„Die Bürde bringt mich fast ins Grab“, Kapitel 5 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 5: „Die Bürde bringt mich fast ins Grab“
Kapitel 5
Die Bürde bringt mich fast ins Grab
Im Sommer 1847 zog Jane Manning James mit ihrem Mann Isaac und den zwei Söhnen Sylvester und Silas mit einem großen Treck von etwa fünfzehnhundert Heiligen westwärts. Die Apostel Parley Pratt und John Taylor führten den Treck mit Hilfe mehrerer Hauptleute, die jeweils für eine Abteilung von etwa hundertfünfzig bis zweihundert Heiligen zuständig waren. Nachdem Parley und John beschlossen hatten, den ursprünglichen Auswanderungsplan des Kollegiums der Zwölf zu ändern, hatten sie den Treck im späten Frühjahr zusammengestellt.
Der Treck war Mitte Juni – etwa zwei Monate nach dem Abmarsch des Vortrupps – aus Winter Quarters aufgebrochen.1 Auch wenn Jane erst in die Zwanzig war, hatte sie doch schon einige Erfahrung damit, auf dem Landweg lange Strecken zurückzulegen. Nachdem man ihr 1843 – vermutlich wegen ihrer Hautfarbe – die Fahrt mit einem Kanalboot verweigert hatte, war sie mit einer kleinen Gruppe Schwarzer unter den Heiligen an die dreizehnhundert Kilometer vom Westen des Staates New York bis Nauvoo zu Fuß gegangen. Später waren Jane und Isaac mit dem Zionslager über die morastigen Grasebenen Iowas gezogen. Jane war damals schwanger gewesen, und sie waren noch unterwegs, als ihr Sohn Silas geboren wurde.2
Der Landweg bot wenig Abwechslung. Die Tage zogen sich dahin und waren ermüdend. Für gewöhnlich war die Landschaft der Prärie trist, wenn nicht eine ungewöhnliche Felsformation oder eine Büffelherde in Sicht kam. Als Janes Abteilung einmal am Ufer des North Platte Rivers entlangzog, erschraken alle sehr, als plötzlich eine Büffelherde auf sie zustürmte. Die Abteilung zog Wagen und Vieh zusammen, während ein paar Männer die wild gewordenen Büffel anschrien und mit der Peitsche knallten. Kurz bevor die Herde die Abteilung niederzutrampeln drohte, teilte sie sich in der Mitte, und die Büffel stoben links und rechts vorbei. Am Ende war niemand zu Schaden gekommen.3
Jane, Isaac und ihre Kinder waren die einzigen Schwarzen in ihrer Abteilung von fast hundertneunzig Mann. Es gab aber in verschiedenen Gemeinden und Zweigen der Kirche noch einige weitere Schwarze. Elijah Able, ein Siebziger, der eine Mission in New York und Kanada erfüllt hatte, gehörte mit seiner Frau Mary Ann einem Zweig im Mittleren Westen an. Ein weiterer Mann, Walker Lewis, den Brigham Young als „einen der besten Ältesten“ in der Kirche bezeichnet hatte, besuchte mit seiner Familie einen Zweig an der Ostküste.4
Viele Mitglieder der Kirche lehnten die Sklaverei ab. Als Joseph Smith für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten kandidiert hatte, war die Abschaffung der Sklavenhaltung Teil seines Wahlprogramms gewesen. Die missionarischen Bestrebungen der Kirche hatten jedoch zur Taufe sowohl einiger Sklavenhalter wie auch einiger Sklaven geführt. Drei dieser Sklaven gehörten zum Vortrupp – Green Flake, Hark Lay und Oscar Crosby.5
