„Ein Feldzeichen für die Nationen“, Kapitel 4 von: Heilige: Die Geschichte der Kirche Jesu Christi in den Letzten Tagen, Band 2, Keine unheilige Hand, 1846–1893, 2019
Kapitel 4: „Ein Feldzeichen für die Nationen“
Kapitel 4
Ein Feldzeichen für die Nationen
Im April 1847 verließen Sam Brannan und drei weitere Männer auf der Suche nach Brigham Young und der Hauptgruppe der Heiligen die Bucht von San Francisco. Sam wusste nicht genau, wo sie zu finden waren, aber die meisten Auswanderer folgten der gleichen Route nach Westen. Wenn er und seine kleine Gruppe diese Route in östlicher Richtung einschlugen, müssten sie ja irgendwann auf die Heiligen treffen.
Nach einem kurzen Aufenthalt in New Hope, wo sie sich mit Vorräten eindeckten, zogen sie nordöstlich weiter zu den Ausläufern der Sierra Nevada. Kenner dieses Hochgebirges hatten Sam vor einer Überquerung so früh im Jahr gewarnt. Der Gebirgspass sei noch tief verschneit, meinten sie, die beschwerliche Überquerung könne also durchaus zwei Monate in Anspruch nehmen.
Sam war dennoch überzeugt, er könne das Gebirge schnell hinter sich lassen. Er und seine Männer trieben ihre Lasttiere vor sich her und marschierten mehrere Stunden aufwärts. Der Schnee war tief, aber auch fest, sodass man auf dem Weg recht gut Halt fand. Die Gebirgsflüsse waren jedoch angeschwollen, und den Männern blieb nichts anderes übrig, als sie zu durchschwimmen – was ziemlich gefährlich war – oder riskante Umwege in Kauf zu nehmen.
Auf der anderen Seite des Gebirges führte der Pfad an riesigen Granitfelswänden vorbei, bis er den Blick auf ein wunderschönes, mit Kiefern bewaldetes Tal und einen himmelblauen See freigab. Auf dem Weg ins Tal stießen sie auf ein paar verlassene Hütten an einem Lagerplatz, der von menschlichen Überresten übersät war. Monate zuvor war eine Wagenkolonne auf dem Weg nach Kalifornien im Schnee steckengeblieben. Die Auswanderer hatten die Hütten gebaut, um einen schweren Schneesturm zu überstehen. Sie hatten jedoch nur noch wenig Proviant und waren nicht auf einen Kälteeinbruch vorbereitet, und so verhungerten oder erfroren viele von ihnen allmählich, während manche dem Kannibalismus verfielen.1
Ihre Geschichte war eine grausame Warnung vor den Gefahren des Landwegs, doch Sam ließ sich davon nicht schrecken. Die Wildnis faszinierte ihn. „Ein Mann erkennt sich erst selbst, wenn er durch diese wilden Berge zieht“, meinte er.2
Brigham Young und der Vortrupp hatten bis Mitte Mai schon über fünfhundert Kilometer zurückgelegt. Jeden Morgen um fünf erklang das Signalhorn und weckte das Lager, um sieben Uhr war Abmarsch. Mitunter kam es zu Verzögerungen, aber meistens schaffte der Trupp eine Strecke von fünfundzwanzig bis dreißig Kilometern am Tag. Abends wurden die Wagen im Kreis aufgestellt. Dann versammelte man sich zum Abendgebet und löschte die Lagerfeuer.3
Der eintönige Ablauf wurde zuweilen unterbrochen, wenn Büffel gesichtet wurden. Die großen, zottigen Tiere zogen in riesigen Herden so fließend über die Hügel und Täler, als ob die Prärie selbst in Bewegung wäre. Die Männer hätten die Tiere nur zu gern gejagt, doch Brigham ließ dies nur zu, wenn es nötig war. Sie sollten keinesfalls Fleisch verschwenden.4
