Geschichte der Kirche
2 Ruhm genug


„Ruhm genug“, Kapitel 2 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019

Kapitel 2: „Ruhm genug“

Kapitel 2

Ruhm genug

Ein paar Frauen schauen zu, wie die Männer fortmarschieren

Der Wind war kalt, als Brigham Young am Abend des 15. Februars 1846 das Lager am Sugar Creek erreichte. Auf einem verschneiten Waldstück nicht weit des eisigen Baches hatten sich hunderte Heilige ausgebreitet. In ihren feuchten Mänteln und Decken zitterten sie vor Kälte. Viele Familien scharten sich um Lagerfeuer oder unter Zelten, die sie aus Laken oder Wagenplanen angefertigt hatten. Andere kauerten sich in den Kutschen und Wagen zusammen, um einander zu wärmen.1

Brigham erkannte sofort, dass er Ordnung in das Lager bringen musste. Er unterteilte die Heiligen in Abteilungen, wobei andere Führer der Kirche ihm halfen, und berief jeweils einen Hauptmann als Anführer. Er ermahnte sie, weder unnötig nach Nauvoo zurückzukehren noch untätig zu sein oder ohne Erlaubnis etwas auszuborgen. Die Männer sollten das Lager stets bewachen und auf Sauberkeit achten, und jede Familie sollte morgens und abends gemeinsam beten.2

Bald schon herrschte im Lager eine gute Stimmung. Die Heiligen hatten Nauvoo in Sicherheit verlassen können und machten sich jetzt weniger Sorgen wegen des Pöbels oder der Drohungen der Regierung, ihren Auszug zu verhindern. Abends spielte eine Blaskapelle fröhliche Lieder, zu denen die Männer und Frauen tanzten. Die Heiligen, die in Mehrehe lebten, trauten sich nun, offener über diesen Grundsatz zu sprechen und zu erzählen, wie er ihre Familien zusammenschweißte.3

Brigham feilte derweil stundenlang an den Plänen für den Auszug in den Westen.4 Als er kurz vor dem Aufbruch aus Nauvoo gefastet und im Tempel gebetet hatte, hatte er in einer Vision Joseph Smith gesehen, der auf ein Banner zeigte, das auf einer Bergspitze gehisst worden war. „Lasst euch auf dem Land unterhalb des Banners nieder“, hatte Joseph ihm aufgetragen. „Dann werdet ihr gedeihen und Frieden haben.“5 Brigham wusste, dass der Herr für die Kirche einen Ort bereitet hatte, aber tausende Heilige dorthin zu führen, war eine gewaltige Aufgabe.

Zu dieser Zeit trafen im Lager Briefe von Sam Brannan ein, der gerade auf der Brooklyn nach Kalifornien unterwegs war. Unter den Briefen befand sich auch der Vertrag, in dem man den Heiligen einen sicheren Auszug versprach, sofern sie dafür Ländereien im Westen abtraten. Brigham las den Vertrag mit den Aposteln sorgfältig durch. Falls sie ihn nicht unterzeichneten, entnahmen sie Sams Briefen, werde der Präsident der Vereinigten Staaten möglicherweise anordnen, die Heiligen zu entwaffnen, und ihnen untersagen, sich zu sammeln.6

Brigham war davon nicht überzeugt. Auch wenn er der Regierung misstraute, hatte er bereits beschlossen, eine Zusammenarbeit anzustreben und sich nicht gegen sie zu stellen. Kurz vor der Abreise aus Nauvoo hatte er sogar Jesse Little, den neuen präsidierenden Ältesten in den Oststaaten, beauftragt, sich politisch für die Kirche einzusetzen und jedes vertrauenswürdige Angebot der Regierung anzunehmen, das den Heiligen beim Auszug aus Nauvoo helfen könnte. Brigham und die Apostel gewannen schnell den Eindruck, der Vertrag sei nichts weiter als ein ausgeklügelter Plan zum Nutzen derer, die ihn aufgesetzt hatten. Die Apostel beschlossen daher, ihn nicht zu unterschreiben, sondern auf Gott zu vertrauen und ihn um Schutz zu bitten.7

Im Laufe des Monats sanken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt, sodass die Oberfläche des Mississippis sich in eine Eisfläche verwandelte, die ein einfaches Überqueren ermöglichte. Schon bald hatten sich um die zweitausend Heilige im Lager am Sugar Creek niedergelassen, auch wenn bisweilen der eine oder andere nach Nauvoo zurückkehrte, um Besorgungen zu machen.