1833 hatte der Herr gesagt, es sei nicht recht, „dass irgendjemand in der Knechtschaft eines anderen sei“. Nachdem die Heiligen aber aus dem Kreis Jackson in Missouri vertrieben worden waren – zum Teil, weil einige von ihnen gegen die Sklaverei waren und Sympathie für freie Schwarze bekundeten –, hatten Führer der Kirche die Missionare davor gewarnt, Spannungen zwischen Sklaven und Sklavenhaltern auszulösen. Die Sklaverei gehörte damals in den Vereinigten Staaten zu den am heftigsten debattierten Themen. Viele Jahre lang waren die Kirchen und das Land deshalb gespalten.6
Jane hatte ihr Leben lang im Norden der Vereinigten Staaten gelebt, wo die Sklaverei verboten war. Sie war nie Sklavin gewesen. Sie hatte bei Joseph Smith und bei Brigham Young im Haushalt gearbeitet und wusste, dass die Weißen unter den Heiligen im Allgemeinen die Schwarzen gern in die Herde aufnahmen.7 Wie andere christliche Gemeinschaften zur damaligen Zeit sahen jedoch auch viele weiße Heilige Schwarze zu Unrecht als minderwertig an. Sie waren der Meinung, die schwarze Hautfarbe sei die Folge des Fluches, mit dem Gott der Bibel nach Kain und Ham belegt hatte.8 Einige hatten sogar die falsche Ansicht verbreitet, die schwarze Hautfarbe weise auf unredliche Taten eines Menschen im vorirdischen Dasein hin.9
Brigham Young teilte zwar einige dieser Ansichten, hatte aber andererseits vor seinem Aufbruch aus Winter Quarters zu einem Heiligen gemischter Abstammung gesagt, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. „Gott hat alle Menschen aus einem Blut erschaffen“, erklärte er. „Die Farbe interessiert uns nicht.“10
Die Errichtung Zions jenseits der Rocky Mountains bot den Heiligen die Chance, eine neue Gesellschaft aufzubauen, in der Jane, ihre Familie und andere wie sie als Mitbürger und als Heilige willkommen waren.11 Doch die Vorurteile saßen tief, und eine Änderung in naher Zukunft schien unwahrscheinlich.
Am 26. August lenkte Wilford Woodruff sein Pferd durch Mais- und Kartoffelfelder zu den Gebirgsausläufern, die einen Blick über das Salzseetal boten. Von dort konnte er die Anfänge einer ansehnlichen Siedlung ausmachen. Innerhalb eines Monats hatten er und der Vortrupp an einem starken Fort gebaut, hektarweise Feldfrüchte ausgesät und Pläne für den neuen Sammlungsort gezeichnet. In der Mitte der Siedlung, dort, wo Brigham seinen Gehstock in die Erde gestoßen hatte, befand sich ein quadratisches Stück Land, das sie nun den „Tempelblock“ nannten.12
An Wilfords erstem Tag im Tal hatte es viel zu bestaunen gegeben. Eine Antilopenherde graste auf der Westseite des Tals, und Scharen von Bergziegen spielten in den Bergen. In der Nähe des Ensign Peaks hatte Wilford mit anderen Pionieren schwefelhaltige Thermalquellen entdeckt. Im Großen Salzsee hatten sich die Männer auf dem warmen, salzigen Wasser treiben lassen und waren umhergerollt wie Baumstämme. Vergebens hatten sie versucht, unter die Oberfläche zu tauchen.13
Vier Tage nach seiner Ankunft im Tal hatte sich Wilford auf seinem Pferd einige Kilometer vom Lager entfernt, als er vor sich auf einem Bergrücken zwanzig Indianer erblickte. Die Heiligen wussten, dass sie auf dem Weg in den Westen und im Großen Becken auf Indianerstämme stoßen würden. Doch hatten sie erwartet, das Salzseetal weitgehend unbewohnt vorzufinden. Tatsächlich kamen aber die Schoschonen, die Ute und ein paar weitere Stämme oft zur Jagd und Nahrungssuche ins Tal.
