Geschichte der Kirche
43 Nie war Einigkeit so nötig


„Nie war Einigkeit so nötig“, Kapitel 43 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2020

Kapitel 43: „Nie war Einigkeit so nötig“

Kapitel 43

Nie war Einigkeit so nötig

Zwei Männer reichen einander die Hand

Im September 1892 trafen Francis Lyman und Anthon Lund in St. George ein. Schon einige Wochen lang hatten die zwei Apostel Gemeinden im mittleren und südlichen Utah besucht und den Heiligen Rat erteilt. Kurz vor der Fertigstellung des Salt-Lake-Tempels hatten die Erste Präsidentschaft und die Zwölf Apostel die Heiligen zu mehr Einigkeit aufgerufen. Doch statt Harmonie und gegenseitiges Wohlwollen vorzufinden, trafen Francis und Anthon auf ihrer Rundreise oftmals auf Gemeinden und Zweige, in denen sich Zwietracht ausgebreitet hatte. St. George bildete da keine Ausnahme.1

Ein Großteil der Streitigkeiten hatte seinen Ursprung in der Politik. Jahrzehntelang hatten die Heiligen in Utah für die örtlichen Kandidaten der People’s Party gestimmt, einer politischen Partei, die hauptsächlich aus Mitgliedern der Kirche bestand. Doch 1891 lösten Führer der Kirche die People’s Party auf und empfahlen den Heiligen, sich entweder den Demokraten oder den Republikanern zuzuwenden – den beiden Parteien, die in der Politik der Vereinigten Staaten die Vorherrschaft hatten. Sie erhofften sich mehr Einfluss bei regionalen Wahlen und in Washington, wenn die Heiligen politisch größere Vielfalt zeigten. Außerdem dachten sie, dass Vielfalt der Kirche helfen werde, bestimmte Ziele zu erreichen, wie etwa die Eigenstaatlichkeit Utahs oder einen allgemeinen Straferlass für diejenigen Heiligen, die vor dem Manifest eine Mehrehe eingegangen waren.2

Dies hatte jedoch zur Folge, dass sich die Heiligen zum ersten Mal in hitzige Debatten über unterschiedliche politische Ansichten verstrickten.3 Der Konflikt beunruhigte Wilford Woodruff, und so forderte er die Heiligen bei der Generalkonferenz im April 1892 eindringlich auf, das Gezanke einzustellen.

„Jeder Mensch – ob Prophet, Apostel, Heiliger oder Sünder – hat auf seine politische Überzeugung ebenso ein Anrecht wie auf seine religiösen Ansichten“, stellte er klar. „Bewerft euch nicht gegenseitig mit Schmutz und Unfug, nur weil ihr in politischen Fragen unterschiedlicher Auffassung seid!

Ein solches Verhalten richtet uns zugrunde“, warnte er.4

In St. George und andernorts waren die meisten Heiligen geneigt, sich der Demokratischen Partei zuzuwenden, da vor allem die Republikanische Partei den Feldzug gegen die Polygamie und die Kirche angeführt hatte. In vielen Ortschaften war die herrschende Meinung, ein guter Heiliger der Letzten Tage könne niemals ein Republikaner sein.5

Wilford Woodruff und andere Führer der Kirche hielten diese Ansicht jedoch für bedenklich, zumal das Land derzeit von Republikanern regiert wurde.6 Als Anthon und Francis genauer über die Lage in St. George informiert waren, wollten sie den Heiligen zu der Erkenntnis verhelfen, dass man politisch durchaus unterschiedlicher Meinung sein kann, ohne Verbitterung oder gar Spaltung in der Kirche zu erzeugen.

Bei einer Priestertumsversammlung am Nachmittag wies Francis die Männer darauf hin, dass die Kirche Mitglieder in beiden politischen Lagern brauche. „Wir wollen nicht, dass ein gestandener Demokrat die Seiten wechselt“, beschwichtigte er. Wenn ein Heiliger sich den Demokraten aber nicht so sehr verbunden fühle, könne er durchaus erwägen, sich den Republikanern anzuschließen. „Bei näherer Betrachtung gibt es zwischen den beiden Parteien viel weniger Unterschiede, als man zunächst meint“, stellte er fest.7

Francis brachte sodann zum Ausdruck, wie sehr er alle Heiligen schätzte, ganz unabhängig von ihren politischen Ansichten. „Wir dürfen keine Bitterkeit gegeneinander in unser Herz dringen lassen“, betonte er.8

Zwei Tage darauf besuchten Francis und Anthon den St.-George-Tempel und beteiligten sich an Taufen, Endowments und anderen heiligen Handlungen. Eine erbauliche Stimmung durchwehte das ganze Gebäude.9

Genau diese Stimmung brauchten die Heiligen jetzt, da sie sich darauf vorbereiteten, dem Herrn einen weiteren Tempel zu weihen.