Der Trupp folgte einem Pfad, den Siedler auf dem Weg nach Westen einige Jahre zuvor gebahnt hatten. Mit jedem Kilometer wich die grasbewachsene Prärie mehr und mehr einer wüstenartigen Landschaft mit sanften Hügeln. Von einem Vorsprung aus betrachtet, erinnerte die raue Gegend an ein stürmisches Meer. Der Pfad führte am Ufer des Platte Rivers entlang und überquerte mehrere Bäche, die Wasser zum Trinken und Waschen boten. Der Erdboden selbst war jedoch sandig. Manchmal war entlang des Weges ein Baum oder ein Fleckchen grünes Gras zu entdecken, aber größtenteils war das Land ringsum kahl und trostlos, soweit das Auge reichte.5
Gelegentlich fragte jemand Brigham, wo denn das Ziel läge. „Ich zeige es euch, wenn wir es erreichen“, war seine Antwort. „Ich habe es gesehen. Ich habe es in einer Vision gesehen, und wenn ich es mit eigenen Augen vor mir sehe, werde ich es erkennen.“6
Jeden Tag schätzte William Clayton die zurückgelegte Strecke und verbesserte die teils ungenauen Landkarten, denen sie folgten. Sie waren noch nicht lange unterwegs, da bauten er und Orson Pratt gemeinsam mit Appleton Harmon, einem erfahrenen Handwerker, einen hölzernen Wegmesser, Roadometer genannt, der über eine Reihe von Zahnrädern, die an einem Wagenrad befestigt wurden, Entfernungen genau maß.7
Der Trupp kam gut voran, aber Brigham war oft enttäuscht, wenn er sah, wie sich manche seiner Weggefährten verhielten. Die meisten waren schon seit Jahren Mitglieder der Kirche, waren auf Mission gewesen und hatten die heiligen Handlungen des Tempels empfangen. Trotzdem ignorierten sie seinen Rat, was das Jagen anging, oder sie vergeudeten ihre Zeit mit Glücksspiel, Ringen oder Tanzen bis tief in die Nacht. Manchmal hörte Brigham schon beim Erwachen Männer miteinander streiten, weil in der Nacht zuvor irgendetwas vorgefallen war. Er befürchtete, dass diese Auseinandersetzungen bald zu Schlägereien oder Schlimmerem führen würden.
„Meint ihr etwa“, fragte er die Männer morgens am 29. Mai, „dass wir eine Heimat für die Heiligen suchen können, eine Zuflucht, einen Ort des Friedens, wo sie das Gottesreich aufbauen und die Nationen willkommen heißen können, wenn wir selbst eine niedrige, gemeine, schmutzige, leichtfertige, neidvolle, böse Gesinnung haben?“8 Jeder von ihnen, so erklärte er, müsse ein Mann des Glaubens mit ernsthaftem Sinn sein, dem Beten und dem Nachdenken zugeneigt.
„Hier bietet sich jedem Mann die Gelegenheit“, sagte er, „sich zu beweisen und herauszufinden, ob er bereit ist, zu beten und an seinen Gott zu denken, ohne dass er jeden Tag dazu aufgefordert wird.“ Er ermahnte sie, dem Herrn zu dienen, an ihre Tempelbündnisse zu denken und von ihren Sünden umzukehren.
Danach fanden sich die Männer in Priestertumskollegien zusammen und gelobten mit erhobener Hand, recht zu handeln und demütig vor Gott zu wandeln.9 Als die Männer am nächsten Tag vom Abendmahl nahmen, herrschte eine ganz andere Stimmung.