Dieses geschäftige Treiben bereitete Brigham Sorge, da diese Leute seiner Meinung nach ihre Familie vernachlässigten und ihr Herz zu sehr auf ihren Besitz in der Stadt setzten. Die Heiligen lagen bereits hinter dem Zeitplan für den Treck zurück, und Brigham fand, dass es an der Zeit war, weiterzuziehen, selbst wenn es den Abteilungen noch an Ausrüstung fehlte.

Am 1. März machten sich fünfhundert Wagen auf den Weg nach Westen, über die Prärie von Iowa. Brigham wollte noch immer im gleichen Jahr einen Vortrupp über die Rocky Mountains schicken, aber zunächst brauchten die Heiligen mehr Mittel, um sich weiter von Nauvoo entfernen zu können.8


Während die Heiligen mit Brigham den Sugar Creek verließen, befand sich die dreiundvierzigjährige Louisa Pratt noch in Nauvoo und machte sich mit ihren vier kleinen Töchtern zum Aufbruch bereit. Vor drei Jahren hatte der Herr ihren Mann Addison berufen, eine Mission auf den Pazifischen Inseln zu erfüllen. Seitdem war es kaum möglich gewesen, voneinander zu hören, da der Postweg zwischen Nauvoo und Tubuai, der Insel in Französisch-Polynesien, auf der Addison tätig war, recht unzuverlässig war. Die meisten Briefe waren bei der Ankunft schon mehrere Monate alt, manche sogar älter als ein Jahr.

In seinem letzten Brief hatte Addison betont, er werde nicht rechtzeitig zurück sein, um gemeinsam mit ihr in den Westen zu ziehen. Die Zwölf hatten ihn beauftragt, so lange auf den Pazifischen Inseln zu bleiben, bis sie ihn zurückberiefen oder Missionare entsandten, die ihn ersetzten. Brigham hatte gehofft, mehr Missionare dorthin schicken zu können, nachdem die Heiligen das Endowment empfangen hatten, aber der Auszug aus Nauvoo hatte dieses Vorhaben hinausgezögert.9

Louisa war bereit, die Reise ohne ihren Mann anzutreten, doch der Gedanke daran beunruhigte sie. Sie ließ Nauvoo und den Tempel nur äußerst ungern zurück, und die Aussicht, mit einem Wagen die Rocky Mountains zu durchqueren, fand sie gar nicht reizvoll. Auch wollte sie vor der Reise in den Westen ihre betagten Eltern in Kanada wiedersehen, vermutlich wäre es das letzte Mal.

Falls sie ihr Ochsengespann verkaufte, konnte sie von dem Gewinn ihre Eltern besuchen und für ihre Familie eine Überfahrt auf einem Schiff nach Kalifornien buchen, womit sie den Landweg dann gänzlich meiden würde.

Fast schon hatte Louisa den Entschluss gefasst, nach Kanada zu reisen, aber ganz wohl fühlte sie sich dabei nicht. Sie beschloss, Brigham Young zu schreiben, weshalb ihr der Landweg Sorge bereitete und dass sie ihre Eltern wiedersehen wollte.

„Wenn du sagst, dass der Treck mit dem Ochsengespann der beste Weg zur Errettung ist, bin ich mit Herz und Hand dabei“, schrieb sie ihm. „Ich werde es wohl so lange wie jede andere Frau ohne Murren ertragen können.“10

Wenig später überbrachte ihr ein Bote Brighams Antwort. „Komm her. Die Errettung mit dem Ochsengespann ist der sicherste Weg“, sagte er. „Dein Mann wird an unserem Sammlungsort in der Wildnis zu uns stoßen und zutiefst enttäuscht sein, wenn seine Familie nicht bei uns ist.“

Louisa dachte über seinen Rat nach, wappnete sich innerlich für die beschwerliche Reise und beschloss, sich der Hauptgruppe der Heiligen anzuschließen, auch wenn es sie das Leben kosten sollte.11


