„Inspiration aus der göttlichen Quelle“, Kapitel 42 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020
Kapitel 42: „Inspiration aus der göttlichen Quelle“
Kapitel 42
Inspiration aus der göttlichen Quelle
Anfang Januar 1892 trafen sich Zina Young und Emmeline Wells in Salt Lake City mit anderen Schwestern vom Hauptausschuss der Frauenhilfsvereinigung, um zum fünfzigsten Jahrestag der Frauenhilfsvereinigung eine Jubiläumsfeier zu planen. Der Ausschuss hatte den Wunsch, dass die Frauen der Kirche in aller Welt diesen Tag mitfeiern konnten, und so sandte man jeder Frauenhilfsvereinigung ein Schreiben, in dem man sie zu einer eigenen Jubiläumsfeier ermunterte.1
Nach einem herzlichen Gruß an alle Schwestern wurden die einzelnen FHV-Leitungen in dem Brief gebeten, die Schwestern und die Priestertumsführer zur jeweiligen Jubiläumsfeier einzuladen und ein Komitee mit der Planung zu beauftragen. Jede Feier sollte am 17. März, dem Gründungstag der Frauenhilfsvereinigung von Nauvoo, um zehn Uhr morgens stattfinden. Nach zwei Stunden sollte man zu einem gemeinsamen „Gebet des Lobes und der Danksagung“ zusammenkommen.2
Zina stützte sich bei dem Anliegen, die Jubiläumsfeier in Salt Lake City zu allseitiger Zufriedenheit zu organisieren, verstärkt auf Emmeline, und Anfang März hatte diese bereits alle Hände voll zu tun. „Ich gebe mein Möglichstes, um die Feier vorzubereiten“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „Ich bin beschäftigt wie nie zuvor.“3
Der Hauptausschuss hatte vor, die Jubiläumsfeier in Salt Lake City im Tabernakel abzuhalten. Als Dekoration wollte man große Porträts von Joseph Smith, Emma Smith, Eliza R. Snow und Zina Young hinter dem Rednerpult aufhängen.4
Da Emma Smith, die erste Präsidentin der Frauenhilfsvereinigung, in Illinois geblieben und sich der Reorganisierten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angeschlossen hatte, hielten es einige für unpassend, ihr Porträt im Tabernakel anzubringen. Als sich die Diskussion zuspitzte, bat Zina Präsident Wilford Woodruff um seine Meinung, ob man das Bild aufhängen dürfe. „Wer dagegen ist, muss schon sehr engstirnig sein“, entgegnete er.5
Am Tag der Jubiläumsfeier waren alle vier Porträts an den Orgelpfeifen im Tabernakel befestigt. Daneben befand sich ein Blumengesteck in Form eines Schlüssels, zur Erinnerung an den Schlüssel, den Joseph Smith 1842 für alle Frauen umgedreht hatte.6 Zina und Emmeline saßen mit Bathsheba Smith, Sarah Kimball, Mary Isabella Horne und weiteren Frauen, die die Mission der Frauenhilfsvereinigung in den vergangenen fünfzig Jahren vorangebracht hatten, auf dem Podium. Tausende Frauen, die der Frauenhilfsvereinigung angehörten, drängten sich im Tabernakel. Auch ein paar Männer waren anwesend, darunter Joseph F. Smith und zwei der Zwölf Apostel.7
Zur Eröffnung der Jubiläumsfeier wies Zina darauf hin, dass soeben sämtliche Frauen in der Kirche diesen Gedenktag begingen. „O wenn doch alle Menschen meine Worte vernehmen könnten“, sagte sie, „nicht nur ihr, meine Brüder und Schwestern hier im Tabernakel und in ganz Utah, sondern wenn mich alle auf diesem Kontinent hören und verstehen könnten, und nicht nur auf diesem Kontinent, sondern auch in Europa, in Asien, in Afrika und auf den Inseln des Meeres!