In Salt Lake City arbeiteten derweil Zimmerleute, Elektriker und weitere Handwerker eifrig im Inneren des Salt-Lake-Tempels, damit er rechtzeitig für die Weihung im April 1893 fertig wurde. Am 8. September besichtigte die Erste Präsidentschaft das Gebäude zusammen mit dem Architekten Joseph Don Carlos Young und anderen. Sie gingen von Raum zu Raum und begutachteten die laufenden Arbeiten. Dabei zeigten sich die Mitglieder der Präsidentschaft zufrieden mit dem, was sie sahen.

„Alles ist sehr formvollendet gestaltet“, hielt George Q. Cannon in seinem Tagebuch fest.

Besonders beeindruckte George die moderne Technik im Tempel. „Es ist schon erstaunlich, welche Veränderungen es seit der allerersten Planung infolge verschiedener Erfindungen gegeben hat“, schrieb er. Truman Angell, der ursprüngliche Architekt des Tempels, hatte noch vor, den Tempel mit Öfen zu heizen und mit Kerzen zu beleuchten. Der technische Fortschritt ermöglichte den Heiligen nun den Einbau elektrischen Lichts und einer dampfbetriebenen Heizungsanlage im gesamten Gebäude. Es wurden auch zwei Aufzüge eingebaut, damit die Besucher leicht von einem Stockwerk ins nächste gelangten.10

Die Gelder für den Bau waren jedoch erschöpft, und einige hatten Zweifel, dass die Kirche über genügend Mittel verfügte, den Tempel in den verbliebenen sechs Monaten vor der Weihung fertigzustellen. 1890 hatte die Erste Präsidentschaft damit begonnen, erhebliche Beträge in eine Zuckerrübenfabrik südlich von Salt Lake City zu investieren. Man wollte damit den ortsansässigen Farmern zu einem einträglichen Geschäft mit ihrer Ernte verhelfen und neue Arbeitsplätze schaffen. Niemand sollte mangels Arbeit aus Utah wegziehen müssen. Diese Investition band wertvolles Kapital. Hinzu kam noch der Verlust des von der Regierung beschlagnahmten Eigentums der Kirche. So fehlten den Führern der Kirche die Mittel, die sie für die Abschlussarbeiten am Tempel hätten gebrauchen können.11

Frauenhilfsvereinigungen, Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigungen, Primarvereinigungen und Sonntagsschulen sammelten Spenden für den Tempelfonds und versuchten so, die finanzielle Belastung zu verringern. Doch das reichte bei weitem nicht aus.

Am 10. Oktober kamen in dem großen, zum Teil bereits fertigen Versammlungsraum im oberen Stockwerk des Tempels die Erste Präsidentschaft und das Kollegium der Zwölf Apostel mit anderen Führern der Kirche zusammen, darunter Pfahlpräsidenten und Bischöfe. Das Treffen hatte zum Ziel, örtliche Führer der Kirche für die Mithilfe bei der Sammlung von Geldern für den Tempel zu gewinnen.12

Gleich nach der Eröffnung der Versammlung durch George Q. Cannon ergriff John Winder, Ratgeber in der Präsidierenden Bischofschaft, das Wort. Er informierte die Anwesenden, dass die Vollendung des Tempels mindestens weitere 175.000 Dollar kosten werde. Die Inneneinrichtung käme noch hinzu.

Wilford Woodruff unterstrich seinen ernsthaften Wunsch, den Tempel planmäßig fertig zu bekommen. Anschließend redete George den Anwesenden zu, doch bitte ihren Einfluss zu nutzen, um die erforderlichen Mittel aufzubringen. Von jedem Pfahl wurde erwartet, einen bestimmten Betrag zu sammeln, der sich an der Anzahl der Mitglieder und den finanziellen Möglichkeiten der einzelnen Familien orientierte.