Ab dem Frühjahr nannten sich die Heiligen, die Iowa durchquerten, das Lager Israel – nach den Hebräern, die der Herr einst aus der Gefangenschaft in Ägypten befreit hatte. Tag um Tag behaupteten sie sich gegen die Naturelemente, die den Prärieboden in Iowa unerbittlich mit Schnee und Regen aufweichten und schlammig machten. Der Wasserpegel in den Flüssen und Bächen war hoch, die Strömung schnell. Die Feldwege wurden zu Morast. Eigentlich hatten die Heiligen das Gebiet in einem Monat durchqueren wollen, in diesem Zeitraum jedoch erst ein Drittel der Strecke zurückgelegt.12

Am 6. April, dem sechzehnten Gründungstag der Kirche, regnete es den ganzen Tag lang. Brigham verbrachte Stunden knietief im Schlamm und half den Heiligen, die Straße zu einem Ort namens Locust Creek zu überqueren. Dort half er mit, die Wagen in Reih und Glied zu stellen, Zelte aufzuschlagen und Holz zu hacken, bis sich alle Heiligen im Lager niedergelassen hatten. Eine Frau beobachtete, wie er sich gegen einen steckengebliebenen Wagen stemmte und ihn zog, um ihn aus dem Schlamm zu befreien. Sie hatte den Eindruck, dass er trotz der allgegenwärtigen Schwierigkeiten nahezu vergnügt wirkte.

Am Abend fiel gefrierender Regen, und Hagel bedeckte das Lager mit einer Eisschicht. Morgens fand William Clayton, Brighams Schriftführer und Leiter der Blaskapelle, im Lager ein heilloses Durcheinander vor. Viele Zelte lagen flach auf dem gefrorenen Boden. Ein Baum war auf einen Wagen gestürzt. Einige Mitglieder der Blaskapelle hatten außerdem keinen Proviant mehr.13

William teilte mit ihnen, was er noch hatte, obwohl seine Familie nur wenig besaß. Er war einer der ersten Heiligen, die die Mehrehe ausübten, und war mit drei Frauen und vier Kindern unterwegs. Eine weitere Frau, Diantha, war noch in Nauvoo in der Obhut ihrer Mutter. Sie war mit ihrem ersten Kind schwanger und körperlich in schlechter Verfassung, was Williams innere Unruhe auf der Reise noch vermehrte.

Während Williams Familie in Locust Creek mit dem Lager Israel Rast machte, schlug Brigham etwas vor. Man könne doch auf der halben Strecke in Iowa eine Zwischenstation einrichten, wo die Heiligen warteten, bis das schlechte Wetter vorüber war, Blockhütten bauten und für diejenigen, die erst später nachkamen, Getreide aussäten. Einige Heilige kümmerten sich dann um die Zwischenstation, während andere nach Nauvoo zurückkehrten und weitere Abteilungen durch Iowa führten. Die Übrigen würden mit ihm zum Missouri aufbrechen.14

Am 14. April war William die ganze Nacht damit beschäftigt, ausgebrochene Pferde und Rinder zusammenzutreiben. Am Morgen wollte er endlich schlafen, aber im Lager hatte jemand einen Brief entgegengenommen, demzufolge Diantha das Kind bekommen hatte. Abends feierte William die Geburt und sang und musizierte mit der Kapelle bis in die tiefe Nacht hinein.

Am nächsten Morgen war der Himmel klar, und William sah für das Lager Israel rosigere Zeiten aufziehen. Er schnappte sich Feder und Papier und schrieb ein Lied, das den Heiligen Mut machen sollte:

Kommt, Heilge, kommt! Nicht Müh und Plagen scheut,

wandert froh euern Pfad!

Ob rau und schwer der Weg erscheinet heut,

jeder Tag bringt euch Gnad!