Als Schwestern dieser Organisation hat man uns dazu eingesetzt, den Kranken und Bedrängten und den Armen und Notleidenden Trost zu spenden“, sagte sie weiter. „Wenn wir mit all dem in diesem Sinne fortfahren, so wird uns der Herr an dem Tag, da er seine Juwelen herrichtet, annehmen.“
„Was aber bedeutet nun dieser Gedenktag für Frauen?“, fragte Emmeline die Versammelten am Ende der Feier. „Er bedeutet nicht nur, dass diese Organisation vor fünfzig Jahren von einem Propheten Gottes gegründet worden ist, sondern dass sich die Frauen vom Irrtum, vom Aberglauben und von der Finsternis befreit haben – dass Licht in die Welt gekommen ist und dass das Evangelium die Frauen frei gemacht hat, dass der Schlüssel der Erkenntnis umgedreht worden ist und dass die Frauen aus der göttlichen Quelle Inspiration getrunken haben.“8
Etwa um diese Zeit besuchte Charles Eliot, der Präsident der Harvard-Universität, die westlichen Bundesstaaten. Dabei kam er auch nach Salt Lake City. Charles war von der kleinen Gruppe Heiliger der Letzten Tage, die seit dem vorigen Jahr in Harvard studierten, beeindruckt, und war der Bitte nachgekommen, im Tabernakel zu sprechen.
Siebentausend Zuhörer lauschten seinem kurzen Vortrag. Charles war ein Verfechter der Religionsfreiheit und lobte die harte Arbeit und den Fleiß der Heiligen. Er verglich sie sogar mit den ersten Siedlern aus England, die Harvard gegründet hatten.9 Als die Salt Lake Tribune und weitere Zeitungen kritisierten, dass er derart positiv über die Heiligen sprach, trat er erneut für sie ein.
„Man sollte sie, was das Recht auf Eigentum und die Gedanken- und Religionsfreiheit betrifft, genauso behandeln wie die Katholiken, die Juden, die Methodisten und jegliche andere Konfession“, erklärte er.10
Im Publikum befanden sich auch Anna Widtsoe, ihre Schwester Petroline und Annas vierzehnjähriger Sohn Osborne. Annas älterer Sohn John war nun schon vor fast einem Jahr nach Harvard aufgebrochen, und dieser hervorragende Redner, der so viel von den dort studierenden Heiligen der Letzten Tage hielt, begeisterte sie.11
Die Widtsoes wohnten inzwischen bei Petroline und gehörten der Gemeinde Salt Lake City 13 an. In diese Gemeinde gingen viele Heilige aus Skandinavien, und so waren in der Zeugnisversammlung etliche Sprachen zu hören. Osborne arbeitete in dem Laden der städtischen Handelsgenossenschaft ZCMI an der Hauptstraße, Anna und Petroline verdienten Geld als Schneiderinnen. Osborne und seine Mutter besuchten außerdem die wöchentlichen Vorlesungen an der Akademie ihres Pfahls.12
Am ersten Aprilwochenende schneite es in Salt Lake City, als wäre es tiefster Winter. Am Mittwoch, dem 6. April, war der Morgen jedoch hell und klar. Gemeinsam mit über vierzigtausend weiteren Zuschauern auf dem Tempelplatz und um ihn herum erlebten Anna und Osborne mit, wie an der Spitze des mittleren Turms an der Ostseite der Schlussstein des Salt-Lake-Tempels angebracht wurde. Der kuppelförmige Stein sollte die fast vier Meter hohe, von Cyrus Dallin erschaffene Engelsstatue tragen, die später am Tag noch daran befestigt werden sollte. Waren der Schlussstein und der Engel erst einmal an Ort und Stelle, war der Tempel von außen fertig, und es fehlte dann vor der Weihung nur noch der Innenausbau.13
Unzählige kleine Kutschen füllten die Straßen rund um den Tempel. Manche Zuschauer standen auf ihrem Wagen, kletterten auf einen Telegrafenmast oder erklommen ein Dach, um besser sehen zu können.14 Aus dem Gewühl der Menschenmassen heraus sahen die Widtsoes Präsident Wilford Woodruff und weitere Führer der Kirche auf einem Podest am Fuße des Tempels.