Der Heilige Geist drang den Männern ins Herz, und sie sagten ihre Unterstützung zu. John R. Murdock schlug vor, jeder der Anwesenden solle mitteilen, wie viel er selbst für den Tempel zu spenden bereit sei. Der Reihe nach machten die Führer der Kirche großzügige Zusagen und kamen so auf einen Gesamtbeitrag von über 50.000 Dollar.

Gegen Ende der Versammlung sagte George: „Meiner Meinung nach gab es seit der Gründung der Kirche keine Zeit, in der sie Einigkeit so nötig hatte wie heute.“ Er legte Zeugnis ab, dass die Erste Präsidentschaft in Einigkeit zusammenstehe und ständig bestrebt sei, den Sinn und Willen des Herrn zu ergründen, wie die Kirche zu führen sei.

„Der Herr segnet uns und erkennt unsere Arbeit an“, bezeugte er. „Tag für Tag zeigt er uns klar auf, welchen Weg wir einschlagen sollen.“13


Unter den Zimmerleuten, die am Tempel arbeiteten, war auch Joseph Dean, der ehemalige Präsident der Samoanischen Mission. Joseph war zwei Jahre zuvor vom Pazifik zurückgekehrt. Er hatte einige Zeit keine feste Arbeit finden können, mit der er seine beiden Frauen Sally und Florence und die sieben Kinder hätte versorgen können. Als er im Februar 1892 als Handwerker für den Tempel eingestellt wurde, war dies ein großer Segen. Doch sein Lohn und das Einkommen, das Sally mit Nähen und Schneidern erzielte, reichten kaum aus, um die große Familie mit Nahrung, Obdach und Kleidung zu versorgen.14

Im Herbst 1892 genehmigte die Erste Präsidentschaft zehn Prozent Gehaltserhöhung für die Tempelhandwerker, damit sie den gleichen Lohn erhielten wie andere in ihrem Gewerbe. Für einige der Handwerker war es der höchste Lohn, den sie je erhalten hatten.15 Joseph und seine Frauen waren dankbar für die Lohnerhöhung, kamen aber auch weiterhin nur mühsam über die Runden.

Dennoch zahlten sie treu ihren Zehnten und gaben sogar fünfundzwanzig Dollar für den Tempelfonds.16

Am 1. Dezember löste Joseph seinen monatlichen Lohnscheck über 98,17 Dollar ein. Nach der Arbeit ging er in einen Laden, um dort seine Schulden in Höhe von fünf Dollar zu bezahlen. Der Laden gehörte Josephs Bischof. Anstatt die Zahlung einfach entgegenzunehmen, teilte ihm der Bischof mit, der Pfahlpräsident habe kürzlich jede Familie im Pfahl aufgefordert, der Kirche einen bestimmten Betrag für den Tempelbau zu spenden. Joseph und seine Familie wurden um eine Spende von einhundert Dollar gebeten.

Joseph war fassungslos. Sally hatte kürzlich entbunden, und Joseph hatte den Arzt noch nicht bezahlt. Zudem hatte er in fünf anderen Läden anschreiben lassen und war mit den Mietzahlungen für Florences Wohnung im Rückstand. Zusammengenommen überstiegen seine Schulden seinen Monatslohn, der seinerseits geringer war als der vom Pfahl geforderte Spendenbetrag. Wie sollte er nur so viel zahlen, wo doch seine Familie gerade erst unter großen Opfern schon fünfundzwanzig Dollar gespendet hatte?