„Seit wir uns auf den Weg gemacht haben, habe ich die Brüder an einem Sonntag noch nie so still und ernsthaft erlebt“, schrieb Heber Kimball in sein Tagebuch.10
Während der Vortrupp auf dem Weg nach Westen war, war ungefähr die Hälfte der Heiligen in Winter Quarters damit beschäftigt, Planwagen auszurüsten und Vorräte für ihre Reise zu packen. Nach getaner Arbeit traf man sich abends oft, um gemeinsam zu singen und zu Fiedelmusik zu tanzen. Sonntags versammelte man sich, um Predigten zu hören und über den bevorstehenden Treck zu sprechen.11
Allerdings waren nicht alle darauf erpicht, in den Westen zu ziehen. James Strang und andere Abtrünnige lockten auch weiterhin Heilige fort, indem sie ihnen Nahrung, Obdach und Frieden versprachen. Strang und seine Anhänger hatten sich in Wisconsin angesiedelt, in einem nur spärlich bewohnten Gebiet ungefähr fünfhundert Kilometer nordöstlich von Nauvoo. Einige unzufriedene Heilige zogen dorthin. Mehrere Familien in Winter Quarters hatten schon ihre Planwagen gepackt und waren losgezogen, um sich ihnen anzuschließen.12
Parley Pratt war der präsidierende Apostel in Winter Quarters. Er hatte die Heiligen angefleht, die Abtrünnigen nicht zu beachten und den vom Herrn bevollmächtigten Aposteln zu folgen. „Der Herr hat uns aufgetragen, uns zu sammeln“, ermahnte er sie, „und nicht, uns ständig zu zerstreuen.“ Er ließ sie wissen, dass er und John Taylor vorhatten, gegen Ende des Frühjahrs einige Abteilungen in den Westen ziehen zu lassen.13
Parley musste die Abreise jedoch verschieben. Bevor der Vortrupp losgezogen war, waren die Zwölf Apostel einer Offenbarung gefolgt und hatten mehrere Abteilungen zusammengestellt. Diese Abteilungen bestanden größtenteils aus Familien, die durch Adoption an Brigham Young und Heber Kimball gesiegelt worden waren. Die Apostel hatten ihnen aufgetragen, genügend Vorräte für das kommende Jahr zu packen und arme Heilige und die Familien der Männer des Mormonenbataillons mitzubringen. Wenn jemand das Bündnis nicht hielt, für diese bedürftigen Heiligen zu sorgen, dann konnte ihm der Wagen weggenommen und jemandem gegeben werden, der das Bündnis hielt.14
Parley sah bei der Ausführung des Plans des Apostelkollegiums einige Probleme. Viele der Heiligen in diesen Abteilungen, darunter auch mancher Hauptmann, waren noch nicht abreisebereit. Manchen mangelte es an Geld für die Reise, und ohne ausreichende Vorräte wären sie eine große Last für die anderen in der Abteilung, die selbst kaum genug für ihre eigene Familie hatten. Gleichzeitig gab es jedoch andere Heilige, die noch keiner Abteilung zugeordnet waren, die aber bereit und begierig waren, sich endlich auf den Weg zu machen, weil sie Angst hatten, dass noch weitere Angehörige krank werden oder sterben könnten, wenn sie ein weiteres Jahr in Winter Quarters ausharrten.15
Parley und John beschlossen, die Abteilungen anders aufzuteilen und die etwa fünfzehnhundert Heiligen, die zum Aufbruch bereit waren, darin aufzunehmen. Einige Heilige protestierten gegen diese Änderungen und stellten Parleys Befugnis, den ursprünglichen Plan der Zwölf Apostel zu ändern, in Frage. Parley und John bemühten sich, sie zu überzeugen.
John erklärte, dass der dienstälteste Apostel in Brigham Youngs Abwesenheit die Vollmacht habe, die Mitglieder der Kirche zu führen. Da Brigham nicht in Winter Quarters war, hielt John es für Parleys Pflicht und auch sein Recht, Entscheidungen zu treffen, die die Siedlung betrafen.
Parley stimmte zu. „Ich finde es das Beste, den Umständen gemäß zu handeln“, sagte er.16
Als Wilford Woodruff mit dem Vortrupp westwärts zog, dachte er oft über ihren heiligen Auftrag nach. „Es sollte völlig klar sein“, so schrieb er in sein Tagebuch, „dass wir den Weg bereiten, auf dem das Haus Israel noch viele Jahre in den Westen ziehen wird.“17
Eines Nachts träumte er, der Vortrupp wäre an dem neuen Sammlungsort angekommen. Als er seinen Blick über das Land schweifen ließ, erschien ein herrlicher Tempel vor seinem Auge. Er schien aus weißem und blauem Stein gebaut zu sein. Wilford wendete sich einigen Männern zu, die im Traum neben ihm standen, und fragte sie, ob sie den Tempel sehen könnten. Sie verneinten, was aber Wilfords Freude über den Anblick des Tempels nicht minderte.18
Als es Juni wurde, war es heiß geworden. Das kurze Gras, von dem sich die Rinder ernährten, wurde in der Trockenheit braun, und auch Holz war schwer zu finden. Oft stand für das Lagerfeuer nur getrockneter Büffeldung zur Verfügung.19 Der Trupp hielt jedoch weiterhin eifrig die Gebote, wie Brigham angemahnt hatte, und Wilford erkannte Gottes Segen darin, dass ihre Vorräte, ihr Vieh und die Wagen beschützt wurden.