Nachdem eine Kapelle gespielt und der Tabernakelchor gesungen hatte, sprach Joseph F. Smith das Anfangsgebet. Dann rief Joseph Don Carlos Young, Architekt der Kirche und Sohn von Brigham Young und Emily Partridge, vom Gerüst an der Spitze des Tempels herab: „Der Schlussstein kann nun gelegt werden!“15
Präsident Woodruff ging zum Rand des Podests, schaute auf die Heiligen und hob seine Arme empor. „All ihr Nationen der Erde!“, rief er. „Wir legen nun den Schlussstein des Tempels unseres Gottes!“ Er betätigte einen Knopf, woraufhin elektrisch ein Riegel gelöst wurde und der Schlussstein an seinen Platz hinabsank.16
Danach ließen die Heiligen den Hosannaruf erschallen und sangen das Lied „Der Geist aus den Höhen, gleich Feuer und Flammen“. Dann sprach Apostel Francis Lyman zur Menschenmenge. „Ich schlage vor, dass sich alle Versammelten sowohl gemeinsam als auch einzeln dazu verpflichten, so bald wie nötig das gesamte Geld bereitzustellen, das wir brauchen, um den Tempel so schnell wie möglich fertigstellen und die Weihung am 6. April 1893 durchführen zu können“, sagte er.
Das vorgesehene Datum war auch der vierzigste Jahrestag der Ecksteinlegung für den Tempel durch Brigham Young. George Q. Cannon legte den Heiligen den Vorschlag zur Bestätigung vor, und diese hoben die rechte Hand und riefen: „Ja!“17
Francis gelobte, eine großzügige Summe für die Fertigstellung des Tempels zu spenden. Anna versprach fünf Dollar für sich selbst und zehn für Osborne. Da sie wusste, dass auch John etwas geben würde, versprach sie außerdem weitere zehn Dollar in seinem Namen.18
Im Frühjahr besuchte Joseph F. Smith den dreiundsechzigjährigen James Brown. Als junger Mann war James im Mormonenbataillon mitmarschiert und hatte später mit Addison und Louisa Pratt, Benjamin Grouard und anderen in Tahiti und den umliegenden Inseln eine Mission erfüllt. Als Missionar auf dem Anaa-Atoll war James allerdings 1851 fälschlicherweise der Aufwiegelung bezichtigt, verhaftet und nach Tahiti gebracht worden, wo man ihn eingesperrt und schließlich von den Inseln verbannt hatte.19 Die Regierung hatte auch die übrigen Missionare zum Aufbruch gezwungen, und die Mission war seitdem geschlossen.
Nun, etwa vierzig Jahre später, weiteten die Führer der Kirche die Missionsarbeit im südlichen Pazifik aus. Im Juli 1891 hatte die Samoanische Mission die beiden jungen Ältesten Brigham Smoot und Alva Butler nach Tonga geschickt, um dort zu predigen. Ein halbes Jahr später nahmen zwei Missionare aus derselben Mission, Joseph Damron und William Seegmiller, die Arbeit in Französisch-Polynesien wieder auf und predigten unter den Heiligen in und um Tahiti, die so lange von der Kirche getrennt gewesen waren.20
Allerdings ging es Joseph Damron nicht gut, und er und William mussten feststellen, dass sich fast alle Heiligen dort der Reorganisierten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage angeschlossen hatten, die vor einigen Jahren Missionare in den Südpazifik entsandt hatte. Beide waren der Meinung, dass jemand mit mehr Erfahrung gebraucht wurde, die Missionsarbeit dort zu leiten.21
Bei James in Salt Lake City holte Joseph F. Smith einen Brief hervor, den ihm die Missionare aus Tahiti geschrieben hatten. „Was hältst du von einer weiteren Mission auf den Gesellschaftsinseln?“, fragte er James.
„Ich möchte nicht, dass mich irgendwer auf irgendeine Mission beruft“, entgegnete dieser.22 James war inzwischen alt geworden, und er hatte drei Frauen und viele Enkel und Urenkel. Seine Gesundheit war stark angeschlagen. Vor ein paar Jahren hatte er bei einem Unfall mit einer Schusswaffe ein Bein verloren. Für jemanden in seiner Verfassung war eine solche Aufgabe im Südpazifik ein gewaltiges Unterfangen.