Doch so schwer es auch sein mochte, dieser Verpflichtung nachzukommen – Joseph stimmte zu und meinte, er werde einen Weg finden, das Geld aufzubringen. „Ich werde mein Bestes tun“, schrieb er am Abend in sein Tagebuch, „und vertraue darauf, dass der Herr mir beisteht.“17


Im Januar berief Maihea, ein betagter Führer der Kirche auf dem Tuamotu-Archipel, eine Konferenz auf Faaite ein, einem Atoll knapp fünfhundert Kilometer nordöstlich von Tahiti. In den Tagen vor der Konferenz fiel heftiger Regen, doch die standhaften Heiligen ließen sich vom Wetter nicht abhalten.18

Eines Morgens kurz vor der Konferenz brachte eine frische Brise vier Boote nach Faaite. Sie kamen vom zwei Tagesreisen weiter nördlich gelegenen Takaroa-Atoll. Wie man Maihea mitteilte, befanden sich unter den Neuankömmlingen vier Weiße, die sich als Missionare der Kirche ausgaben und behaupteten, das wiederhergestellte Evangelium mit Vollmacht zu verkünden.19

Maihea hatte da seine Zweifel. Sieben Jahre zuvor war ein Missionar der Reorganisierten Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in sein Dorf im benachbarten Anaa-Atoll gekommen. Der Missionar hatte behauptet, Brigham Young und die Heiligen in Utah hätten sich von der wahren Kirche Christi entfernt, und hatte die Heiligen in Anaa zum Gottesdienst mit ihm eingeladen. Viele hatten seine Einladung angenommen. Doch Maihea und andere hatten abgelehnt. Sie wussten ja, dass die Missionare, die ihnen das Evangelium verkündet hatten, von Brigham Young ausgesandt worden waren.20

Maihea und die Heiligen von Tuamotu waren sich also nicht sicher, ob diese neuen Missionare wirklich von der Kirche bevollmächtigt waren. Sie begrüßten sie kühl und boten ihnen nur eine unreife Kokosnuss an. Der älteste der Missionare hatte nur ein Bein und stellte sich Maihea als James Brown oder Iakabo vor. So hatte der Missionar geheißen, der ihm das Evangelium verkündet hatte. Selbst die Heiligen, die noch zu jung waren, um James Brown persönlich gekannt zu haben, hatten von der älteren Generation von ihm gehört.

Da Maihea erblindet war und den Missionar nicht am Aussehen erkennen konnte, stellte er ihm Fragen.21 „Wenn du derselbe bist, der schon einmal bei uns war, hast du ein Bein verloren“, stellte Maihea fest. „Der Iakabo, den ich kenne, hatte zwei Beine.“

Maihea fragte James dann, ob er die gleiche Lehre verkünde wie der Mann, der ihn viele Jahre zuvor getauft hatte.

Dies bestätigte James.

Maihea befragte ihn weiter: Bist du aus Salt Lake City gekommen? Wer ist jetzt der Präsident der Kirche, nachdem Brigham Young verstorben ist? Welche Hand hebst du, wenn du jemanden taufst? Stimmt es, dass du an die Mehrehe glaubst?

James beantwortete jede Frage, aber Maihea war immer noch nicht zufrieden. „In welchem Dorf wurdest du von den Franzosen verhaftet?“, fragte er. Auch dieses Mal beantwortete James die Frage richtig.

Schließlich schwanden Maiheas Befürchtungen, und er schüttelte James erfreut die Hand. „Wenn du nicht mitgekommen wärst und uns davon überzeugt hättest, dass du derselbe bist, der früher schon bei uns war, wäre es sinnlos gewesen, diese jungen Männer zu senden“, sagte er in Bezug auf die Missionare, die James begleiteten. „Wir hätten ihre Botschaft nicht angenommen.“

„Aber jetzt“, sagte Maihea, „heißen wir dich willkommen und diese jungen Männer hier ebenfalls.“22


Im selben Monat reisten Anthon Lund, Francis Lyman und B. H. Roberts auf Geheiß der Ersten Präsidentschaft nach Manassa in Colorado. Vier Monate waren vergangen, seit Anthon und Francis die Heiligen in St. George aufgefordert hatten, sich nicht über Politik zu streiten. Doch Manassa und weitere von den Heiligen gegründete Siedlungen waren nach wie vor wegen solcher Streitigkeiten gespalten. Da die Weihung des Salt-Lake-Tempels in gut zwei Monaten stattfinden sollte, machten die Führer der Kirche sich Sorgen. Wenn die betroffenen Gemeinden nicht in Liebe und Verbundenheit zusammenfinden konnten, waren sie nicht bereit für die Weihung.23