Die müßgen Sorgen lasst zurück,

und denkt an euer künftges Glück;

dann klingts im Herzen freudevoll:

Alles wohl, alles wohl!15


Hundertsechzig Kilometer weiter östlich stand Wilford Woodruff an Deck eines Dampfers und blickte durch ein Fernrohr vom Mississippi auf den Nauvoo-Tempel. Als er den Tempel das letzte Mal gesehen hatte, waren die Außenwände noch nicht fertiggestellt gewesen. Jetzt war das Dach zu sehen, ebenso glänzende Fenster und ein majestätischer Turm mit einer Wetterfahne in Form eines Engels.16 Teile des Tempels waren für die Verordnungsarbeit bereits geweiht worden, und bald war das Gebäude fertig und konnte dem Herrn vollständig geweiht werden.

Wilford hatte eine gefährliche Heimreise aus Großbritannien hinter sich. Schwere Stürme und hohe Wellen hatten das Schiff hin und her geworfen. Wilford war seekrank geworden. Es war ihm elend gegangen, aber er hatte irgendwie durchgehalten. „Jeder, der seine Farm verkauft und auf See seinen Lebensunterhalt verdient, ist wohl recht anders gestrickt als ich“, hatte er gestöhnt.17

Phebe war vor ihm mit ihren Kindern Susan und Joseph aus England aufgebrochen. Sie hatten ein Schiff genommen, auf dem sich viele Heilige befanden, die in die Vereinigten Staaten auswandern wollten. Wilford war noch ein wenig länger in Liverpool geblieben, um ein paar finanzielle Angelegenheiten zu regeln, dem neuen Missionspräsidenten seine Führungsaufgaben zu übertragen und Spenden für die Fertigstellung des Tempels zu erbitten.18

„Der Bau des Tempels Gottes ist für jeden aufrichtigen Heiligen gleichermaßen von Interesse, wo immer er sich aufhalten möge“, hatte er den Mitgliedern der Kirche gesagt.19 Auch wenn man den Tempel kurz nach der Fertigstellung zurücklassen musste, waren die Heiligen auf beiden Seiten des Atlantiks fest entschlossen, das Gebot zu befolgen, das der Herr der Kirche im Jahre 1841 gegeben hatte, und den Tempelbau abzuschließen.

„Ich gewähre euch genügend Zeit, mir ein Haus zu bauen“, hatte der Herr durch Joseph Smith verkündet. „Und wenn ihr dies nicht tut, werdet ihr nach Ablauf der bestimmten Zeit als Kirche samt euren Toten verworfen werden, spricht der Herr, euer Gott.“20

Obwohl viele der britischen Heiligen völlig verarmt waren, hatte Wilford ihnen ans Herz gelegt, für den Tempel alles zu spenden, was sie erübrigen konnten. Dafür, so hatte er ihnen verheißen, würden sie gesegnet werden. Daraufhin hatten sie großzügig gespendet, und Wilford war ihnen für ihre Opferbereitschaft dankbar.21

Als Wilford die Vereinigten Staaten erreichte, holte er erst seine Tochter Phebe Amelia in Maine ab. Dann besuchte er im Süden seine Eltern und bewog sie dazu, mit ihm in den Westen zu ziehen.22

Nachdem Wilford in Nauvoo eingetroffen und wieder mit seiner Frau vereint war, traf er sich mit Orson Hyde, dem präsidierenden Apostel der Stadt, der kaum Gutes berichten konnte. Unter den Heiligen in Nauvoo waren einige unruhig und fühlten sich im Stich gelassen. Ein paar stellten sogar in Frage, ob die Zwölf wirklich berechtigt waren, die Kirche anzuführen, darunter auch Wilfords Schwester Eunice Webster und ihr Mann Dwight.23

Diese Neuigkeiten machten Wilford tagelang zu schaffen. Vor zehn Jahren hatte er Eunice und Dwight das Evangelium verkündet und sie getauft. Vor kurzem hatten die beiden sich einem Mann namens James Strang angeschlossen, der behauptete, Joseph Smith hätte ihn heimlich zu seinem Nachfolger bestimmt. Diese Behauptung war schlichtweg falsch, aber mit seiner charismatischen Art hatte Strang einige Heilige in Nauvoo für sich eingenommen, so auch John Page und Joseph Smiths jüngeren Bruder William, beide ehemalige Apostel.24

Als Wilford am 18. April erfuhr, dass Dwight und Eunice seine Eltern dazu überreden wollten, sich Strang anzuschließen, statt in den Westen zu ziehen, war er sehr aufgebracht. Wilford rief seine Familie zusammen und prangerte den falschen Propheten an. Dann begann er, seine Wagen vollzuladen.