Joseph F. Smith überreichte James das Schreiben und bat ihn, es zu lesen. Dann brach er auf, versprach aber, am nächsten Tag zurückzukommen und sich anzuhören, was James davon hielt.23
James las den Brief. Die jungen Missionare hatten offensichtlich große Mühen. James war der einzige noch lebende der ersten Missionare dort, und da er die Menschen und die Sprache kannte, würde er viel Gutes bewirken können. Wenn die Erste Präsidentschaft ihn also darum bat, sich in den Pazifikraum zu begeben, würde er dem Folge leisten. Er war davon überzeugt, dass Gott ihn nicht um etwas bitten würde, ohne ihm auch die Fähigkeit zu geben, es zu bewerkstelligen.24
Als Joseph F. Smith am nächsten Tag zurückkehrte, nahm James die Missionsberufung an. Ein paar Wochen später verabschiedete er sich von seiner Familie, und gemeinsam mit seinem Sohn Elando, der an seine Seite berufen worden war, brach er auf.
James, Elando und ein weiterer Missionar erreichten Tahiti im Monat darauf. Elder Damron und Elder Seegmiller brachten die neuen Missionare zu einem Einheimischen namens Tiniarau, der für James und seinen Sohn ein Bett bereitstellte. Nach der anstrengenden Reise verließ James das Zimmer tagelang nicht.25
Aber es dauerte nicht lange, da kamen Besucher. Ein Mann aus Anaa sagte, er habe James an seiner Stimme erkannt. Anderen würde es ebenso ergehen, meinte er, auch wenn sie ihn vom Aussehen her nicht wiedererkannten. Einige der Besucher waren noch gar nicht geboren, als James einst nach Hause gesegelt war, freuten sich aber, ihn kennenzulernen. Eine ältere Frau erkannte ihn und schüttelte seine Hand so lange, dass er schon befürchtete, sie würde nie wieder loslassen. Wie er erfuhr, hatte sie sich auf Anaa befunden, als die französischen Beamten ihn verhaftet und von dem Atoll auf ein Kriegsschiff gebracht hatten.
Eines Abends traf James auf einen weiteren Mann aus Anaa namens Pohemiti, der sich ebenfalls an ihn erinnerte. Pohemiti hatte sich der Reorganisierten Kirche angeschlossen, freute sich aber, James wiederzusehen, und brachte ihm etwas zu essen. Falls er nach Anaa gehen sollte, versprach er dem Missionar, würden die Menschen dort auf ihn hören.26
An der Harvard-Universität erhielt John Widtsoe ständig Briefe von seiner Mutter und seinem Bruder aus Salt Lake City. Neben vielen guten Ratschlägen enthielten sie auch stets Worte zur Aufmunterung. „Mama sagt, du musst in Chemie vorsichtig sein“, schrieb Osborne eines Tages. „Sie hat gelesen, dass ein Professor beide Augen verloren hat, weil etwas explodiert ist oder so.“27
„Dir wird es schon gutgehen“, versicherte ihm Anna. „Setze alles daran, jedermann Gutes zu tun – mit allem, was du hast und einst haben wirst. Auf diese Weise dienst du ihm, dem Schöpfer alles Guten, der niemals müde wird, für seine Kinder alles besser und schöner zu machen.“28
Als John vor einem Jahr mit einer von Pferden gezogenen Straßenbahn in Harvard angekommen war, hatten ihn Geschichte und Tradition der Schule in Staunen versetzt. Nachts träumte er davon, sich alles Wissen der Welt anzueignen, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, wie lange es wohl dauern würde, jedes Fach zu meistern.
Als er sich dann aber auf die Aufnahmeprüfungen im Herbst vorbereitete, fand er den Umfang des Lernstoffs überwältigend. Immer wieder verließ er die Universitätsbibliothek mit den Armen voller Bücher, in die er sich dann vertiefte. Allmählich wurde ihm bewusst, wie schwierig es werden würde, auch nur ein Fach voll und ganz zu beherrschen, und da verließ ihn beinahe der Mut. Konnte er, ein armer Einwanderer aus Norwegen, überhaupt mit seinen Kommilitonen mithalten? Viele hatten an den besten Privatschulen im ganzen Land eine erstklassige Erziehung und Ausbildung genossen. Hatte seine Erziehung in Utah ihn auf das Bevorstehende vorbereitet?