In Manassa kamen verschiedene ortsansässige Mitglieder mit den drei Führern der Kirche zusammen, um ihrem Ärger Luft zu machen. An einigen Tagen verbrachte Anthon bis zu zehn Stunden damit, sich Anschuldigungen und Gegenbeschuldigungen in politischen, geschäftlichen oder privaten Streitfragen anzuhören. Insgesamt kam er auf fünfundsechzig Einzelkonflikte, für die die Heiligen in Manassa von den Führern der Kirche eine Lösung erwarteten.24

Nachdem er jeden Fall geprüft hatte, versuchten er und seine Begleiter, zuerst die strittigsten Fälle zu lösen. Einige Heilige legten ihre Meinungsverschiedenheiten unter sich bei oder waren einverstanden, sich öffentlich für das zu entschuldigen, was sie gesagt oder getan hatten. Andere wiederum waren zwar mit den empfohlenen Lösungsvorschlägen nicht recht zufrieden, versprachen aber demütig, sich zu fügen.25

Nach zwei Wochen waren Anthon, Francis und B. H. der Ansicht, sie hätten nun alles in ihrer Macht Stehende getan, um den Heiligen in Manassa zu helfen. Ihnen war allerdings klar, dass viele kleinere Konflikte bestehen blieben. „Wir rufen euch auf, all eure Energien der Überwindung der noch bestehenden Schwierigkeiten zu widmen“, wiesen sie die örtliche Pfahlpräsidentschaft an, „und die Mitglieder im Geiste des Evangeliums zusammenzuführen.“26

B. H. brachte Anthon und Francis zum Zug, kehrte jedoch nicht mit ihnen zurück. Seine zweite Frau Celia wohnte mit den gemeinsamen Kindern in Manassa, und er wollte noch ein paar Tage bei ihnen bleiben.27

Wieder zurück in Utah vertraute B. H. seinem Tagebuch an, wie er sich bemüht hatte, Konflikte beizulegen und auch selbst Frieden zu finden. Über ein Jahr schon quälte es ihn, dass er seinerzeit so lange mit sich gerungen hatte, dem Manifest zuzustimmen. Die Erinnerung an die geistige Bestätigung, die er wie einen kurzen Lichtstrahl erhalten hatte, als er das erste Mal von der Änderung hörte, hatte ihn allmählich weicher gestimmt.

„Vielleicht habe ich damals übertreten, als ich das erste Zeugnis von mir gewiesen und zugelassen habe, dass meine Vorurteile, mein eigener kurzsichtiger, menschlicher Verstand sich der Inspiration Gottes entgegenstellten“, schrieb B. H.

„Ich habe nicht verstanden, welchem Zweck die Veröffentlichung des Manifests dienen sollte. Ich verstehe es bis heute nicht“, ergänzte er. „Aber ich bin mir sicher, dass es so recht ist. Ganz bestimmt verfolgt Gott einen Zweck damit, und dieser wird zu gegebener Zeit offenbar werden.“28


Am 5. Januar 1893 erfuhr Joseph Dean, dass der Präsident der Vereinigten Staaten, Benjamin Harrison, eine Erklärung zu einem allgemeinen Straferlass unterzeichnet hatte. Diejenigen, die in Mehrehe gelebt hatten, jedoch seit dem Manifest nicht mehr mit ihren weiteren Ehefrauen zusammenlebten, wurden begnadigt.29

Der Präsident hatte die Führer der Kirche einige Monate zuvor schriftlich darüber informiert, dass er die Erklärung unterzeichnen werde. Im selben Schreiben hatte er die Erste Präsidentschaft gebeten, für seine Frau Caroline zu beten, die im Sterben lag. Nach dem jahrelangen Konflikt zwischen den Heiligen und der Bundesregierung kam diese Bitte für die Erste Präsidentschaft überraschend, und es war ihr eine Ehre, ihr nachzukommen.30

Für Joseph war der Straferlass wirkungslos, da er seine weitere Familie nach dem Manifest nicht verlassen hatte. Aber die Deseret News und andere Zeitungen in Utah erkannten die symbolische Bedeutung der Erklärung, und den Heiligen wurde in diversen Artikeln nahegelegt, Präsident Harrison dankbar zu sein, dass er sie in bester Absicht herausgegeben hatte.31