Behutsam wendete Wilford sein Pferd und machte sich in langsamem Trab auf den Weg zurück ins Lager. Ein Indianer galoppierte hinter ihm her. Als er nur noch hundert Meter entfernt war, hielt Wilford sein Pferd an, wandte sich dem Reiter zu und versuchte, sich in improvisierter Zeichensprache mit ihm zu unterhalten. Der Mann war freundlich. Wilford fand heraus, dass er ein Ute war, der Frieden suchte und mit den Heiligen zu handeln wünschte. Von da an knüpften die Heiligen weitere Kontakte mit den Indianern, auch mit den Schoschonen aus dem Norden.14
Jetzt, nur wenige Wochen vor der kalten Jahreszeit, planten Wilford, Brigham, Heber Kimball und einige andere aus dem Vortrupp, zu ihren Familien in Winter Quarters zurückzukehren und sie im Frühjahr in den Westen zu bringen. „Ich wünschte bei Gott, wir müssten nicht zurückkehren“, sagte Heber. „Dies ist ein Paradies für mich. Es ist einer der lieblichsten Orte, die ich je gesehen habe.“15
Nicht jeder war mit ihm wegen des Tales einer Meinung. Trotz der Bäche und grasbewachsenen Felder war die neue Siedlung trockener und trostloser als jeder andere Ort, an dem die Heiligen sich bisher gesammelt hatten. Sam Brannan hatte seit seiner Ankunft Brigham zugesetzt, er möge doch zu den grünen Feldern und dem fruchtbaren Boden an der kalifornischen Küste weiterziehen.16
„Ich bleibe genau hier“, hatte Brigham erwidert. „Hier baue ich eine Stadt. Hier baue ich einen Tempel.“ Er kannte den Willen des Herrn. Die Heiligen sollten sich im Salzseetal ansiedeln, weitab anderer Siedlungen der USA im Westen, wo sich mit Sicherheit bald weitere Auswanderer niederlassen würden. Brigham ernannte jedoch Sam zum Präsidenten der Kirche in Kalifornien und sandte ihn mit einem Brief an die Heiligen zurück in die Bucht von San Francisco.17
„Wenn ihr euch entscheidet, an eurem jetzigen Standort zu verweilen, so steht euch dies frei“, schrieb Brigham in seinem Brief. Dennoch rief er sie auf, sich den Heiligen in den Bergen anzuschließen. „Wir wollen dies zu einer Festung, einem Treffpunkt, einem Sammlungsort machen, wo man sich schneller sammeln kann als sonst irgendwo“, teilte er ihnen mit. Kalifornien dagegen sollte eine Durchgangsstation für Heilige auf dem Weg ins Salzseetal sein.18
Wilford seinerseits hatte nie einen besseren Ort für eine Stadt gesehen als das Salzseetal, und er wartete ungeduldig darauf, dass mehr Heilige dort eintrafen. Er und die Zwölf Apostel hatten den ganzen Winter damit zugebracht, eine geordnete Auswanderung zu planen, die es allen Heiligen ermöglichte, ungeachtet ihrer Situation oder ihres Vermögens den Weg ins Salzseetal zu schaffen. Jetzt war es an der Zeit, den Plan zum Nutzen Zions zu verwirklichen.19
Als Addison Pratt im März 1847 aus Tahiti aufbrach, hatte er gehofft, seine Familie bei den anderen Heiligen in Kalifornien vorzufinden. Da er aber im vergangenen Jahr weder von ihr noch von sonst jemandem in der Kirche eine Nachricht erhalten hatte, wusste er nicht, ob sie wirklich dort sein würde. „Der Gedanke, dass ich jetzt auf dem Weg zu ihnen bin, stimmt mich froh“, schrieb er in sein Tagebuch. „Doch gleich drängt sich der nächste Gedanke auf: Wo sind sie? Oder wo soll ich sie finden?“20
Im Juni erreichte Addison die Bucht von San Francisco. Dort fand er die Heiligen von der Brooklyn vor, die auf die Rückkehr Sam Brannans und die Ankunft der Hauptgruppe der Kirche warteten. In der Annahme, Louisa und ihre Kinder seien unterwegs zur Küste, erklärte Addison sich bereit, mit vier anderen Männern nach New Hope, einer Siedlung der Heiligen, zu gehen und dort den Weizen zu ernten, der für die Kirche ausgesät worden war.
Kurz darauf reiste die Gruppe mit einem Schiff ab. New Hope lag mehr als hundertfünfzig Kilometer landeinwärts an einem Nebenfluss des San Joaquin Rivers. Die Männer segelten tagelang an sumpfigem Gebiet vorbei. Hohe Rohrkolben säumten das Flussufer. Als sie sich der Siedlung näherten, wurde der Boden fester, und sie legten den übrigen Weg über die grasbewachsene Prärie zu Fuß zurück.
