuankömmlinge kennenzulernen.
Die Gesellschaft ließ es sich schmecken, während hoch am Himmel der Vollmond aufging. Anschließend drängten sich die Heiligen aus Tubuai im Haus zusammen. Man setzte sich auf Grasmatten, und die amerikanischen Heiligen sangen auf Englisch Kirchenlieder. Dann sangen die Heiligen der Insel einige Kirchenlieder in ihrer Muttersprache. Ihre Stimmen waren laut und klar und harmonierten perfekt miteinander.
Während Louisa der Musik lauschte, sah sie hinaus und bewunderte den atemberaubenden Anblick. Hohe, schattenspendende Bäume mit leuchtend gelben Blüten standen rings ums Haus. Durch die Zweige schimmerte das Mondlicht in vielerlei Formen. Louisa dachte daran, was für Entfernungen ihre Familie zurückgelegt hatte und was sie alles erlitten hatten, um schließlich an einen so schönen Ort zu gelangen. Sie wusste, dass die Hand Gottes mit ihnen gewesen war.34
Zwei Monate nach Louisas Ankunft in Tubuai stiegen die Goldmissionare auf der Insel Oahu einen Berg hinauf, von dem aus man einen schönen Blick auf Honolulu hatte, und weihten die hawaiianischen Inseln für die Missionsarbeit. Am Abend darauf erhielt George Q. Cannon vom Missionspräsidenten den Auftrag, gemeinsam mit James Keeler und Henry Bigler auf der Insel Maui, südöstlich von Oahu, zu arbeiten.35
Die Insel Maui war nur wenig größer als Oahu. Ihre Hauptstadt, Lahaina, lag an einem flachen Strandabschnitt, hatte aber keinen Hafen. Vom Meer aus war die Stadt größtenteils hinter Palmen und dichtem Blattwerk verborgen. In der Ferne dahinter türmte sich eine hohe Bergkette auf.36
Die Missionare gingen ans Werk, fanden jedoch bald heraus, dass es auf der Insel weit weniger weiße Siedler gab als erwartet. George war enttäuscht. Die Goldmissionare waren in der Erwartung nach Hawaii gekommen, englischsprachigen Siedlern das wiederhergestellte Evangelium zu verkünden. Doch keiner von diesen schien sich dafür zu interessieren. Sie erkannten schnell, dass ihre Mission kurz und ergebnislos wäre, wenn sie sich nur an die weiße Bevölkerung wandten.
Eines Tages besprachen sie, welche Möglichkeiten sie hatten. „Sollen wir unsere Arbeit nur auf die Weißen beschränken?“, fragten sie sich. Man hatte sie nie beauftragt, den Hawaiianern zu predigen, es war ihnen aber auch nicht verboten worden. Charles Rich hatte ihnen in Kalifornien nur empfohlen, sich auf ihrer Mission vom Heiligen Geist leiten zu lassen.
George war der Meinung, dass es ihre Berufung und Aufgabe sei, allen Menschen vom Evangelium zu erzählen. Wenn er und die anderen Missionare sich bemühten, die Landessprache zu lernen, so wie Addison Pratt auf Tubuai, konnten sie ihre Berufung groß machen und mehr Menschen erreichen. Henry und James waren der gleichen Meinung.37
Allerdings stellten die Missionare bald fest, dass es sehr schwierig war, Hawaiianisch zu verstehen. Die Wörter schienen alle ineinander überzugehen.38 Aber viele Hawaiianer waren gern bereit, ihnen beim Lernen zu helfen. Da es auf Maui nicht viele Lehrbücher gab, bestellten die Missionare einige aus Honolulu. George wollte unbedingt Hawaiianisch sprechen können und verpasste keine Gelegenheit, zu üben. Mitunter blieben er und andere den ganzen Tag zuhause, um zu lesen und Hawaiianisch zu lernen.
Nach und nach wurde George sicherer und konnte sich besser verständigen. Als er und seine Mitarbeiter eines Abends zuhause saßen und sich auf Hawaiianisch mit ihren Nachbarn unterhielten, bemerkte George auf einmal, dass er fast alles verstand, was sie sagten. Er sprang auf die Füße, fasste sich mit den Händen an den Kopf und rief aus, er habe die Gabe der Auslegung der Zungenrede erhalten.
Zwar verstand er nicht jedes einzelne Wort, aber er bekam im Großen und Ganzen mit, was gesagt wurde. Er war von Herzen dankbar und wusste, dass der Herr ihn gesegnet hatte.39