Unterdessen verlängerten Joseph und weitere Arbeiter jeden Arbeitstag um zusätzliche zwei Stunden, damit der Salt-Lake-Tempel rechtzeitig zum 6. April fertig wurde. Die Erste Präsidentschaft besuchte die Baustelle regelmäßig, überprüfte Einzelheiten und spornte die Handwerker an, sich weiter anzustrengen.32

Was Joseph betraf, so war er fest entschlossen, für die Arbeit am Tempel sein Bestes zu geben und auch sein Versprechen zu erfüllen, einhundert Dollar für den Tempel zu spenden. Im Februar erließ Apostel John W. Taylor Joseph Zinsen in Höhe von einhundert Dollar für ein Darlehen, das er ihm gewährt hatte. Joseph erkannte dies sofort als Segen. „Ich betrachte das als eine Rückvergütung vonseiten des Herrn“, notierte er in seinem Tagebuch.33

Bis Mitte März hatte Joseph fünfundsiebzig Dollar für den Bau des Tempels gespendet, und er hoffte, die restlichen fünfundzwanzig Dollar im April kurz vor Fertigstellung des Tempels zusammenzubekommen. Einmal nahm er auch zwei seiner Kinder mit in den Tempel. Im Taufbereich zeigte er ihnen das große Becken, das auf dem Rücken von zwölf gusseisernen Rindern ruhte. Der Anblick erschreckte seinen fünfjährigen Sohn Jasper, der dachte, die Tiere seien echt.34

In einem der Endowment-Räume im Untergeschoss des Tempels schufen Kunstmaler bezaubernde Wandmalereien, die den Garten von Eden darstellten – mit Wasserfällen, saftigen Wiesen und sanften Hügeln. Aus diesem Raum führte eine Treppe zu einem weiteren Endowment-Raum. Dort waren weitere Wandmalereien mit Wüsten, zerklüfteten Felswänden, wilden Tieren und dunklen Wolken zu sehen, die das Leben nach dem Sündenfall darstellten. Die meisten der an diesen Wandmalereien beteiligten Künstler waren zuvor von der Ersten Präsidentschaft eingesetzt worden und hatten von Kunstlehrern in Paris eine erstklassige Ausbildung erhalten.35

Ende März 1893 rief Bischof John Winder die Arbeiter zusammen und ermahnte sie, allen Groll und alle negativen Gefühle untereinander zu überwinden. Nicht nur der Tempel sollte bereit für die Weihung sein, auch die Arbeiter mussten sich geistig bereitmachen.36

Um alle Heiligen darin zu unterstützen, sich mit Gott und miteinander zu versöhnen, rief die Erste Präsidentschaft zu einem kirchenweiten Sonderfastentag auf, der zwölf Tage vor der Weihung stattfinden sollte.

„Bevor wir den Tempel betreten, um in feierlicher Versammlung dem Herrn gegenüberzutreten“, hieß es in einem Brief an alle Mitglieder der Kirche, „müssen wir uns von aller Härte und Lieblosigkeit gegeneinander lossagen.“37

Der Fastentag fiel auf einen Samstag. Sally und Florence Dean kamen mit den anderen Heiligen zusammen, um zu singen, zu reden und zu beten. Doch Joseph konnte nicht dabei sein. Im Tempel gab es noch allzu viel zu erledigen, und er und die anderen Handwerker arbeiteten den ganzen Tag, obwohl sie fasteten.38

An den folgenden Tagen half Joseph beim Einbau von Holzdielen, während Gruppen von Handwerkern, die für das Verlegen der Teppiche, das Anbringen der Vorhänge, die Malerarbeiten, das Vergolden und die Elektrik zuständig waren, umherhuschten, um in letzter Minute ihre Arbeit zu Ende zu bringen. Ein Komitee aus Männern und Frauen stattete dann die Räume mit eleganten Möbeln und schmückendem Beiwerk aus. Frauen aus Gemeinden in der ganzen Stadt hatten seidene Altarabdeckungen und weitere künstlerische Handarbeiten beigesteuert.