Zu diesen Ängsten gesellte sich in den ersten Monaten Heimweh hinzu, und John erwog ernsthaft, nach Hause zurückzukehren. Er entschloss sich dann jedoch zu bleiben und bestand schließlich die Aufnahmeprüfungen, darunter auch in Englisch, obwohl dies nicht seine Muttersprache war.
Bald hatte John das erste Studienjahr hinter sich und mehr Selbstvertrauen. Zusammen mit ein paar anderen jungen Männern aus der Kirche, die in Harvard und an benachbarten Hochschulen studierten, wohnte er in einem Mietshaus. Nach vielen Gebeten beschloss er, den Schwerpunkt seines Studiums auf Chemie zu legen. Zu den Studenten aus der Kirche gehörten angehende Wissenschaftler, einige wollten aber auch Ingenieur, Jurist, Mediziner, Musiker, Architekt oder Geschäftsmann werden. Wie so viele Studenten debattierten die jungen Männer oft voller Leidenschaft über akademische Fragestellungen.29
Im Juli 1892 besuchte James Talmage Boston. Auch er war Chemiker und überdies ein angesehener Gelehrter der Kirche. Er wollte sich für eine Universität der Kirche in Salt Lake City Laborgeräte ansehen und sie dann besorgen.30 Eine Freundin und ehemalige Klassenkameradin von James, Susa Gates, kam ebenfalls nach Harvard und besuchte den Sommer über einen Englischkurs.
John fiel auf, wie redegewandt und schreibbegabt sie war. Sie wiederum war beeindruckt von seiner kultivierten Art und seinem Kunstsinn, und so freundeten sie sich rasch an. „Es gibt hier einen jungen Mann, der gut aussieht und außerdem ruhig, fleißig und zurückhaltend ist“, schrieb Susa ihrer Tochter Leah, die sich ungefähr in Johns Alter befand. „Er hat einen vorzüglichen Charakter und ist tatsächlich der beste Student hier. Ich glaube, er würde dir gefallen.
Zwar bezweifle ich, dass er tanzen kann“, ergänzte Susa ein wenig bekümmert, „aber sein Verstand ist wie der von James Talmage, und für meinen Geschmack kommt noch ein hübsches Gesicht dazu.“31
Nachdem sich Lorena Larsen und ihre Kinder über zwei Jahre lang hatten versteckt halten müssen, besaßen sie nun wieder ein eigenes Haus und lebten in Monroe in Utah in der Nähe von Lorenas Mann Bent und dessen erster Frau Julia.32 Doch obwohl Monroe Lorenas Heimatort war, kam sie sich dort manchmal unerwünscht vor.
Überall in der Kirche lebten weiterhin viele Familien in Mehrehe, so wie sie es immer getan hatten, und waren überzeugt, Gottes Willen zu tun. Es gab in Monroe allerdings auch Mitglieder der Kirche, die meinten, es sei Sünde, wenn ein Mann mit seinen weiteren Frauen weiterhin Kinder bekam. Als Lorenas Bekannte und Angehörige mitbekamen, dass sie erneut schwanger war, begegneten ihr manche mit unverhohlener Verachtung.
Bents Mutter befürchtete, wegen Lorena würde ihr Sohn wieder im Gefängnis landen. Lorenas Schwester meinte, eine schwangere Frau in einer Mehrehe wäre nicht besser als eine Ehebrecherin. Und eines Tages kam Lorenas eigene Mutter vorbei, die auch die Leiterin der Frauenhilfsvereinigung ihrer Gemeinde war, und tadelte sie dafür, dass sie ein weiteres Kind von Bent bekam.33
Als Bent am gleichen Abend vom Holzhacken für Lorena und die Kinder zu ihr kam, berichtete sie ihm, was ihre Mutter gesagt hatte. Aber statt für Lorena Mitgefühl aufzubringen, stimmte Bent seiner Schwiegermutter zu. Er hatte mit Freunden darüber gesprochen, und sie waren zu dem Schluss gekommen, ein Mann mit mehreren Frauen habe keine Wahl und müsse bei seiner ersten Frau bleiben und sich von den anderen trennen. Er und Lorena würden zwar gesiegelt bleiben, aber bis zum nächsten Leben warten müssen, bis sie zusammen sein konnten.