„In unserer Mitte herrschen Frieden und Einigkeit“, schrieb er in sein Tagebuch. „Aus dieser Mission wird viel Gutes erwachsen, wenn wir treu die Gebote Gottes halten.“20
Am 27. Juni begegnete der Vortrupp auf seinem Weg dem bekannten Trapper und Entdecker Moses Harris. Harris erklärte den Heiligen, dass weder das Tal am Bear River noch das Salzseetal zum Siedeln geeignet seien. Er riet ihnen, sich an einem Ort namens Cache Valley niederzulassen, nordöstlich des Großen Salzsees.
Am nächsten Tag begegnete dem Trupp ein weiterer Trapper, Jim Bridger. Im Gegensatz zu Harris pries Bridger sowohl das Tal am Bear River als auch das Salzseetal in den höchsten Tönen, gab allerdings zu bedenken, dass es wegen der kalten Nächte im Tal am Bear River vermutlich unmöglich wäre, Mais anzubauen. Er meinte, der Boden im Salzseetal sei gut. Es gebe dort mehrere Bäche mit Süßwasser, und das ganze Jahr hindurch fiele Regen. Er pries auch das Utah Valley südlich des Großen Salzsees, warnte aber davor, die Indianer vom Stamm der Ute zu stören, die in diesem Gebiet lebten.21
Bridgers Beschreibung des Salzseetals klang ermutigend. Brigham wollte sich nicht festlegen, wo die Reise schließlich enden sollte, doch er und andere aus dem Vortrupp waren sehr gespannt darauf, das Salzseetal zu erkunden. Selbst wenn es nicht der Ort sein sollte, wo sie sich nach dem Willen des Herrn niederlassen sollten, würden sie dort wenigstens anhalten, das Land bebauen und eine provisorische Siedlung errichten können, bis sie ihre endgültige Heimat im Großen Becken fanden.22
Zwei Tage später waren die Männer des Vortrupps gerade dabei, Flöße zu bauen, um einen reißenden Fluss zu überqueren, als kurz vor Sonnenuntergang zur Überraschung aller Sam Brannan mit seinen Weggefährten ins Lager marschierte. Gebannt hörten alle zu, als Sam sie mit Geschichten von der Brooklyn, von der Gründung von New Hope und seinem eigenen gefahrvollen Weg über das Gebirge und die Prärie auf der Suche nach ihnen unterhielt. Er berichtete, dass die Heiligen in Kalifornien zur Vorbereitung auf ihre Ankunft schon hektarweise Weizen und Kartoffeln angebaut hatten.
Sams Begeisterung für das Klima und den Boden in Kalifornien war ansteckend. Er drängte die Gruppe, das Gebiet um die Bucht von San Francisco für sich zu beanspruchen, bevor andere Siedler dort ankämen. Das Land sei für eine Besiedelung ideal, und wichtige Männer in Kalifornien seien der Sache der Heiligen gegenüber wohlgesinnt und bereit, sie willkommen zu heißen.
Brigham hörte Sam zu, stand dem Vorschlag im Stillen aber skeptisch gegenüber. Es stand außer Frage, dass die Küste Kaliforniens sehr reizvoll war, aber Brigham wusste, dass der Herr von den Heiligen erwartete, dass sie ihren neuen Sammlungsort in der Nähe der Rocky Mountains aufrichteten. „Unser Ziel ist das Große Becken“, erklärte er.23
Gut eine Woche später verließ die Gruppe den viel begangenen Pfad, dem sie bisher gefolgt war, und schlug einen weniger genutzten Pfad ein, der nach Süden ins Salzseetal führte.24
In jenem Sommer zog Louisa Pratt mit ihrer Familie in eine Hütte, die sie für fünf Dollar gekauft hatte. Es war ihr drittes Quartier in Winter Quarters. Nachdem der Kamin in ihrer Grassodenhütte versagt hatte, musste die Familie in eine feuchte Erdbehausung umziehen – nicht viel mehr als ein anderthalb Meter tiefes Loch im Boden mit einem undichten Dach.
Louisa bezahlte einige Männer dafür, im neuen Heim einen Bretterfußboden zu legen. Sie ließ vor dem Haus eine Laube bauen, in der fünfundzwanzig Leute Platz hatten, und eröffnete mit ihrer Tochter Ellen eine Schule für Kinder. Ihre Tochter Frances legte einen Garten an und hackte das Holz, das zum Heizen und Kochen benötigt wurde.