New Hope war ein herrlicher Anblick, doch ein Fluss in der Nähe war kurz zuvor über die Ufer getreten, hatte einen Teil des Weizens der Heiligen überschwemmt und etliche Tümpel hinterlassen, in denen das Wasser stand. Als Addison sich in der Nacht schlafen legte, fielen Stechmückenschwärme über die Siedlung her. Erfolglos versuchten Addison und die anderen, sie zu verscheuchen oder auszuräuchern. Und zu allem Übel heulten und schrien Kojoten und Eulen bis zum Morgengrauen und raubten den müden Siedlern ihren Frieden und ihre Ruhe.21
Die Weizenernte begann am nächsten Morgen. Doch Addisons schlaflose Nacht holte ihn um die Mittagszeit ein, und so machte er im Schatten eines Baumes ein Nickerchen. Dies wurde zu einer täglichen Gewohnheit, da Stechmücken und die Geräusche wilder Tiere ihn Nacht für Nacht vom Schlaf abhielten. Als die Ernte eingebracht war, freute sich Addison, wieder aufzubrechen.
„Wären die Stechmücken nicht gewesen“, schrieb er in sein Tagebuch, „hätte ich die Zeit dort genossen“.22
Wieder in der Bucht von San Francisco angekommen, machte sich Addison daran, ein Zuhause für seine Familie vorzubereiten. Inzwischen waren einige Angehörige des Mormonenbataillons in Kalifornien angekommen, wo sie ehrenhaft entlassen worden waren. Sam Brannan, noch immer überzeugt, dass es unklug von Brigham sei, sich im Salzseetal niederzulassen, war ebenfalls in die Bucht zurückgekehrt. „Wenn er es hinlänglich versucht hat“, sagte Sam zu einigen Reservisten des Bataillons, „wird er schon merken, dass ich Recht hatte und er sich geirrt hat.“
Sam überbrachte aber den Heiligen in Kalifornien Brighams Brief, und viele von denen, die mit der Brooklyn gesegelt oder mit dem Mormonenbataillon marschiert waren, beschlossen, im Frühjahr ins Salzseetal auszuwandern. Sam brachte Addison auch einen Brief von Louisa mit. Sie war noch immer in Winter Quarters, hatte aber vor, im Frühjahr ins Salzseetal zu kommen und sich dort bei der Hauptgruppe der Heiligen niederzulassen.
Addison änderte sogleich seine Pläne. Sobald der Frühling kam, wollte er mit den anderen Heiligen nach Osten aufbrechen und mit seiner Familie zusammentreffen.23
Brigham Young ging es Ende August noch immer schlecht, als er sich mit einer kleinen Gruppe aus dem Salzseetal auf den Weg zurück nach Winter Quarters machte. Die folgenden drei Tage zog der kleine Trupp rasch durch staubige Felsschluchten und über die steilen Bergpässe der Rocky Mountains.24 Als sie auf der anderen Seite ankamen, war Brigham froh zu erfahren, dass Parley Pratt und John Taylor mit einer großen Gruppe Heiliger nur wenige hundert Kilometer entfernt waren.
Kurz darauf verging ihm jedoch die Freude, als er hörte, dass die Gruppe vierhundert Wagen mehr umfasste, als er erwartet hatte. Die Zwölf Apostel hatten den ganzen Winter damit zugebracht, die Heiligen gemäß dem offenbarten Willen des Herrn in Abteilungen zu gruppieren. Nun schienen Parley und John diese Offenbarung missachtet und nach eigenem Ermessen gehandelt zu haben.25
Wenige Tage später trafen Brigham und der zurückkehrende Trupp mit dem Treck zusammen. Parley war in einer der vorderen Abteilungen. So rief Brigham schnell einen Rat mit Führern der Kirche zusammen, um Parley zu fragen, weshalb er und John den Weisungen des Kollegiums nicht gefolgt waren.26
„Wenn ich etwas falsch gemacht habe, bin ich bereit, es in Ordnung zu bringen“, erklärte Parley dem Rat. Er bestand aber darauf, dass er und John im Rahmen ihrer Vollmacht als Apostel gehandelt hätten. Hunderte Heilige waren in jenem Jahr in Winter Quarters und anderen Siedlungen entlang des Missouris gestorben. Viele Familien wollten die Gegend unbedingt verlassen, ehe weitere todbringende Zeiten anbrachen. Da einige Heilige in den von den Zwölf aufgestellten Abteilungen noch nicht abreisebereit gewesen waren, hatten er und John sich entschieden, neue Abteilungen zu bilden, um diejenigen mit aufzunehmen, die schon bereit waren.27
„Unsere Abteilungen waren tadellos zusammengestellt“, hielt Brigham dagegen, „und wenn sie nicht durchgekommen wären, wären wir für sie verantwortlich gewesen.“ Durch das Wort und den Willen des Herrn waren sie klar angewiesen worden, dass jede Abteilung „einen im Verhältnis gleichen Anteil“ an Armen und an Familien der Angehörigen des Mormonenbataillons aufnehmen sollte. Dennoch hatten Parley und John viele dieser Leute zurückgelassen.28