Zwar gab es auch nach der Weihung noch Arbeiten zu erledigen, doch war sich Joseph sicher, dass der Tempel für die Eröffnung zum geplanten Termin bereit sein würde. „Wir kommen dem Abschluss doch schon sehr nahe“, schrieb er.39


An dem kirchenweiten Fastentag erhielt Susa Gates einen Brief, in dem ihre neunzehnjährige Tochter Leah sie um Versöhnung bat. Susa wohnte zu der Zeit in Provo, und Leah besuchte das College in Salt Lake City. „Ich hätte nicht gedacht“, schrieb Leah, „dass meine eigene liebe Mutter diejenige sein würde, die ich um Vergebung bitten muss, die ich wegen vergangener Missstimmungen und Kränkungen um Verzeihung bitten muss.“40

Ein paar Tage zuvor hatte Susa mit Leah über Leahs Vater, Alma Dunford, gestritten. Jahre zuvor hatte sich Susa von Alma scheiden lassen, nachdem sie es nicht mehr ausgehalten hatte, dass er trank und sie misshandelte. Alma war jedoch das Sorgerecht für Leah zugesprochen worden, sodass sie getrennt von Susa in der Familie ihres Vaters aufgewachsen war.

Alma hatte erneut geheiratet und hatte weitere Kinder. Obwohl er immer noch seine Schwierigkeiten mit dem Wort der Weisheit hatte, war ein gütiger Ehemann und Vater aus ihm geworden, der gut für seine Familie sorgte und seine Kinder im Evangelium erzog. Leah liebte ihn und sah ihn mit anderen Augen als ihre Mutter. „Du kennst meine Gefühle, und ich kann sie nicht für mich behalten“, hatte Leah zu Susa gesagt. „Ich liebe meine Mutter mehr, als ich sagen kann, aber meinen Vater liebe ich auch.“

Dennoch hatte Leah nach dem Streit das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. „Ich kehre demütig und aufrichtig um und bitte dich inständig, zu vergeben und zu vergessen“, schrieb sie.41

Als Susa den Brief las, tat es ihr leid, dass ihre Tochter so zerknirscht war. Susas Vater, Brigham Young, hatte ihr geraten, ihre Familie immer an die erste Stelle zu setzen, und hatte ihr verheißen, dass alles Großartige, was sie darüber hinaus vollbrächte, ihren Ruhm noch mehren würde. Seitdem hatte Susa innerhalb und außerhalb der Familie viel erreicht. Mit siebenunddreißig Jahren führte sie eine liebevolle Ehe, hatte sechs lebende Kinder, ein weiteres war unterwegs, und sie galt als eine der talentiertesten und produktivsten Schriftstellerinnen der Kirche.42

Doch trotz all ihres Erfolgs hatte Susa zuweilen das Gefühl, dass sie hinter ihren hohen Erwartungen an eine ideale Mutter zurückblieb. Ihre Beziehung zu Leah war besonders schwierig gewesen. Nach der Scheidung hatten sie sich viele Jahre lang nie persönlich begegnen können. Als Leah fünfzehn Jahre alt war, hatte Susa jedoch ein Treffen im Lion House vereinbart, wo sie sich umarmt und vor Freude geweint hatten. Von da an war die Beziehung zwischen Susa und Leah liebevoll und herzlich gewesen, und manchmal fühlten sie sich eher wie Schwestern als wie Mutter und Tochter.43

Am 25. März, einem Samstag, besuchte Susa mit den anderen Mitgliedern in Provo eine besondere Fastenversammlung. Leah ging ihr die ganze Zeit nicht aus dem Sinn. Susa erkannte, dass der Widersacher alles daransetzen würde, die Bande der Liebe zu zerreißen, die sich in jüngster Zeit zwischen ihr und ihrer ältesten Tochter entwickelt hatten. Doch das würde sie niemals zulassen.

Sobald sie konnte, beantwortete sie Leahs Brief. „Mein liebstes Mädchen“, schrieb sie, „sei dir gewiss, dass ich dich mit jedem neuen Tag noch mehr liebe.“ Sie bat ihrerseits Leah um Vergebung und versprach, sich zu bessern. „Ich weiß, dass ich alles andere als vollkommen bin“, gestand sie ein. „Am meisten hat mich an deinen Worten wohl die Tatsache geschmerzt, dass ich sie in gewisser Weise verdient hatte.

Wenn wir beten und uns ein wenig Mühe geben, können wir lernen, dies alles hinter uns zu lassen“, schrieb sie. „Gib mir einen Kuss und begrabe die Sache für immer.“44