„Ich muss noch viel erledigen“, schrieb er in sein Tagebuch, „und habe nur wenig Zeit.“25


Im Frühjahr waren die Arbeiter emsig damit beschäftigt, den Tempel vor der öffentlichen Weihung am 1. Mai fertigzustellen. Sie verlegten um das Taufbecken einen Ziegelboden, brachten dekorative Holzvertäfelungen an und strichen die Wände. Sie arbeiteten den ganzen Tag lang und oft bis in die Nacht hinein. Da die Kirche den Arbeitern kaum etwas zahlen konnte, opferten viele von ihnen einen Teil ihres Lohns, damit der Tempel auf jeden Fall fertig wurde und dem Herrn geweiht werden konnte.26

Zwei Tage vor der Weihung wurden die Malerarbeiten im Versammlungsraum im Erdgeschoss abgeschlossen. Am nächsten Tag fegte man Staub und Schutt aus dem großen Raum und bereitete alles für den Gottesdienst vor. Die Arbeiter konnten zwar nicht jedem Raum den letzten Schliff verleihen, wussten jedoch, dass dies den Herrn nicht davon abhalten würde, den Tempel anzunehmen. Sie waren zuversichtlich, das Gebot Gottes erfüllt zu haben, und malten oberhalb der Kanzeln entlang der östlichen Wand des Versammlungsraums den Schriftzug: „Der Herr hat unser Opfer gesehen.“27

Da den Führern der Kirche bewusst war, wie viel sie den Arbeitern schuldig waren, gaben sie bekannt, dass die erste Weihungsversammlung auch einem wohltätigen Zweck dienen werde. Sie baten jeden Anwesenden, einen Dollar für die verarmten Arbeiter zu spenden.

Am 1. Mai verließ die vierzehnjährige Elvira Stevens morgens ihr Lager westlich des Mississippis und überquerte den Fluss, um der Weihung beiwohnen zu können. Sie war verwaist, denn ihre Eltern waren kurz nach dem Umzug nach Nauvoo verstorben, und nun lebte sie bei ihrer verheirateten Schwester. Keiner sonst im Lager konnte sie zur Weihung begleiten, und so machte sie sich alleine auf den Weg.

Da die Apostel wussten, dass es Jahre dauern konnte, bis im Westen ein weiterer Tempel gebaut wurde, hatten sie das Endowment auch jüngeren Unverheirateten zukommen lassen, darunter Elvira. Nun, drei Monate später, stieg Elvira erneut die Stufen zum Tempel empor, spendete ihren Dollar und suchte sich einen Platz im Versammlungsraum.28

Ein Chor eröffnete die Versammlung. Anschließend sprach Orson Hyde das Weihungsgebet. „Mögest du gewähren, dass dein Geist hier wohne“, bat er. „Und mögen alle im Innersten einen heiligen Einfluss verspüren und wissen, dass deine Hand dieses Werk ermöglicht hat.“29

Elvira spürte, wie eine göttliche Macht den Raum erfüllte. Nach der Versammlung kehrte sie zum Lager zurück, ging jedoch zwei Tage später zur nächsten Versammlung und hoffte, wieder dieselbe Macht zu verspüren. Orson Hyde und Wilford Woodruff predigten über die Tempelarbeit, das Priestertum und die Auferstehung. Bevor Wilford die Versammlung beendete, lobte er die Heiligen, weil sie den Tempel fertiggestellt hatten, obwohl klar war, dass sie ihn zurücklassen mussten.

„Tausende Heilige haben hier ihr Endowment empfangen, und das Licht wird niemals erlöschen“, sagte er. „Das ist Ruhm genug dafür, den Tempel errichtet zu haben.“

Nach der Versammlung kehrte Elvira ins Lager zurück und überquerte den Fluss ein allerletztes Mal.30 Inzwischen brachten die Heiligen in Nauvoo den übrigen Tag und die Nacht damit zu, zusammenzupacken und Stühle, Tische und weitere Möbelstücke aus dem Tempel zu räumen, bis er leer war und man ihn der Hand des Herrn überlassen konnte.31


Ein paar Wochen nach der Weihung begaben sich auch Louisa Pratt und ihre Töchter mit einer Abteilung Heiliger auf den Weg in den Westen. Ellen war inzwischen vierzehn Jahre alt, Frances zwölf, Lois neun und Ann fünf. Sie hatten zwei Ochsengespanne, zwei Kühe und einen Wagen voller neuer Kleidung und Proviant.