Brigham widersprach auch der Ansicht, dass zwei Apostel die Entscheidung des Kollegiums aufheben könnten. „Wenn das Kollegium der Zwölf etwas beschließt, liegt es nicht in der Macht zweier Apostel, sich darüber hinwegzusetzen“, sagte er. „Als wir die Maschine zum Laufen gebracht hatten, war es nicht an euch, eure Hände zwischen die Zahnräder zu stecken und das Rad anzuhalten.“29
„Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“, erklärte Parley. „Du sagst, ich hätte es besser machen können. Und wenn ich die Schuld dafür auf mich nehmen und sagen muss, dass ich es falsch gemacht habe, sage ich, ich habe es falsch gemacht. Ich bin eines Fehlers schuldig, und es tut mir leid.“
„Ich vergebe dir“, erwiderte Brigham. „Und sollte ich einmal etwas nicht richtig machen“, fügte er hinzu, „dann wünsche ich, dass jeder mich korrigiert, wenn ich mich irre, damit ich im hellen Schein des Evangeliums leben kann. Die Bürde dieses großen Volkes zu tragen bringt mich fast ins Grab.“30
Wie erschöpft Brigham war, konnte man an seinem Gesicht und seiner ausgemergelten Gestalt erkennen. „Ich sehe mich selbst als schwachen, armen kleinen Mann. Ich wurde durch Gottes Vorsehung berufen zu präsidieren“, sagte er. „Ich möchte, dass ihr mit mir geradewegs ins celestiale Reich eingeht.“
„Ich möchte wissen, ob die Brüder mit mir zufrieden sind“, sagte Parley.
„Gott segne dich für immer und ewig“, entgegnete Brigham. „Mach dir keine Gedanken mehr darüber.“31
Drusilla Hendricks und ihre Familie lagerten weiter unten am Wagenzug, als Brigham und seine Gruppe eintrafen. Während die meisten Familien der Mitglieder des Mormonenbataillons noch immer in Winter Quarters waren, hatten Familie Hendricks und einige andere ausreichend Mittel aufgebracht, um sich denen anzuschließen, die in den Westen zogen. Über ein Jahr war vergangen, seit Drusilla ihrem Sohn William bei seinem Abmarsch mit dem Bataillon hinterhergesehen hatte, und sie konnte es kaum erwarten, ihn im Salzseetal – oder schon vorher – wieder in die Arme zu schließen.32
Drusillas Abteilung war unterwegs bereits zurückkehrenden Soldaten des Bataillons begegnet. Viele Heilige warteten schon sehnsüchtig darauf, ihre Angehörigen wiederzusehen, und in den Gesichtern leuchtete Hoffnung auf, als sie die Truppen erblickten. Leider war William nicht bei ihnen.
Einen Monat später sahen sie weitere Soldaten des Bataillons. Die Männer fesselten die Heiligen mit ihren Beschreibungen des Großen Beckens und ließen sie von dem Salz kosten, das sie vom Großen Salzsee mitgebracht hatten. Doch William war auch nicht in dieser Gruppe.33
Im Laufe der nächsten Wochen mühten sich Drusilla und ihre Familie über Gebirgspfade, sie überquerten Flüsse und Bäche, erklommen steile Abhänge und lenkten ihre Wagen durch Felsschluchten. Hände, Haare und Gesicht waren von Staub und Schmutz verkrustet. Ihre Kleidung – von der langen Reise bereits abgetragen und zerschlissen – bot wenig Schutz vor Sonne, Regen und Schmutz. Als sie Anfang Oktober im Tal ankamen, waren manche in ihrer Abteilung zu krank oder zu erschöpft, um jubeln zu können.34
Über eine Woche verging, nachdem Drusilla und ihre Familie das Tal erreicht hatten, und noch immer hatten sie nichts von William gehört. Als das Bataillon an der kalifornischen Küste angekommen war, waren einige Reservisten dort geblieben, weil sie dort arbeiten und Geld verdienen wollten. Andere waren ostwärts Richtung Salzseetal oder Winter Quarters aufgebrochen. Soweit Drusilla wusste, konnte sich William überall zwischen dem Pazifik und dem Missouri befinden.35
Der Winter stand vor der Tür, und Drusilla und ihre Familie hatten so gut wie keine warme Kleidung, kaum etwas zu essen und waren nie und nimmer in der Lage, ein Haus zu bauen. Ihre Situation war trostlos, doch sie vertraute auf Gott, dass alles gut werden würde. Wie Wilford Woodruff ein paar Monate zuvor träumte Drusilla eines Nachts von dem Tempel, den die Heiligen im Tal errichten sollten. Auf dem Tempel stand Joseph Smith. Er sah genauso aus wie zu Lebzeiten. Drusilla rief ihren Mann und ihre Kinder zu sich und sagte: „Da ist Joseph.“ Der Prophet unterhielt sich mit ihnen, und zwei Tauben flogen zu Drusilla und ihrer Familie herab.