Luisa war immer noch bei schwacher Gesundheit. Nachdem sie das Fieber und den Schüttelfrost überstanden hatte, war sie auf Schnee und Eis schwer gestürzt und hatte sich das Knie verletzt. Als sie in der Erdbehausung lebte, war sie an Skorbut erkrankt und hatte ihre Schneidezähne verloren. Trotzdem hatten sie und ihre Töchter weniger gelitten als viele andere unter den Heiligen. Jeder hatte Nachbarn und Freunde zu beklagen, die an Krankheiten, die im Lager grassierten, gestorben waren.25
Nachdem Louisa das Haus gekauft und die Reparaturen bezahlt hatte, blieb ihr nur noch wenig Geld. Als sie fast keine Lebensmittel mehr hatte, suchte sie ihre Nachbarn auf und bot ihnen ihr Federbett zum Kauf an. Die Nachbarn hatten aber selbst kein Geld mehr. Beiläufig erzählte Louisa im Gespräch, dass sie nichts mehr zu essen im Haus habe.
„Du scheinst dir aber keine Sorgen zu machen“, bemerkte ein Nachbar. „Was hast du vor?“
„Oh nein, ich mache mir keine Sorgen“, erwiderte Louisa. „Ich weiß, dass die Rettung auf unerwartete Weise kommen wird.“
Auf ihrem Heimweg besuchte sie einen weiteren Nachbarn. In der Unterhaltung erwähnte der Nachbar Louisas altmodischen Eisenhaken, an dem der Topf über der Feuerstelle hing. „Wenn du ihn mir verkaufst, gebe ich dir dafür zwei Scheffel Maismehl“, sagte der Nachbar. Louisa willigte ein. Wieder einmal hatte der Herr sie gesegnet.
Im Frühjahr hatte sich Louisa etwas erholt und wagte sich aus dem Haus, um mit den anderen Heiligen am Gottesdienst teilzunehmen. Die Frauen im Lager hatten damit begonnen, sich zu versammeln und einander mit ihren geistigen Gaben zu stärken. Bei einer dieser Zusammenkünfte redeten die Frauen in Zungen, während Elizabeth Ann Whitney, die schon viele Jahre eine geistige Führerin unter den Heiligen war, die Worte auslegte. Elizabeth Ann sagte, dass Louisa gesunden, die Rocky Mountains überqueren und ein freudiges Wiedersehen mit ihrem Ehemann erleben werde.
Louisa war verwundert. Sie war davon ausgegangen, dass sie Addison in Winter Quarters wiedersehen und sich gemeinsam mit ihm auf den Weg in den Westen machen würde. Sie sah sich weder gesundheitlich noch finanziell in der Lage, die Reise ohne ihn zu bewältigen.26
Als sich der Vortrupp dem Herzen der Rocky Mountains näherte, wurde der Weg immer steiler, und die Männer und Frauen ermüdeten schneller. Über der weiten Prärie ragten deutlich sichtbar schneebedeckte Berggipfel empor. Diese Berge waren erheblich höher als alle Berge, die sie im Osten der Vereinigten Staaten je gesehen hatten.
Eines Nachts Anfang Juli erwachte Brighams Frau Clara mit Fieber, Kopfweh und starken Hüft- und Rückenschmerzen. Auch andere litten bald unter den gleichen Symptomen, und es fiel ihnen schwer, mit dem Rest des Trupps mitzuhalten. Jeder Schritt auf dem felsigen Untergrund war für ihre matten Glieder eine Qual.27
Clara erholte sich im Laufe der Tage. Die eigenartige Krankheit schien einen schnell zu befallen, aber auch recht schnell wieder nachzulassen. Am 12. Juli erkrankte Brigham und bekam hohes Fieber. In der Nacht halluzinierte er. Am nächsten Tag ging es ihm zwar etwas besser, aber er und die Apostel beschlossen, mit dem größten Teil des Vortrupps eine Pause einzulegen. Nur Orson Pratt und eine Gruppe von zweiundvierzig Mann sollten weitermarschieren.28
Ungefähr eine Woche später erhielten Willard Richards, George A. Smith, Erastus Snow und einige andere von Brigham den Auftrag, weiterzugehen und Orsons Gruppe einzuholen. „Haltet an dem ersten geeigneten Ort, sobald ihr das Salzseetal erreicht habt“, wies er an, „und setzt Kartoffeln, sät Buchweizen und Rüben aus, ganz gleich, wo unser endgültiges Ziel liegt.“29 Eingedenk dessen, was Jim Bridger über das Gebiet berichtet hatte, warnte er die Gruppe davor, sich in den Süden ins Utah Valley zu begeben, ehe sie den dort ansässigen Stamm der Ute nicht besser kennengelernt hätten.30
Clara, ihre beiden jungen Halbbrüder und ihre Mutter blieben bei Brigham und den anderen erkrankten Pionieren. Sobald sich die Gruppe kräftig genug zur Weiterreise fühlte, folgte sie einem unbefestigten Pfad durch unebenes Gelände voller Gestrüpp. An manchen Stellen waren die Felswände der Schlucht so hoch, dass schwerer Staub in der Luft festhing und man kaum erkennen konnte, was vor einem lag.