Bevor Louisa den Fluss nach Iowa überquerte, ging sie zur Post. Dort überreichte man ihr einen langen Brief, den ihr Addison am 6. Januar 1846 geschrieben hatte – vor fünf Monaten! Addison berichtete, er befinde sich nun gemeinsam mit zwei Freunden aus Tubuai, dem Ehepaar Nabota und Telii, in Tahiti. Gemeinsam wollten sie aufs Anaa-Atoll zu Addisons Missionsgefährten Benjamin Grouard, um ihm bei der Missionsarbeit zu helfen. In dem Brief lagen sechzig Dollar für Louisa, und seine Worte an sie und die Kinder waren voller Liebe.

Addison rechnete damit, noch viele Jahre bei den Heiligen auf der Insel zu bleiben, jedoch nicht ohne seine Familie. „Wenn ihr Bücher zu fassen bekommt und etwas Zeit übrighabt, sollten du und die Kinder am besten anfangen, Tahitianisch zu lernen“, schrieb er. „Ich denke nämlich, dass ihr in ein paar Jahren davon Gebrauch machen werdet.“32

Louisa freute sich über den Brief und fand die Reise in den Westen überraschend angenehm. Die Frühjahrsschauer waren vorüber, und es gefiel ihr, unter klarem Himmel auf dem Pferd zu sitzen, während ein Mann, den sie angeheuert hatte, ihr Wagengespann lenkte. Sie stand morgens schon früh auf und trieb das versprengte Vieh zusammen. Tagsüber half sie mit, es weiter voranzutreiben. Gelegentlich machte sie sich Sorgen, wie weit sie von ihren Eltern und anderen Angehörigen wegzog, aber ihr Glaube an Zion spendete ihr Trost. In den Offenbarungen wurde Zion als Zufluchtsort, als Land des Friedens bezeichnet. Genau das wünschte sie sich für ihr Leben.

„Manchmal bin ich heiter und gelassen“, schrieb sie am 10. Juni in ihr Tagebuch. „Der Herr hat uns gerufen, und er hat uns einen Ort gezeigt, wo wir in Frieden leben können und vor unseren grausamen Verfolgern keine Angst mehr haben müssen.“33

Fünf Tage später erreichten Louisa und ihre Abteilung Mount Pisgah, eine von zwei großen Zwischenstationen, die die Heiligen auf dem Weg durch Iowa eingerichtet hatten. Der Lagerplatz lag am Fuße einiger niedriger, doch steil ansteigender Hügel, die mit Eichen bewaldet waren. Die Heiligen lagerten hier, genau wie Brigham es sich vorgestellt hatte, in Zelten und Blockhütten und zogen Feldfrüchte, mit denen später eintreffende Abteilungen versorgt werden konnten. Außerdem bot das Lager Weideland fürs Vieh.

Louisa suchte für ihre Familie ein schattiges Plätzchen bei ein paar Eichen aus. Es war wunderschön dort, aber die Sonne brannte erbarmungslos auf die Heiligen nieder, von denen viele sehr erschöpft waren, nachdem sie sich im Frühling durch Regen und Schlamm hatten kämpfen müssen.