Als Drusilla aus dem Traum erwachte, glaubte sie, dass die Tauben den Geist des Herrn darstellten – ein Zeichen, dass Gott die Entscheidungen, die sie und ihre Familie getroffen hatten, guthieß. Sie war überzeugt, dass ihre Opfer nicht unbemerkt geblieben waren.
Später an jenem Tag erreichte eine Gruppe Reservisten des Bataillons mit wundgelaufenen Füßen das Tal. Dieses Mal war William dabei.36
Während sich Familie Hendricks im Salzseetal über das Wiedersehen freute, war Brigham mit dem zurückkehrenden Trupp immer noch gen Osten unterwegs. Sie waren schnell vorangekommen, aber nun waren sie erschöpft, und der Proviant wurde knapp. Die Pferde wurden schwächer und konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Morgens konnten einige der Tiere nicht mehr ohne Hilfe aufstehen.37
Trotz all dieser Schwierigkeiten ließ Brigham sein Gespräch mit Parley keine Ruhe.38 Er hatte seinem Bruder im Apostelamt zwar vergeben und ihm gesagt, er solle die Sache vergessen. Doch ihre Meinungsverschiedenheit ließ erkennen, dass Klärungsbedarf bestand und man möglicherweise etwas daran ändern musste, wie die Kirche derzeit geführt wurde und strukturiert war.
Zur Zeit Josephs hatte eine Erste Präsidentschaft über die Kirche präsidiert. Nach Josephs Tod hatte sich die Erste Präsidentschaft jedoch aufgelöst, und stattdessen präsidierten die Zwölf Apostel. Einer Offenbarung nach zu schließen besaß das Kollegium, das die Zwölf Apostel bildeten, die gleiche Vollmacht wie die Erste Präsidentschaft. Die Apostel hatten jedoch auch die heilige Pflicht, als reisender Rat das Evangelium in die Welt zu tragen.39 Konnten sie diesen Auftrag als Kollegium hinreichend erfüllen, während sie nach wie vor die Aufgaben der Ersten Präsidentschaft auf sich nahmen?
Hin und wieder hatte Brigham darüber nachgedacht, die Erste Präsidentschaft neu zu bilden. Er hatte jedoch nie den Eindruck gehabt, dass die Zeit dafür reif sei. Seit sie das Salzseetal verlassen hatten, bedrückten ihn Fragen, wie die Kirche in Zukunft geführt werden solle.40 Auf dem Weg nach Winter Quarters sann er still für sich über diese Fragen nach. Aber er spürte zunehmend, dass der Heilige Geist ihn zum Handeln drängte.
Als sie eines Tages an einem Fluss Rast machten, fragte er Wilford Woodruff, ob die Kirche Mitglieder des Rates der Zwölf Apostel als neue Erste Präsidentschaft berufen solle.
Wilford ließ sich die Frage durch den Kopf gehen. Änderungen beim Kollegium der Zwölf Apostel – einem durch Offenbarung eingesetzten Kollegium – waren eine ernstzunehmende Angelegenheit.
„Eine Offenbarung ist wohl nötig, um die Ordnung dieses Kollegiums zu ändern“, meinte Wilford. „Wozu der Herr dich in dieser Angelegenheit auch inspirieren mag, ich bin an deiner Seite.“41