Am 23. Juli bestiegen Clara und die Gruppe der Kranken einen langen, steilen Pfad zur Kuppe eines Hügels. Von dort aus mussten sie durch ein dichtbewachsenes Wäldchen wieder hinunter. Der Weg wand sich durch die Baumstümpfe, die diejenigen, die den Weg geschlagen hatten, hinterlassen hatten. Auf dem Weg nach unten, nach ungefähr anderthalb Kilometern, stürzte der Wagen mit Claras Brüdern in einer Schlucht um und schlug gegen einen Felsen. Männer schnitten schnell ein Loch in die Plane des Wagens und zogen die Jungen sicher heraus.
Als die Gruppe sich am Fuße des Hügels ausruhte, kamen zwei Reiter von Orsons Gruppe im Lager an und berichteten, dass sie schon in der Nähe des Salzseetals waren. Völlig erschöpft zogen Clara und ihre Mutter mit dem Rest des Trupps bis in die frühen Abendstunden weiter. Über ihnen schien sich ein Unwetter zusammenzubrauen.31
Am nächsten Morgen, dem 24. Juli 1847, fuhr Wilford mit seiner Kutsche einige Kilometer weit durch eine tiefe Schlucht. Brigham lag hinter ihm in der Kutsche, zu fiebrig und schwach zum Gehen. Bald kamen sie an einem Bach entlang durch eine weitere Schlucht und erreichten schließlich ein Plateau, von wo aus man das Salzseetal überblicken konnte.
Erstaunt ließ Wilford den Blick über das weite Land schweifen. Fruchtbare Felder aus dichtem grünem Präriegras, bewässert von klaren Gebirgsbächen, erstreckten sich weit und breit vor ihnen. Die Bäche mündeten in einen langen schmalen Fluss, der in Längsrichtung das Tal durchzog. Ein Saum von hohen Bergen, deren zerklüftete Gipfel hoch in die Wolken ragten, umgab das Tal wie eine Festung. Im Westen glitzerte der Große Salzsee wie ein Spiegel im Sonnenlicht.
Nach einer Reise von fast zweitausend Kilometern durch Prärie, Wüste und Schluchten war der Anblick atemberaubend. Wilford konnte sich vorstellen, dass die Heiligen sich dort niederlassen und einen weiteren Zionspfahl gründen würden. Sie konnten Häuser bauen, Obstgärten und Felder anlegen und Gottes Volk aus der ganzen Welt sammeln. Und bald würde das Haus des Herrn in den Bergen errichtet und über die Hügel erhoben werden, wie Jesaja es prophezeit hatte.32
Brigham konnte das Tal von seinem Platz aus nicht deutlich sehen, und so wendete Wilford die Kutsche, um seinem Freund eine bessere Aussicht zu ermöglichen. Aufmerksam sah sich Brigham einige Minuten lang das Tal an.33
„Es ist genug. Dies ist der richtige Ort“, erklärte er Wilford. „Fahr weiter.“34
Brigham hatte den Ort auf den ersten Blick erkannt. Am nördlichen Ende des Tals war der Berggipfel aus seiner Vision zu sehen. Brigham hatte darum gebetet, zu diesem Ort geführt zu werden, und der Herr hatte sein Gebet erhört. Er sah keinerlei Notwendigkeit, noch weiter zu suchen.35
Unten im Tal herrschte schon geschäftiges Treiben. Noch bevor Brigham, Wilford und Heber Kimball wieder vom Berg heruntergekommen waren, hatten Orson Pratt, Erastus Snow und einige andere ein Ausgangslager errichtet und damit begonnen, Felder zu pflügen, Saat auszubringen und das Land zu bewässern. Wilford beteiligte sich sofort nach seiner Ankunft und setzte einen halben Scheffel Kartoffeln, bevor er zu Abend aß und sich zur Nachtruhe begab.