„Möge der Herr sie für ihre Opferbereitschaft segnen“, dachte sich Louisa.34


Derweil machten Brigham und das Lager Israel auf dem Weg nach Westen an einem Ort namens Mosquito Creek in der Nähe des Missouris Halt. Sie waren ausgehungert, lagen im Zeitplan zwei Monate zurück und waren völlig verarmt.35 Brigham beharrte jedoch nach wie vor darauf, einen Vortrupp über die Rocky Mountains zu schicken. Er war überzeugt, dass eine Abteilung Heiliger noch im Frühjahr die Reise hinter sich gebracht haben musste, denn solange die Kirche ohne eine feste Bleibe umherirrte, würden ihre Feinde versuchen, sie zu zerschlagen oder aufzuhalten.36

Brigham wusste aber auch, dass die Ausrüstung eines solchen Vortrupps die Mittel der Heiligen sehr beanspruchen würde. Nur wenige hatten Geld oder Proviant übrig, und in Iowa gab es kaum Möglichkeiten, sich etwas dazuzuverdienen. Damit die Heiligen den Weg über die Prärie überhaupt überleben konnten, hatten sie unterwegs so manches verkauft, woran ihr Herz hing, oder mit Gelegenheitsarbeiten Geld für Lebensmittel und sonstige Vorräte verdient. Je weiter das Lager nach Westen kam, desto rarer wurden schließlich die Siedlungen und damit auch solche Gelegenheiten.37

Aber das war nicht alles, was Brigham belastete. Die Heiligen, die nicht mit dem Vortrupp mitgingen, mussten irgendwo den Winter verbringen. Die Omaha und weitere Indianerstämme, die westlich vom Missouri lebten, waren zwar bereit, die Heiligen den Winter über dort bleiben zu lassen, aber seitens der Regierung wollte man eher nicht, dass sie sich über einen längeren Zeitraum auf geschütztem Indianerterritorium niederließen.38

Außerdem war Brigham bewusst, dass die kranken und verarmten Heiligen in Nauvoo darauf angewiesen waren, dass die Kirche sie in den Westen brachte. Eine Zeit lang hatte er gehofft, ihnen durch den Verkauf von wertvollem Besitz in Nauvoo, darunter der Tempel, helfen zu können. Bislang war dieses Vorhaben jedoch erfolglos geblieben.39

Am 29. Juni erfuhr Brigham, dass drei Offiziere der US-Armee auf dem Weg zum Mosquito Creek waren. Die Vereinigten Staaten hatten Mexiko den Krieg erklärt, und Präsident James Polk hatte die Männer ermächtigt, für einen Feldzug an der kalifornischen Küste ein Bataillon von fünfhundert Heiligen zu rekrutieren.

Brigham besprach die Neuigkeiten am nächsten Tag mit Heber Kimball und Willard Richards. Er hatte mit Mexiko keinen Streit, und der Gedanke, den Vereinigten Staaten helfen zu müssen, ärgerte ihn. Falls die Vereinigten Staaten den Krieg jedoch gewannen, würde der Westen zu amerikanischem Territorium werden, und wenn die Heiligen die Armee unterstützten, stärkte dies möglicherweise ihre Beziehung. Vor allem aber würde der Sold dazu beitragen, dass die Kirche die Auswanderung in den Westen finanzieren konnte.40

Sobald die Offiziere eintrafen, sprach Brigham mit ihnen. Er erfuhr, dass man ihnen diesen Befehl erteilt hatte, nachdem Thomas Kane, ein junger Mann von der Ostküste mit guten Beziehungen, von der misslichen Lage der Heiligen gehört und daraufhin Jesse Little ein paar wichtigen Beamten in Washington, D. C. vorgestellt hatte. Jesse hatte ein paar Verbindungen spielen lassen, sich mit Präsident Polk getroffen und ihn dazu bewogen, den Heiligen bei der Auswanderung in den Westen zu helfen, indem man ein paar von ihnen rekrutierte.

Brigham erkannte, welche Vorteile ihnen dieses Übereinkommen bringen würde, und stimmte der Anordnung von ganzem Herzen zu. „Dies ist das erste Angebot von der Regierung, das uns von Nutzen ist“, verkündete er. „Ich schlage vor, die fünfhundert Freiwilligen zusammenzutrommeln, und ich werde mein Möglichstes leisten, dass ihre Familien mitkommen können, soweit dies in meiner Macht steht, und sie zu verpflegen, solange ich selbst etwas zu essen habe.“41


Drusilla Hendricks war empört, dass Brigham beschlossen hatte, mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren. Ihr Mann James war halbseitig gelähmt, seitdem man ihm bei einem Gefecht mit Einwohnern Missouris 1838 in den Rücken geschossen hatte. Wie auch andere im Lager nahm sie es der Regierung nach wie vor übel, dass diese den Heiligen damals nicht zur Seite gestanden hatte. Ihr Sohn William war zwar alt genug, sich für das Bataillon zu melden, aber sie wollte es ihm verbieten. Sie war auf ihren Sohn angewiesen, da ihr Mann ja gelähmt war.42