Lorena brachte kaum ein Wort heraus. Seit dem Manifest hatte Bent ihr immer wieder versichert, er würde sie niemals im Stich lassen. Nun ließ er sie und die Kinder doch auf sich alleine gestellt, und das nur Wochen vor der Geburt.
Die ganze Nacht hindurch diskutierten die beiden. Als Lorena zu weinen begann, meinte Bent, ihre Tränen könnten an den Tatsachen auch nichts ändern.34
„Wenn ich nicht wüsste, dass du glaubst, damit Gott zu dienen, könnte ich dir niemals verzeihen“, sagte Lorena zu Bent.
Nachdem er gegangen war, betete Lorena um Kraft und Weisheit. Als morgens die ersten Sonnenstrahlen über die Berge züngelten, suchte sie Bent in einem Stall hinter Julias Haus auf und erklärte ihm, er müsse zumindest für sie da sein, bis das Kind geboren war. Danach, sagte sie, könne er gehen, wohin er wolle. Nun war Gott ihr einziger Freund, und sie würde ihn um Hilfe bitten.35
Zwei Wochen später brachte Lorena eine Tochter zur Welt. Fünf Tage später träumte Lorena von ihrem Tod. Angsterfüllt fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Konnte sie darauf vertrauen, dass sich Bent im Falle ihres Todes um die Kinder kümmerte? Während der Schwangerschaft hatte er für sie und die Kinder gesorgt, wie er es versprochen hatte. Allerdings sprach er kaum mit ihnen, und wenn, dann hatten sie bei seinen flüchtigen, gehetzten Besuchen das Gefühl, als hätte an diesem Abend ein Fremder vorbeigeschaut.
Lorena erzählte Bent von ihren Vorahnungen, aber er tat sie ab. „Das war doch nur ein Traum“, sagte er. Die innere Unruhe verließ Lorena nicht, und im nächsten Monat betete sie oft und versprach dem Herrn, ihre Prüfungen und Bedrängnisse geduldig zu ertragen und nichts unversucht zu lassen, sein Werk voranzubringen – auch die Tempelarbeit.36
Fünf Wochen nach Lorenas Traum verhaftete ein Marshal sie und Bent wegen rechtswidrigen Zusammenlebens. Gegen eine Kaution ließ das Gericht beide wieder gehen, erwartete aber, dass Lorena bei dem Verfahren gegen Bent später im Jahr gegen ihn aussagen würde.
Die Verhaftung und die Verachtung, die ihr von ihrer Familie und ihren Freunden entgegenschlug, waren für Lorena zu viel. Sie wusste nicht weiter und schüttete dem Apostel Anthon Lund, seines Zeichens Präsident des Manti-Tempels, ihr Herz aus. Als Anthon sich ihre Geschichte anhörte, begann er zu weinen. „Geh nur weiter gerade deinen Weg und achte nicht auf den Spott und Hohn aller anderen“, riet er ihr. „Alles wird gut werden.“37
Lorena hörte auf den Apostel und versuchte, alles hinter sich zu lassen. Der beängstigende Traum und all die Gebete, die er nach sich gezogen hatte, ließen sie geduldiger werden. Sie konnte ihre Prüfungen besser ertragen und war dem Herrn für ihr Leben dankbarer. Bent sah außerdem ein, welches Leid er durch seine Nachlässigkeit verursacht hatte, und so beschlossen die beiden letzten Endes, doch zusammen zu bleiben, auch wenn dies nie einfach werden würde.
Im September bekannte sich Bent der rechtswidrigen Lebensgemeinschaft schuldig, und ein Richter verurteilte ihn zu einer einmonatigen Gefängnisstrafe. Die Strafe war weniger streng als vor einigen Jahren, als Bent wegen ähnlicher Anschuldigungen sechs Monate im Gefängnis verbracht hatte. Tatsächlich fielen die Verurteilungen wegen rechtswidriger Lebensgemeinschaft seit dem Manifest oft deutlich milder aus als zuvor. Lorena und Bent wurde allerdings bewusst, dass die Folgen ihres weiteren Zusammenlebens schwer zu erdulden sein konnten.38
Dieses Risiko auf sich zu nehmen war das Paar aber nun bereit.