Der folgende Tag war der Sabbat, und die Heiligen dankten dem Herrn. Die Gruppe versammelte sich, hörte Predigten zu und nahm vom Abendmahl. Obwohl Brigham noch schwach war, ergriff er kurz das Wort und forderte die Heiligen auf, den Sabbat zu heiligen, das Land zu pflegen und das Eigentum eines jeden zu respektieren.
Am Montagmorgen, es war der 26. Juli, wandte sich Brigham, der noch immer zur Genesung in Wilfords Kutsche lag, an Wilford und sagte: „Bruder Woodruff, ich möchte ein paar Schritte gehen.“
„Recht so“, erwiderte Wilford.36
An jenem Morgen machten sie sich mit acht weiteren Männern auf den Weg zu den Bergen im Norden. Brigham fuhr einen Teil des Weges in Wilfords Kutsche und zog sich seinen grünen Umhang fest um die Schultern. Bevor sie die Ausläufer der Berge erreichten, wurde das Land flach, und vor ihnen lag eine Ebene. Brigham stieg aus der Kutsche und ging bedächtig über den hellen, fruchtbaren Erdboden.
Als die Männer Brigham folgten und gerade das Land begutachteten, blieb dieser plötzlich stehen und stieß seinen Gehstock in den Boden. „Hier wird der Tempel unseres Gottes stehen!“, rief er aus.37 Er hatte schon eine Vision vor Augen und sah, wie sich sechs Türme vor ihm über dem Boden des Tales in die Höhe erhoben.38
Brighams Worte durchfuhren Wilford wie ein Blitz. Die Männer wollten weitergehen, aber Wilford bat sie zu warten. Er brach einen Zweig von einem Salbeibusch ab und steckte ihn tief in den Boden, um die Stelle zu markieren.
Dann gingen die Männer weiter und malten sich die Stadt aus, die von den Heiligen in diesem Tal erbaut werden würde.39
Später an diesem Tag zeigte Brigham auf den Berggipfel im Norden des Tales. „Ich möchte auf diesen Gipfel steigen“, meinte er, „denn ich bin mir völlig sicher, dass dies die Stelle ist, die mir in der Vision gezeigt wurde.“ Der runde, felsige Berggipfel war leicht zu erklimmen und von überall im Tal deutlich zu sehen. Es war die ideale Stelle, ein Feldzeichen für die Nationen aufzurichten und damit der Welt zu zeigen, dass das Reich Gottes wieder auf Erden war.
Brigham machte sich sofort auf den Weg zum Gipfel, begleitet von Wilford, Heber Kimball, Willard Richards und anderen. Wilford kam als Erster oben an. Vom Gipfel aus sah er das weite Tal vor sich.40 Hier in diesem Tal mit seinen hohen Bergen und der weitläufigen Ebene konnten die Heiligen vor ihren Feinden sicher sein und nach besten Kräften die Gesetze Gottes leben, Israel sammeln, einen weiteren Tempel bauen und Zion aufrichten. In seinen Zusammenkünften mit den Zwölf Aposteln und dem Rat der Fünfzig hatte Joseph Smith oft den Wunsch geäußert, einen solchen Ort für die Heiligen zu finden.41
Wilfords Freunde schlossen sich ihm bald an. Sie nannten den Ort Ensign Peak, also Gipfel des Feldzeichens, und erinnerten damit an Jesajas Prophezeiung, dass sich die Versprengten Israels und die Zerstreuten Judas von den vier Enden der Erde unter einem gemeinsamen Feldzeichen sammeln würden.42
Eines Tages wollten sie eine riesige Flagge auf dem Gipfel wehen lassen. Doch zunächst wollten sie einfach nur ihr Möglichstes tun, um diesen Augenblick zu würdigen. Man weiß nichts Genaues, aber ein Mann erinnerte sich daran, dass Heber Kimball ein gelbes Halstuch nahm, es an das Ende von Willard Richards Stock band und es damit in der warmen Bergluft hin und her schwenkte.43