Die Anwerber kamen jeden Tag ins Lager und trafen sich oft mit Brigham oder mit anderen Aposteln. „Falls wir den Vorzug genießen und dorthin gehen wollen, wo wir Gott verehren können, wie es uns das Gewissen gebietet, müssen wir das Bataillon auf die Beine stellen“, beteuerte Brigham.43 Viele Heilige schluckten ihren Unmut hinunter und unterstützten das Vorhaben, aber Drusilla ertrug den Gedanken nicht, sich von ihrem Sohn trennen zu müssen.

„Hast du Angst, auf den Gott Israels zu vertrauen?“, flüsterte ihr der Heilige Geist manchmal zu. „Hat er dir nicht in all deinen Prüfungen beigestanden? Hat er nicht dafür gesorgt, dass du hast, was du brauchst?“ In solchen Augenblicken musste sie sich eingestehen, dass Gott gütig zu ihr war, aber sobald sie daran dachte, wie schändlich sich die Regierung verhalten hatte, kehrte der Zorn zurück.

An dem Tag, als das Bataillon aufbrach, stand William früh auf, um das Vieh zusammenzutreiben. Drusilla sah ihm nach, als er durch das hohe, nasse Grass schritt. Sie machte sich Gedanken, ob ihr mangelnder Glaube ihm nicht eher schadete als nützte. Auf dem Marsch mit seiner Familie konnte ihm ebenso gut etwas zustoßen wie auf dem Feldzug mit dem Bataillon. Sollte dies geschehen, würde sie bereuen, dass sie ihn nicht hatte gehen lassen.

Drusilla bereitete das Frühstück zu. Sie war immer noch unsicher, was William betraf. Als sie auf den Wagen kletterte, um Mehl zu holen, vernahm sie erneut das Flüstern des Heiligen Geistes. Wollte sie denn nicht die größten Segnungen des Herrn erlangen?

„Ja“, sagte sie laut.

„Wie willst du sie denn erlangen, wenn du dafür nicht das größte Opfer bringst?“, fragte der Heilige Geist. „Lass deinen Sohn mit dem Bataillon ziehen.“

„Dazu ist es zu spät“, sagte sie. „Sie marschieren nämlich heute Morgen ab.“

William kehrte zurück, und die Familie kam zum Frühstück zusammen. Als James das Tischgebet sprach, erschrak Drusilla, denn der Ruf eines Mannes hallte durch das Lager. „Alle Mann heraus!“, rief er. „Es fehlen immer noch Soldaten für das Bataillon!“

Drusilla öffnete die Augen. Ihr Sohn starrte sie an. Sie musterte sein Gesicht und prägte es sich ganz genau ein. Sie wusste, dass er sich dem Bataillon anschließen würde. „Selbst wenn ich dich bis zum Morgen der Auferstehung nicht wiedersehe, werde ich wissen, dass du mein Kind bist“, dachte sie.

Nach dem Essen zog sich Drusilla zurück und betete. „Verschone sein Leben“, flehte sie. „Lass ihn zu mir und zum Schoß der Kirche zurückkehren.“

„Es soll geschehen“, flüsterte der Geist. „So wie es bei Abraham war, als er Isaak auf dem Altar darbot.“

Drusilla suchte nach William und entdeckte ihn schließlich auf dem Wagen. Er hatte das Gesicht in den Händen vergraben. „Möchtest du mit dem Bataillon losziehen?“, fragte sie. „Wenn ja, kann ich dir sagen, dass ich ein Zeugnis davon bekommen habe, dass es das Richtige für dich ist.“

„Präsident Young sagt, dass es der Erlösung dieses Volkes dient“, meinte William. „Warum soll ich nicht meinen Teil dafür tun können wie jeder andere auch?“

„Ich habe dich zurückgehalten“, erwiderte Drusilla. „Aber wenn du gehen willst, halte ich dich nicht länger zurück.“44